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Lost in Translation: Komorebi

Ein Mann in einem taubenblauen Overall sitzt in einem Park in Tokio und isst ein Sandwich. Sein Blick streift hinauf zu den Baumkronen der Laubbäume. In den Wipfeln bricht sich die Mittagssonne. Für Momente verliert sich der Mann im flirrenden Spiel von Licht und Schatten. Wie ein Kind.

Dann holt er eine alte Kamera aus der Brusttasche. Er fotografiert den Baum, lächelt und macht sich wieder an seine Arbeit: das Putzen architektonisch interessant gestalteter öffentlicher Toiletten in Tokio.

Ein perfekter Tag

Das Spiel von Licht und Schatten in Bäumen, das der Mann so sehr liebt, spielt in dem 2023 herausgekommenen Film «Perfect Days» des deutschen Kinoregisseurs Wim Wenders eine Hauptrolle. Die eingangs geschilderte Szene wiederholt sich im Leben des Mannes im blauen Overall täglich.

Im Japanischen gibt es – anders als im Deutschen – für das Naturschauspiel der Sonne, die mit Blättern spielt, ein eigenes Wort: Komorebi. Wörtlich übersetzt bedeutet Komorebi «Sonnenschein, der durch die Bäume dringt».

Der Begriff Komorebi setzt sich aus den Zeichen für «Baum», «entweichen» und «Sonne» zusammen.

Komorebi beschreibt das Phänomen der Schönheit der Sonnestrahlen und der Bewegtheit der Bilder, die diese zeichnen: auf Blätter, Baumstämme, bemoosten Waldboden, Häuser – und sogar auf Mauern öffentlicher Toilettenanlagen.

Jeden Augenblick anders

Komorebi streicht sanft, ja beinahe liebevoll über Bäume, Wände oder Körper. Komorebi zeigt an, dass Luft da ist, Luft zum Atmen und Weite. Komorebi zeigt auch Windhauch an oder Sturm. Komorebi ist im Frühling anders als im Sommer oder Herbst.

Komorebi ist immer anders, jeden Tag, jeden Augenblick.

Komorebi inspiriert Künstler:innen, Designer:innen, Architekt:innen und auch Parfumhersteller. Yuzu, Osmanthus, Jasmin, und Zypresse mischt das Label Frama für sein Unisex-Parfum «Komorebi» zu einem blumigen Duft mit Zitrusanklängen und einer leicht holzigen Note.

Der Sonderling aus dem Film «Perfect Days» legt jeden Morgen seine Futonmatratze zusammen. Mittags knipst er ein Schwarzweissfoto des flirrenden Licht-Schatten-Spiels im Park. Abends liest er William Faulkner («Wilde Palmen») oder Patricia Highsmith.

Das Glück der kleinen Momente

Die Fotos sortiert der Einzelgänger in Kisten, die mit Jahreszahlen beschriftet sind. Ausserdem übersiedelt er Sprösslinge der Bäume in seine winzige Tokioter Wohnung und holt Komorebi so auch ins eigene Zuhause.

Jeden Morgen wässert der Mann die Pflänzchen und freut sich über das Spiel des Lichts und der Blätter in seiner Wohnung.

Ein bisschen pathetisch, ein bisschen kitschig: Das hat die Filmkritik nicht ganz zu Unrecht angemerkt – und ziemlich weit entfernt von der Realität der Working Poor. Dafür aber nahe an einem Leben mit verengtem Radius und eingeschränkten Sozialkontakten.

Nicht zufällig ist «Perfect Days» in der Corona-Zeit entstanden.

Der Film erzählt vom kleinen Glück, das jeden Augenblick zu finden ist, wenn wir danach Ausschau halten – und sofern die Sonne scheint.

Foto: Leonardo Baldissara by Unsplash

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