Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 3 Minuten

Lost in Translation: L’appel du vide

Die Schritte schlurfen über den grauen Asphalt Richtung Bahnsteigkante. Ich bin müde und definitiv noch nicht bereit für das Leben. Der Bahnsteig ist voll mit Menschen, die in diesem halbwachen Zustand immer wieder ihren Blick erwartungsvoll nach links schweifen lassen, um zu überprüfen, wann ihre Körper endlich wieder in die weichen SBB Sitze sinken können.

Irgendwann zwischen dem Gedanken an den Text, den ich noch fertig schreiben muss und der Erinnerung an den Geburtstag meiner Tante, der ich noch schreiben wollte, nähert sich eine grosse Lok auf den Schienen dem Bahnhof. Mitten in diesen Zustand von umherstreifenden Gedanken, Schwerkraft, die meinen Körper wieder in die Horizontale zieht und grundsätzlich viel zu kalter Aussentemperatur streift mich ein Gedanke:

Was, wenn ich mich einfach auf die Gleise fallen lasse?

l’appel du vide

L’appel du vide lautet der Fachbegriff für meine spontane Lebensmüdigkeit. Oder auf  Englisch: high place phenomenon. Es ruft mich in die Leere. Es zieht mich in die Tiefe. Nur dieser eine Schritt und dann. Nichts. Nur ein Gedanke, eine Schranke, die nicht umgelegt, ein Moment, der nicht ganz bestimmt ist. Der frei lässt, was passieren kann.

Es ist nicht das erste Mal, dass Blitzlichtgedanken dieser Art kommen. Dabei bin ich nicht wirklich des Lebens müde. Eher gedanklich kurz vor dem Schritt in die Leere. Mit den Gedanken in der Ungewissheit. Am Abgrund stehen, einfach die Klippe hinunter…. Kurz davor, das Lenkrad umzureissen. Kurz vor dem Schritt ins Gleisbett, wenn der Zug einfährt, wenn ich jetzt nur einmal kurz, diesen einen Schritt, diese eine Bewegung, dann, ja dann….

Jean-Paul Sartre soll gesagt haben, dass uns dieser Sog vor Augen führt, wir sollten unseren Instinkten keinen Glauben schenken. Oder auch:

Wir sind frei, in jedem Moment unseres Lebens uns für alles Mögliche entscheiden zu können. Sogar für den Tod.

Als wenn ich in diesen Momenten realisierte, dass ich frei bin, mich immer wieder für das Leben zu entscheiden. Und dieses auch tue.

Don’t trust your instincts

L’appel du vide ist ein Gefühl, das mich irritiert. Und für einen kurzen Moment auch erschreckt. Den eigenen Gedanken zu misstrauen, scheint revolutionär in der heutigen Zeit, wo doch alles, was wissenschaftlich, was rational sinnvoll erscheint und gedanklich nachvollziehbar ist, fast schon per se richtig sein muss.

Der Ruf der Leere, so wird es in einem Artikel beschrieben, ist eines dieser weitestgehend ungeklärten, skurrilen Dinge, die unser Gehirn nun einmal macht.

Unser Gehirn missinterpretiert unsere Sicherheitsinstinkte und versucht sich die empfundene Angst zu erklären. Dies tut es, indem es denkt, wir müssten den Drang gehabt haben zu springen. Wir bilden uns also ein, wir hätten diesen Sog verspürt.

Feel free

Die Gedanken sind frei. Sie bringen mich zumindest für eine Millisekunde dazu, zu glauben, ich sei lebensmüde. Aber die Gedanken sind eben nicht nur frei, sondern auch häufig irrational. Sie zeigen mir die Möglichkeiten dessen, was ich tun kann, zumindest in meinem Kopf. Oder eben auch lassen. Eine Freiheit, die eigenen Gedanken nicht ernster zu nehmen als die Realität, die sich gerade vor meinen Augen abspielt.

Vor meinen Augen öffnen sich die blauen Türen der S3. Mein müder Körper überbrückt mühevoll die Meter zwischen dem Bahnsteig und dem nächsten freien Sitzplatz. Als ich in den weichen Sitz sinke, ist der einzige Ort, an den es mich nunmehr noch wirklich zieht, wieder das heimelige Bett.

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2 Kommentare zu „Lost in Translation: L’appel du vide“

  1. Wow! Danke, dass Du darüber schreibst. Ich dachte immer, ich wäre die Einzige, die solche Impulse hat… Einfach über die Brüstung klettern und springen… Einfach mit Karacho an die Wand fahren… Ich bin genauso wenig lebensmüde wie Du und trotzdem sind da immer wieder diese Blitzgedanken ⚡️

  2. Ich kenne das Gefühl sehr gut. Einfach durch den Notausgang verschwinden und fertig. Oft habe ich mir überlegt, den Todesdrink von Exit zu trinken, würde er vor mir auf dem Tisch stehen. Dann habe ich den DIN «Risen» gesehen. Die Freude , das Lachen und die Liebe von Jesus und seinen Jüngern, unter denen auch eine Haudegen sind, haben mich aufgestellt. Jedenfalls weiss ich jetzt, wie ich das Verhältnis zu Jesus auch sehen kann: als Ausdruck von Fröhlichkeit und Entspannung. Das hilft.

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