Dein digitales Lagerfeuer
Dein digitales Lagerfeuer
 Lesedauer: 5 Minuten

Mein Körper geht niemanden etwas an

Es ist eine relativ neue Einsicht, die sich vergangenen Sommer angeschlichen hatte. Besser gesagt, neue Fragen, die auftauchten: Wie ziehe ich mich eigentlich an? Und für wen will ich attraktiv sein?

Ich weiss noch, wie ich vor Jahren einmal in einem unglaublich heissen Sommer sehr leicht bekleidet in meinen Schrebergarten ging. Auf dem Weg dorthin rief mir eine ältere Frau verärgert zu: «Da wirdmer ja ganz schlächt, wäni ihres Fett mus aluege.»

Ich antwortete ehrlich verwirrt: «Welches Fett?»

Erst später erinnerte ich mich an die gesellschaftlichen Vorgaben, dass Bäuche flach zu sein haben oder Zellulitis auf gar keinen Fall gesehen werden darf.

Ein befreiender Moment

Früher entsprach dies auch meinen Überzeugungen. Deshalb war es ein sehr befreiender Moment, zu merken, dass es mich kein Bisschen mehr interessiert – selbst wenn da jemand ruft, mein Körper sei zu üppig.

Lange war ich frischfröhlich im Sommer in sehr kurzen Hosen unterwegs und überzeugt: Mir ist wohl so.

Doch wir wissen, Dinge verändern sich. Letzten Sommer fiel mir auf, wie viele Blicke ich auf mich ziehe, die ich gar nicht auf mir will. Ich merkte, wie viele energetische «Nein»s und «Geh weg»s ich an die Blicke-werfenden austeilte.

Und ich sah auch, dass da noch mehr Freiheit quasi um dä Egge wartet. Ich brauche den so genannten «male gaze», den «männlichen Blick», nicht auf mir. Stärker noch, ich möchte ihn nicht.

Nicht mein Problem?

Nun könnte ich sagen: Es ist nicht mein Problem, was die da denken oder schauen. Stimmt. Doch woher stammt denn diese Idee oder Vermutung, dass ich umso freier bin, umso mehr Haut ich zeigen kann? Da bin ich mir inzwischen nicht mehr so sicher.

Ich vermute, es ist das verinnerlichte Patriarchat, das mir das so verkaufen will. Das mich glauben lässt, nackte Beine sind besonders schön oder Ausschnitte toll.

Diese Auseinandersetzung hat dazu geführt, dass ich mich unauffälliger anziehe, als auch schon.

Ich hatte in den letzten Monaten zum Beispiel viele Veranstaltungen, wo ich vor Ort unterrichtete. Und es war so klar: Mein physischer Körper und seine Form gehen niemanden etwas an in diesem Kontext. Es ist mir am wohlsten, wenn niemand darüber nachdenkt – weder ich, noch sonst jemand.

Weite Gewänder als Befreiung

Und so trage ich eine ziemlich sackige Kluft und fühle mich extrem wohl da drin. Es befreit mich nämlich auch von meinen eigenen, nicht hilfreichen Körper-Gedanken, die in anderer Kleidung eher hervorkommen können. In hautengen Kostümen ist mir ein Winterbäuchlein viel eher bewusst, als in weiten Gewändern.

Nicht dass das ein Problem wäre, ich mag meinen Winterkörper genauso wie meinen Sommerkörper – und alles dazwischen. Aber noch nicht einmal einen Gedanken daran verschwenden zu müssen, lässt viel mehr Platz für das Eigentliche. Meine Arbeit an diesen Veranstaltungen.

Das gilt übrigens genauso fürs Publikum: Wenn wir uns nicht Gedanken machen über das Aussehen der Person, die vorne steht, gibt es viel mehr Platz, dem Inhalt zu folgen. Talar macht daher ebe scho Sinn.

Unsichtbar sein können

Nein, damit meine ich nicht, dass ich für Blicke anderer verantwortlich bin – oder gar deren übergriffige Handlungen. Natürli nöd.

Es wäre grossartig, wenn wir uns alle völlig frei bewegen könnten – frei von Konditionierung und Prägung und so weiter. Ich bete dafür, dass das gelebte Realität wird.

Bis wir vielleicht dort ankommen dürfen, merke ich: Es ist sehr, sehr angenehm, gewisse Blicke nicht auf mir zu haben, mich gar nicht erst damit auseinandersetzen zu müssen. Öppedie unsichtbar sein zu können.

Mein Wert hängt nicht davon ab, ob ich diese Art von Aufmerksamkeit erhalte oder nicht. Und deshalb will ich sie auch nicht.

Ja, ich finde, das ist gerade auch im Zusammenhang mit dem Älterwerden eine spannende Auseinandersetzung: Was bedeutet eigentlich Attraktivität? Wie finde ich mich attraktiv und weshalb?

Authentizität ist super hot

Das Leben auf dem Land hat mir da geholfen, unendlich entspannt unterwegs zu sein. In einer Umgebung unterwegs zu sein, in der nicht 95 % der Menschen überdurchschnittlich attraktiv sind, perfekt angezogen und alles schön getrimmt, das finde ich grossartig.

Erst jetzt fällt mir auf, wie «schön» die Menschen in Zürich sind. Also jene Art von Magazin-Socialmedia-schön. Sehr kuratiert, sehr kontrolliert.

Auf dem Land ist es eher ein «random schön», eine Schönheit, die dich überrascht im Lächeln unter den verstrubelten, ungewaschenen Haaren oder eine Geste im Gespräch. Man hat hier anderes zu tun. Oder auch andere Schönheitsideale.

Mir gefällt das sehr, diese nicht inszenierte Art von Schönheit, diese authentische Art von Schönheit.

Attraktivität hat für mich zu tausend Prozent mit Authentizität zu tun. Wer sich zeigt, wie sie/er ist, ist sowas von hot.

Meine eigene Attraktivität hat somit genauso wenig mit Kleidung oder der Absenz von Falten zu tun. Meine Körperform geht mich insofern auch nichts an, als dass sie nicht meinen konditionierten Ideen oder Geschichten von Attraktivität entsprechen muss.

Ja, einzig Gott hat Business mit diesem Körper – schliesslich lebt Gott diesen Körper und zwar auf eine unglaublich intelligente Art, die keine ine-konditionierten Ideen braucht. Wie befreiend!

Diese Einsicht führt mich nicht weg vom Körper, im Gegenteil. Vielmehr erlebe ich dieses paradoxe weniger Involviertsein als noch tieferes Bewohnen dieses Körpers.

Je weniger ICH meine körperliche Erscheinung kontrollieren will, desto mehr Platz gibt es fürs pure SEIN. Und SEIN – das ist zumindest mir glasklar – ist eine sehr körperliche Angelegenheit.

Foto: Leela Sutter in ihrem Meditationsworkshop am RefLab-Festival, zusammen mit einer Teilnehmerin. Bild: Raphael Ammann

 

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