Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 3 Minuten

Planet A: Die Klimakolumne. Der Sündenbock im Kühlschrank

Stammtisch der Lebensmittel

Die Avocado seufzt tief und verkriecht sich in die hinterste Ecke des Kühlschranks. Es ist wieder Zeit für den wöchentlichen Stammtisch der Lebensmittel. Die Margarine ergreift als erste das Wort: «Ich war immer stolz darauf, dass man mich aus einheimischem Raps herstellt. Aber das wird wohl nicht mehr lange so bleiben. In der Fabrik wurde gesagt, es werde beim Raps immer mehr Ernteausfälle geben. Mal sehen, mit welchen ausländischen Produkten sie mich dann vollstopfen.»

Das Klima wandelt sich

«Der milde Winter ist das Problem», bestätigt der Blumenkohl mit ernster Stimme. «Der Raps müsste ab und zu frösteln, um wachsen zu können und wir bräuchten die Kälte, damit die eingewanderten Schädlinge erfrieren.» Die Avocado versteckt sich hinter einer grossen Packung Reibkäse. Mit jedem Wort fällt sie noch etwas mehr in sich zusammen.

Wandel bringt Vorteile

Beschwichtigend mischt sich die Rotweinflasche ein: «Lasst uns nicht vergessen: Der Klimawandel hat auch Vorteile. Noch vor dreissig Jahren wuchs die Merlot-Traube nur in mediterranen Regionen. Heute gibt es sogar Merlot aus dem Schaffhauser Klettgau.» Stolz zeigt sie ihre Etikette und löst damit ein heftiges Gemurmel aus. Der Riesling erwidert empört: «Erstens: Warum ist der Rotwein überhaupt hier im Kühlschrank? Und zweitens ist es wiedermal typisch − du denkst nur an dich selbst. Wenn ihr euch auch in Zukunft noch mit einem Riesling unterhalten wollt, müsst ihr alle skandinavisch lernen.»

Die Menschlichkeit verschwindet

Der usbekische Chili meldet sich mit einem ungewohnt milden, traurigen Tonfall. «Was ich auf meiner Reise hierher erlebt habe, könnt ihr euch gar nicht vorstellen.» Gespannt richten sich alle Blicke auf die rote, zusammengekrümmte Schote. «In Usbekistan wird um jeden Wassertropfen gerungen. Landwirte kämpfen ums Überleben. Wo das Wasser verschwindet, verschwinden entweder die Menschen oder die Menschlichkeit.» Jetzt kann sich die Avocado nicht länger zurückhalten. Sie bricht in Tränen aus: «Es tut mir so leid! Ich bin an allem schuld!»

Der Sündenbock

«Wie kommst du darauf? Ich bin doch pro Gramm für viel mehr CO2 verantwortlich als du!», sagt das Hamburger-Patty mit gerunzelter Stirn. Schluchzend antwortet die Avocado: «Das ist es ja gerade. Im Vergleich zu anderen ist meine CO2-Bilanz gar nicht so schlecht. Aber ich bin der Sündenbock. Wegen mir ändert niemand sein Verhalten und es bleibt alles so, wie es ist. Habt ihr noch nie zugehört bei den Stammtischgesprächen der Menschen? Sie enden immer mit der Aussage: ‹Solange Veganer:innen noch Avocados essen, darf ich auch nach Mallorca in die Ferien fliegen.›»

Jesus ist schuld

Das angespannte Schweigen wird vom Surren des Kühlschranks begleitet. Schüchterne Blicke wandern zum Traubensaft. Dieser ist oft bei kirchlichen Ritualen dabei und kann normalerweise die Gefühlsausbrüche am Stammtisch gut auffangen. «Es ist nicht deine Schuld», sagt er tröstend. «Wenn jemand schuld ist, dann ist es Jesus. Er hat so oft gegen die Heuchelei gepredigt, dass die Menschen jetzt das Gefühl haben, man dürfe sich erst für eine bessere Welt einsetzen, wenn man selbst ein perfektes Leben führt.»

 

Grafik: Rodja Galli

 

Alle Beiträge zu «Klimakolumne»

1 Kommentar zu „Planet A: Die Klimakolumne. Der Sündenbock im Kühlschrank“

  1. Hey Anna

    Ganz cool! Besonders dein “ Schlusssatz“. Der Umkehrschluss ist natürlich genau gleich tragisch: Vom anderen lasse ich mir nichts sagen, weil er in diesem Bereich auch nicht fehlerfrei ist.

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

RefLab regelmässig in deiner Mailbox

RefLab-Newsletter
Podcasts, Blogs und Videos, alle 2 Wochen
Blog-Updates
nur Blogartikel, alle 2 bis 3 Tage