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Himmlisches Zeugs: Wolle

In der Pariser Métro sieht man häkelnde Mädchen, im St. Oberholz in Berlin beugen sich Hipster bei Milchkaffee über ihre Handarbeit und während Fakultätssitzungen sieht man Theologieprofessorinnen das Strickzeug hervorholen. Die Devise lautet: «Handmade rocks!»

Was noch vor gar nicht so langer Zeit als Hausfrauenabrichtung und Mädchenfolter («fleißiges Mädchen, braves Mädchen») galt, hat sich längst zum Szenehobby und zur Freizeitbeschäftigung für Third- und Fourth-Wave-Feministinnen entwickelt.

Eine Schlüsselrolle beim Boom des Craftings spielt das Internet. Es ist zu einer faszinierenden Muster-, Ideen-, und Wollbörse angewachsen. Die Kulturtechniken des Strickens und Häkelns werden heute weniger generationsübergreifend in den Familien weitergegeben als vielmehr transnational im Global Village. Dadurch vollzieht sich eine kulturelle Revolution.

Via Internet gibt es einen flauschigen Kulturaustausch über Kontinente hinweg. YouTube hat Großmutter ersetzt. Es sei denn, Großmutter erklärt ihre Handarbeit im Internet.

Die Community spart nicht mit Lob

Das Wissen wird vielfach kostenlos weitergegeben und es wird nicht mit Likes und Smileys gespart. Die Community wird von zahllosen Strick- und Häkelfreudigen nicht nur informiert, wenn ein Werkstück fertig ist, sondern bekommt auch Zwischenmeldungen: «Fange gerade den zweiten Ärmel an» oder «Gestern schon mal safrangelbe Wolle besorgt».

Wer Handarbeiten für einen banalen Zeitvertreib hält, hat es wahrscheinlich nie ausprobiert. Nicht nur Strick- und Häkelkodes sind hoch kompliziert, sondern auch Umschreibungen. Oft wird versucht, gemeinsam Häkel- und Strickschriften aus Handarbeitszeitschriften zu entschlüsseln: 1 Noppe: aus 1 M 5 M herausstr., und zwar 1 M re, 1 M re verschränkt im Wechsel etc.

Drängende Fragen im Maschenuniversum sind, ob man kirschrote, knallgelbe oder kräutergrüne Wolle wählen soll, ob das romantische Ajourmuster dem Kordelzopf vorzuziehen ist und wie man einen doppelt verschränkten Zopf hinbekommt. Wenn es hakt, trennt man, wie Penelope in der «Odyssee» ihre Weberei, das Maschenwerk einfach wieder auf und beginnt emsig von vorn.

Sowohl einfach als auch komplex

Ich habe das Handarbeiten mit der Muttermilch aufgesogen. Meine Mutter unterrichtete in Grundschulen Handarbeiten. Als Vorschulkind kam ich regelmässig ins Klassenzimmer mit und war so fasziniert, dass ich einfach nur dasitzen und zuschauen wollte.

Während eines Aufenthalts in einem Sanatorium, wohin mich vor ein paar Jahren ein Beinahe-Burnout geführt hatte, habe ich spontan eine Strickgruppe initiiert. Wir sassen im Kaminzimmer, während sich das Dämmerlicht auf den Spreewald legte. Es strickte sogar ein Mann mit. Er war in der DDR aufgewachsen, wo textiles Werken auch für Jungs selbstverständlich war.

Eine gute Freundin bemerkte, dass sie immer in existenziellen Lebensphasen zu stricken beginnt. Sie tat es während ihrer Schwangerschaften und erneut, nachdem ihre Mutter gestorben war. Handarbeiten hat eine beruhigende Wirkung, es lenkt ab und ist gleichzeitig befriedigend, weil man ein Projekt plant und verfolgt.

Die Kulturwissenschaftlerin Maren Bredereck hat das «Stricken im 21. Jahrhundert» unter dem Aspekt der Gruppenbildung ins Visier genommen und Motivationen untersucht. Handarbeiten werde als extrem entspannend, sinnlich, sowohl einfach als auch komplex und als ausgesprochen kommunikativ erlebt.

Gerade weil nicht alle Aufmerksamkeit auf dem Gedankenaustausch liegt, sondern man nebenbei spricht, entspannen und vertiefen sich Gespräche. Man plaudert mit losen Bekannten im Nu wie mit Familienmitgliedern.

Passive Freisetzung abschweifender Gedanken

Vor einigen Jahren erbrachte eine Studie der Harvard Medical School das Ergebnis, dass Handarbeiten genauso stressreduzierend wirke wie Yoga. Man gerät in einen «Flow» und vergisst die Zeit. Beim Häkeln und Stricken handelt es sich um Kulturtechniken des Zeitstillstellens. Wer mit Leidenschaft strickt oder häkelt, schafft ein Refugium des Zeithabens, was heute der größte Luxus ist. Handarbeiten ermöglicht gleichzeitig die passive Freisetzung abschweifender Gedanken.

Stricken und Häkeln bieten Oasen der Erholung für die Burnout-Gesellschaft. Der monotone Rhythmus des Häkelns und das friedliche Klackern der Stricknadeln sind Balsam für die Seele. Das Garn zu fühlen erdet.

Und am Ende einer tausende Maschen währenden Entspannung hält man ein himmlisches Werkstück in Händen, das man anziehen oder verschenken kann.

(Photo by Giulia Bertelli on Unsplash)

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1 Kommentar zu „Himmlisches Zeugs: Wolle“

  1. Regula Stern-Griesser

    Als ich den Artikel über die strickenden Theologinnen und Métro-Fahrgäste las, konnte ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Seit einiger Zeit bin ich am Recherchieren und Schreiben der Biographie der Pfarrer-Witwe Emma Schmuziger (1866 – 1954). Zusammen mit der Mutter von Friedrich Dürrenmatt, auch sie eine Pfarrersfrau, war sie Mitbegründerin und langjährige Präsidentin der so genannten „Schweiz. Pfarrfrauen-Tagungen“. Es wird von Emma Schmuziger, die auch viele Jahre Präsidentin der „Evangelischen Frauenhilfe“ (Aargau und Schweiz) die sich zeitlebens sehr selbstbewusst mit „Frau Pfarrer“ ansprechen liess, erzählt, dass sie während Sitzungen, die sie leitete, es gar nicht mochte, wenn gestrickt wurde. Wehe, es waren klimpernde Stricknadeln zu hören! Da befahl scheints ihr strenger Blick gleich Ruhe.
    So ändern sich die Zeiten und heute würde Emma Schmuziger wohl nur noch staunend auf strickende Frauen in der Öffentlichkeit, und erst recht auf Theologieprofessorinnen mit Strickzeug schauen.

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