Entwurzelt
Anfang September einer weiteren Bademeisterinnensaison. Der Rhythmus des Sommers pocht in mir. Ich fliesse durch die Bewegungen der Arbeit oder die Tagesabläufe durch meinen Körper. Das Leben ist das Platschen der Fische zu Techno und Salsa und der Geruch flussgetränkter Menschen auf warmem Betonboden. Doch das Licht am Abend wird blauer, die Duschen der Schwimmer:innen länger und die Eiskaffees auf bunten Tüchern weniger. Der Rhythmus verändert sich.
Dann ist die Saison zu Ende. Gelb-orange tropfen die Blätter auf den dunklen Asphalt.
Ich fühle mich wie ein Baum, der entwurzelt in der Luft schwebt.
Das Gefühl ist so intensiv, dass ich es nicht verstehe und auch nicht die Energie habe, es jemandem zu erklären. Ich beschliesse, mich auf eine Solo-Wanderung zu schicken. Gemacht habe ich das noch nie. Der Wunsch, andächtig Kaffee nippend in meiner Entscheidung aufzuwachen, versinkt im Wochenend-Geplapper von Berggänger:innen und Bikern. Selbst in Arth-Goldau, wo normalerweise viele Menschen den Zug verlassen, steigen mehr dazu. War das eine gute Idee? Ich kann es nicht sagen. In Brunnen schäle ich mich aus der Masse. Dort fährt eine kleine Seilbahn auf einen Seitenhügel der Rigi: den Urmiberg.
Gelüftet
Die Aussicht über das Urner Becken des Vierwaldstättersees mit den Bergen, die sich auf unterschiedlichen Höhen ausbreiten oder in den Himmel recken, wickelt sich wie eine Decke um mich. Als ich die Seilbahn verlasse und die kühle Bergluft einatme, fühle ich mich geborgen. Mein Atem wird tiefer und ruhiger. Das Gefühl, entwurzelt in der Luft zu hängen, augenblicklich weniger. Ich bin überrascht. Dann macht sich Erleichterung breit, dass ich mich so wohl fühle. So allein.
Mit dem Smartphone im Flugmodus wandere ich Richtung Rigi Hochflue. Sauge die klare Luft ein, als hätte ich sie noch nie geatmet. Staune über die Farben der Felsen, die knorrigen braunen Fichten mit ihren immergrünen Nadeln und die sich gelb färbenden Gräser, zwischen denen der blaugrüne See durchschimmert. Obwohl es steil nach oben geht, bleiben meine Schritte leicht und sicher.
Mit jedem Schritt fühlt sich die Welt weniger verschoben an.
Mir ist, als würde mich die Natur umarmen und trösten. Erst jetzt kann ich die schmerzhafte Trauer über das Ende der Saison, das Gefühl der Desorientierung und Verlorenheit zulassen und fühle mich gehalten, ohne dass ich in diesen Emotionen untergehe. Erst jetzt kann ich mir selbst zuflüstern: «Ich verstehe dich. Aber es ist okay und gut so, wie es ist. Jetzt warten andere schöne Dinge auf dich.» Ich werde leichter, Zuversicht kehrt zurück. Ich fühle mich verstanden, gehört und lebendig.
Gesichert
Natürlich ist damit nicht alles einfach gut. Waldeinsamkeit ist weder Magie noch Weltflucht. Die Natur macht keine Versprechen. An diesem Tag finde ich lediglich heraus, dass ich mich allein in der Natur unglaublich sicher fühle, dem Leben zu begegnen. Würde ich diesen Prozess spätabends mit Stift und Tagebuch durchlaufen, würden sich dieselben Gedanken und Gefühle überwältigend gross anfühlen. Würde ich jemandem davon erzählen, würde ich sofort den Drang spüren, mich den Erwartungen des Gegenübers anzupassen.
In der Natur verschwindet jegliches Urteilen.
Die wunderschöne Landschaft beruhigt mich, während alle Gedanken und Gefühle aussprudeln dürfen. Ich kann mich gar nicht verspannen oder zerdenken, weil ich atmen und mich auf den Weg konzentrieren muss. Es ist eine faszinierende Mischung aus Konfrontation und Ablenkung, Zulassen, Akzeptieren und Formen-Können. Waldeinsamkeit ist ein sicherer Raum für entwurzelte Bäume. Indem ich sämtliche Ablenkungen ausschalte und mich dem Sturm hinhalte, finde ich zu mir. Höre meine eigene Stimme wieder, die sagt: «Auch durch diesen Sturm wirst du dich sicher navigieren. Es chunnt guet.»
Oskar Werner interpretiert Heinrich Heines Gedicht «Waldeinsamkeit».