Ich habe nur zwei Jahre in Italien gelebt, als ich zehn bis zwölf Jahre alt war. Da habe ich l’abbiocco kennengelernt, den treuen Begleiter der Sonntagsnachmittage in Italien. Mein Grossonkel Carlo hat ihn gepflegt. Mein Vater wurde oft von ihm besucht, manchmal sogar ich. So habe ich Gefallen an ihm gefunden.
L’abbiocco ist von der pennichella zu unterscheiden. Die pennichella (Mittagsschläfchen) kann man dösend aktiv steuern und sie ist zumeist von kurzer Dauer.
L’abbiocco kann man kaum bändigen, er dauert im Sommer problemlos eine Stunde: Nach dem üppigen Mittagessen mit Antipasti, Primi, Secondi, Dolce, Frutta e Caffè wird man von der Müdigkeit des Mahlzeitenverzehrs (und auch von der Arbeits- oder Schulwoche) überfallen. Man sackt in sich zusammen, meist auf dem Sofa und vor dem laufenden Fernseher liegend.
Wenn die Formel 1 ihre zumeist langweiligen Runden drehte, hörte Grossonkel die Rennboliden, anstatt sie zu sehen. Vielleicht war er sogar in der Lage, je nach Motorengeräusch zu eruieren, wer gerade führend war.
Zwischen Glück und Glucke
Etymologisch stammt das Wort von biocca oder chioccia ab, der Gluckhenne. Die Hennen können sich abbioccare, d.h. wie kleine Federbällchen in sich zusammenrollen. Grossonkel hatte keine Federn, sondern einen Schnauzbart und selbst wenn er sich kleinmachte, thronte sein Bauch majestätisch. Wenn er schnarchte, dann wurde im Wohnzimmer sogar la Ferrari von Michele Alboreto von ihm übertönt. Da stupste ihn meine Grosstante mit dem Fuss an, damit er seine Rennposition wechselte und ein paar Dezibel herunterbremste.
Narkotisierende Wirkung
Übersetzt wird l’abbiocco ins Deutsche mit Müdigkeitsanfall, Fressnarkose oder auch Suppenkoma.
In Italien würde man kaum mit dem Verzehr eines Minestrone müde werden. Da müssen schon ein paar Lasagne, Tortelloni, Stufati oder Tiramisù dazwischenkommen.
In Spanien kennt man hingegen die siesta, in Portugal die sesta: Diese Begriffe gehen auf lateinisch sexta hora zurück, die sechste Stunde nach Sonnenaufgang.
Fressnarkose
Ob ihr einen abbiocco, eine siesta oder eine Fressnarkose erlebt: Ich hoffe, ihr habt’s auf dem Sofa oder im warmen Bett richtig gemütlich.
Möge die Sonne eure Nase kitzeln und das Schicksal nach dem Aufwachen mit euch gnädig sein. Denn die Wucht eines abbiocco sollte man nicht unterschätzen.
Grossonkel Carlo war danach immer schlechter gelaunt. Und nicht unbedingt, weil Michele Alboreto und seine Ferrari zumeist auf den hintersten Plätzen lagen.
Foto von Krišjānis Kazaks auf Unsplash
1 Gedanke zu „Lost in Translation: Abbiocco“
Kannte ich noch nicht, hab mich sehr amüsiert beim Lesen!