Less noise – more conversation.

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Lost in Translation: Mono No Aware

Das Wunder duftender Frühlingsblüten ist zu zart für diese Welt. Es braucht nicht viel und es schwindet dahin.

Wir merken das gerade jetzt durch den verspäteten Wintereinbruch. Frostige Temperaturen im April und mancherorts auch Schnee haben den Frühling ausgebremst.

Blumen, kaum aufgeblüht, sehen jetzt müde und zerknittert aus.

Für das Gefühl, das zerbrechliche Schönheit in uns auslöst, gibt es im Japanischen einen eigenen Begriff: Mono No Aware. Mono No Aware gehört zu den komplexen Gefühlen, wo mehrere und auch widersprüchliche Gefühle zusammenspielen.

Kirschblüten betrachten

Mono No Aware bedeutet übersetzt «Pathos der Dinge». Speziell die Kirschblüte, die in Japan alljährlich mit Kirchblütenfesten gefeiert wird, steht für Mono No Aware. Das Kirschblütenfest, Hanami, heisst übersetzt einfach:  «Blüten betrachten».

Mono No Aware umfasst beides: die betörende Schönheit der Dinge und ihre ans Herz rührende Vergänglichkeit.

Auch ohne überraschenden Frost hält die Kirchblüte nur kurze Zeit. Die Natur bläst die grosse Fanfare berauschender Schönheit und Fülle – und opfert wenig später, was sie überreich geschenkt hat.

Mono No Aware gehört zu den ästhetischen Gefühlen. Zarte Seelen, Poeten und Künstlernaturen sind dafür besonders prädestiniert.

Die Bestürzung des Bauern dagegen, der durch späten Frost die Ernte bedroht und seine Existenz gefährdet sieht, ist etwas grundlegend anderes.

Vergängliche Schönheit

Hinter Mono No Aware steckt das philosophische Wissen um die Flüchtigkeit des Lebens ganz allgemein. Flüchtige Dinge erinnern uns an die eigene Vergänglichkeit.

Mono No Aware ist die vorweggenommene Trauer über den Verlust.

Mono No Aware ist die Vorwegnahme des Verlustschmerzes im Moment der Erfüllung. Es ist tiefes Ergriffensein von der fast schon schmerzenden Schönheit des Daseins und gleichzeitig Einsicht in die Notwendigkeit loszulassen. Dies entspricht buddhistischer Grundüberzeugung.

Spirituelles Ziel im Buddhismus ist die Überwindung der Anhaftung (Upādāna) an die Welt und die vergänglichen Dinge.

Um die Vergänglichkeit zu wissen, kann überraschenderweise frei machen, kann Gelassenheit schenken.

Alles, was überaus schön ist, ist sonderbarerweise vergänglich und löst Nono No Aware aus. Zum Beispiel auch Küsse. Im Kuss berühren sich unsere pulsierenden Lippen. Wir fühlen den Herzschlag des geliebten Menschen, schmecken, liebkosen seinen oder ihren Mund, verschmelzen. Dann lösen wir den Kuss wieder.

Würden wir Küsse nicht lösen, würden sie sich mit der Zeit komisch und schliesslich sogar schrecklich anfühlen.

Um jeden Kuss, den wir nicht küssen, ist es schade. «Es tut mir um jeden Kuss leid, den ich nicht gegeben habe. Deshalb bin ich manchmal zu Tränen gerührt, wenn mich ein Kind streichelt. Oder eine Katze mich umstreicht», hat die österreichische Malerin Maria Lassnig kurz vor ihrem Tod in einem Interview gesagt. Sie wurde 94 Jahre alt.

Mono No Aware ist ein Gefühl, dass unzertrennbar zusammenhängt mit Unverfügbarkeit, also mit den Dingen im Leben, die uns geschenkt sind – aber nur für eine begrenzte Zeit.

Die Geschichte vom Prinzen Genji

Die wehmütige Empfindung von Mono No Aware findet sich beispielhaft in dem Roman «Die Geschichte vom Prinzen Genji» aus der Heian-Periode (794-1185) eingefangen. Das Buch wird als erster psychologische Roman der japanischen Literaturgeschichte bezeichnet und ist wahrscheinlich von einer Hofdame verfasst.

Der melancholische Prinz Genji besuchte seine Geliebte: «Die Herbstblume waren im Verwelken.»

Die Stimmen von Insekten vermischten sich mit «klagenden Flöten des Windes in den Tannen». Am nächsten Morgen kehrte der Prinz «trostlos durch schwere betaute Wiesen in die Stadt zurück.»

Prinz Genji weiss, er wird seine Geliebte nie wieder sehen. Ihm ist das Herz daher unfassbar schwer.

Foto von zoo monkey auf Unsplash

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