Meine Freitagabende verbringe ich im Schulschwimmbad und gebe geflüchteten Menschen Schwimmunterricht. Manchmal komme ich mir blöd vor, weil ich denke, dass ich als Millenial cool sein und Party machen sollte, aber ganz ehrlich: Mir hat sich der Reiz, 25 Franken Eintritt für einen stickigen, überfüllten und hämmernd lauten Club zu bezahlen, noch selten erschlossen. Zwei bis drei Mal im Jahr von mir aus, aber das reicht dann auch wieder. Daher gibt es an Freitagen Badekleid statt Partyoutfit, Chlorgeruch statt Nebelmaschine, das Plätschern der Überlaufrinne anstelle von wummernden Bässen und ich liebe es. Es erinnert mich an meine Abende als Kind und Jugendliche, in denen ich ungezählte Stunde im Schwimmtraining verbrachte – ausser, dass ich jetzt in der Rolle der Leiterin bin.
Badekleid, Badehose, Burkini
Die Kurse sind manchmal geschlechtergemischt, manchmal geschlechtergetrennt. Normalerweise kommen um die acht Teilnehmer:innen. Badekleid, Badehose, Burkini, Bikini, völlig egal. Sie sind jünger, älter, sprechen fliessend oder bruchstückhaft Deutsch. Manche sind extrovertiert, manche sind introvertiert, manche sind das eine oder andere aufgrund ihrer Sprachfähigkeiten. Manche kommen jede Woche, manche nur zwei bis drei Mal. Manche sind religiös, manche nicht und es gibt genauso viele Christ:innen wie Muslim:innen. Das Angebot ist ein kostenloses Integrationsprojekt der Stadt Zürich.
Die Teilnehmenden müssen nichts bezahlen. Auch wir Leiter:innen leisten freiwillig Arbeit, damit die Menschen schwimmen lernen können. Als Bademeisterin ist es mir ein Anliegen, dass eine ertrinkungsgefährdete Risikogruppe in Wassersicherheit geschult wird. 80 % der Ertrinkungsopfer sind männlich und ein Grossteil davon hat eigene Migrationserfahrungen. Jede Person, die die sechs Baderegeln kennt und nicht einfach so in den See oder den Fluss springt, bedeutet ein sinnlos verlorenes Leben weniger. Aber darüber hinaus ist es mir wichtig zu sagen: Ihr seid hier willkommen. Ihr gehört dazu. Ich will euch hier. Wir gehören zusammen.
Ich will euch hier
Am Ende des Tages geht es um weit mehr als die Tatsache, dass sie schwimmen lernen. Oft ist es gar nicht möglich, dass die Teilnehmer:innen innerhalb von drei Monaten vollständig schwimmen lernen. Denn diese Menschen sind verdammt mutig, dass sie überhaupt ins Wasser kommen. Viele bringen Trauma-Erfahrungen mit sich, einige davon involvieren Wasser. Manche erzählen freiwillig davon, viele schweigen lieber. Nach ihrer Geschichte fragen dürfen wir nicht – das steht uns nicht zu. Es kann retraumatisierend sein, wenn man aus dem Nichts daran erinnert wird. Aber in der ersten Lektion zeigt sich meistens von alleine, wer ein unverkrampftes und wer ein schwieriges Verhältnis zu Wasser hat. Für einige bedeutet es eine riesige Mutprobe, dass sie vom Rand zur Mitte des Beckens laufen, wo sie sich nicht mehr halten können. Für manche ist es die Hürde, das Gesicht unter Wasser zu tauchen.
Oft geht es in der Auseinandersetzung mit Wasser um die Auseinandersetzung mit sich selbst.
Den männlichen Teilnehmern muss ich oft sagen, dass sie sich nicht schämen müssen, wenn sie Angst haben oder etwas nicht auf Anhieb können. Dass kein Bekannter oder Verwandter das Recht hat, sie auszulachen, wenn sie im Sommer nicht in den See wollen. Manchmal muss ich es ihnen aber auch ausreden, wenn sie eigenständig im Fluss die Übungen aus dem Kurs wiederholen wollen. Die Frauen hingegen trauen sich viele Sachen gar nicht erst zu. Sie misstrauen ihrem Körper oder sich selbst. Im Unterricht wollen wir sie erfahren lassen, dass sie viel mehr können, als sie denken. Man merkt es daran, wenn sie am Ende mutig in tiefes Wasser springen und uns Leiter:innen vertrauen, dass wir sie halten. Aber eine Übung finde ich jedes Mal besonders berührend: die Wasserblume.
Die Wasserblume ist eine Schwebe- und Vertrauensübung am Ende des Kurses.
Eine Teamkollegin hat sie eingeführt. Dazu bekommt jede:r Teilnehmer:in eine bunte Poolnudel und wir versammeln uns stehend im Kreis. Wir legen die Poolnudeln halbkreisförmig hinter uns aufs Wasser. Der Clou ist, dass jede Person nun nicht die eigene Poolnudel fasst, sondern die Enden der Nudeln der benachbarten Teilnehmenden links und rechts. Diese wiederum greifen meine Enden. So sind alle voneinander getragen. Anschliessend zählen wir bis Drei und legen uns vorsichtig aufs Wasser. Getragen von den Poolnudeln unter unseren Achseln schweben unsere Füsse in der Mitte und unsere Köpfe aussen auf dem Wasser, eine Wasserblume eben. Synchronschwimmen light.
Gemeinsam bleiben wir obenauf
In dieser Position bleiben wir eine halbe bis eine Minute. Wir üben, unsere Körper horizontal auf dem Wasser schweben zu lassen und entwickeln ein Gefühl für Körperspannung. Gleichzeitig müssen wir allen im Kreis vertrauen, dass sie unsere Poolnudeln greifen und wir alle über Wasser bleiben. Das Gefühl, dass sich einschleicht, wenn wir alle nahe beieinander an die Decke mit den grellen Lampen starren, ist andächtig. Nach dem intensiven Training fühlt es sich an, als würden wir uns innerlich sammeln und uns daran erinnern, dass wir gemeinsam auf der Reise sind, schwimmen zu lernen. Für die Teilnehmenden bedeutet die Übung Kontrollverlust. Das kostet sie sehr viel Mut, weil man anfangs beim Schwimmen die Interaktion mit dem Wasser ganz genau kontrollieren und steuern will.
Auch für mich bedeutet es, meine Position als Leiterin loszulassen und mich in die Gruppe einzugliedern. Ich muss meinen Teilnehmenden vertrauen, dass sie es schaffen, sich gegenseitig zu halten. Bis heute ist die Wasserblume nicht einmal gurgelnd und spuckend untergegangen, im Gegenteil: Alles wird ganz leise. Fast alle haben ein stilles, staunendes und feines Lächeln auf dem Gesicht, wenn wir wieder auf dem Boden stehen. Für Menschen, denen das Element Wasser gänzlich unvertraut ist, ist das eine riesige Leistung. Damit wird die Wasserblume Woche für Woche zum Sinnbild für ein Miteinander. Sie zeigt, was möglich ist, wenn wir nicht einzig auf uns selbst bedacht sind. Ja, klar, man muss sich ein Stück weit selbst über Wasser halten können. Aber gleichzeitig ist man getragen. Als Leiterin nehme ich die schwächeren Schwimmer:innen näher zu mir, weil ich viel mehr Kraft habe, um sie zu halten. Der Erfahrung nimmt es nichts: Gemeinsam bleiben wir obenauf.
Bild: cottonbro auf Pexels