Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 4 Minuten

Wieso himmlisches Zeugs?

«The little things … there’s nothing bigger, is there?»

Vanilla Sky, von David Aames

Dinge sind Teil unserer Lebenswelt, aber auch ein Kosmos für sich. Sie haben ein Eigenleben («Agency of Things», «Leben der Dinge»), einen Eigensinn, sie können erscheinen oder sich entziehen, sich mitteilen oder stumm bleiben, «zu handen» sein oder verschwinden. Und die meisten von ihnen teilen mit uns ihre Vergänglichkeit.

In unserer neuen Blogserie «Himmlisches Zeugs» erinnern wir uns daran, wie leicht uns das Besondere im scheinbar Gewöhnlichen ergreifen kann. In wöchentlichen Beiträgen gehen wir dem Bossa-Nova-Sound nach, der in Flip-Flops eingebettet ist, schnuppern an röstfrischen Cafébohnen und blicken hinter Spiegel. Wir brausen im Alfa Romeo Spider durch die Gegend und fragen uns, wieso Blech auf Gummi selig machen kann. Wir spannen mit Regenschirmen Erinnerungshorizonte auf, meditieren über Handseife und lassen Kerzen für uns beten: eine Erfahrung der Verbundenheit mit und Gegenwart von Menschen, völlig mühelos und mitten im Arbeitsalltag des Büros möglich.

Als Kinder des Medienzeitalters kennen wir keine banalen Dinge. Wir unterscheiden nicht zwischen authentischen Dingen und Lebens-Attrappen, wie es der Dichter Rainer Maria Rilke getan hat. «Nun drängen, von Amerika her, leere gleichgültige Dinge herüber, Schein-Dinge, Lebens-Attrappen … Ein Haus, im amerikanischen Verstande, ein amerikanischer Apfel oder eine dortige Rebe, hat nichts gemeinsam mit dem Haus, der Frucht, der Traube, in die Hoffnung und Nachdenklichkeit unserer Vorväter eingegangen war …», schrieb Rilke und meinte: «Die belebten, die erlebten, die uns mitwissenden Dinge gehen zur Neige.»

Wir dagegen denken, dass wir uns in jedem Augenblick mit dem Kosmos neu verbinden können, auch dem Dingkosmos.

Kinder des Plastozäns

Als Kinder des Plastozäns sind wir uns dessen bewusst, dass Kunststoffe nicht die Wunderdinge sind, als die ihre Erfinder sie angesehen haben. Von den schätzungsweise 2,6 Milliarden Tonnen Plastik, die weltweit in Gebrauch sind, gilt nur 1,6 Prozent als recycelbar. Jedes Jahr kommen mehr als 370 Tonnen Plastik neu hinzu, rund 2 Millionen Tonnen landen in Ozeanen und bilden lebensfeindliche Sedimentschichten. Wir hoffen auf das Werk plastikverdauender Bakterien, die die Evolution tatsächlich schon hervorgebracht hat, aber tragen unseren Teil bei durch Re- und Upcycling.

Den Dingen bleibt ihre Entstehung eingeschrieben, die im Kapitalozän oft eine der Ausbeutung und einseitigen Vorteilnahme ist. Wir möchten diese Dimension mitdenken, wenn wir von Dingen reden.

Wir frönen keinem «cult of poessesion» und keiner «ideology of conservation», sondern glauben, dass die Bestimmung mancher Dinge darin liegt, zu vergehen. Wir sehen Reduktion und Vereinfachung als spirituelle Praxis an, erfreuen uns aber auch an neuen Dingen, die unser Leben einfacher machen und schöner. Wir lieben Souvenirs genauso wie praktische Dinge, zum Beispiel den hochwertigen Suppenschöpfer, über den sich noch die Enkelinder und Urenkel des Shanghaier Geschäftsmanns freuen werden, dem wir den Schöpfer schenkten.

Kleine Transzendenzen

Das für die phänomenologische Weltentschlüsselung relevante Seiende, das dem in seiner Alltäglichkeit tätigen Dasein begegnet, nennt Martin Heidegger «Zeug». Die Seinsart des Zeugs ist seine «Zuhandenheit». Berühmt sind die Ausführungen des Philosophen über das schlichte Schuhzeug auf Van-Gogh-Gemälden.

Heute wissen wir, dass die abgebildeten Schuhe nicht einer einfachen Bauersfrau gehörten, wie Heidegger imaginierte, sondern grobe Kutscherstiefel waren, die der Maler auf dem Pariser Flohmarkt erstanden hatte. Gleichwohl können wir das Schuhzeug weiterhin als Offenbarung des «Seins des Daseins» und «Sich-Ins-Werk-Setzen der Wahrheit» betrachten, halt einer etwas anderen Wahrheit.

Eine Inspirationsquelle für «Himmlisches Zeugs» ist auch das «Kopfkissenbuch» der Dame Sei Shōnagon. Es entstand um das Jahr 1000 nach Christus und enthält hinreissende Beschreibungen einer japanischen Hofdame von Dingen, die sie besonders oder beglückend fand. Der Regisseur Peter Greenaway bezieht sich in seinem Film «Die Bettlektüre» auf dieses frühe Beispiel japanischer Literatur.

Schliesslich eignen wir uns die Unterscheidung kleiner, mittlerer und grosser Transzendenzen an, die der Religionssoziologe Thomas Luckmann («Die unsichtbare Religion») eingeführt hat. «Himmlisches Zeugs» handelt von «kleinen Transzendenzen». Einfachste Gegenstände können so hinreissend sein, dass unsere Selbstfixierung aufgelockert wird. Da ist sie, die Transzendenz der Dinge!

 

Illustration: Rodja Galli

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2 Kommentare zu „Wieso himmlisches Zeugs?“

  1. Danke für deine poetischen Worte.
    „Verse sind nicht, wie die Leute meinen, Gefühle (die hat man früh genug), es sind Erfahrungen.“
    – Rainer Maria Rilke

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