Ein Blick in seine Augen reicht und alle meine Ausreden lösen sich in Luft auf.
Entsorgungstag
Ich habe geschlafen, während mein Mitbewohner an einem Samstagmorgen alleine den Estrich ausgemistet hat. Als er die letzten Kisten mit Elektroschrott entsorgte, lag ich wach im Bett und versuchte mit vergleichbarem Kraftaufwand mein schlechtes Gewissen loszuwerden.
Verantwortung loswerden
«Er hätte mich ja wecken können.» Schon schob ich ein Stückchen Verantwortung in seine Richtung ab. «Früher hat es nie geklappt, wenn wir in der WG eine Aufräumaktion planten. Ich konnte ja nicht wissen, dass mein Mitbewohner diesmal pünktlich bereitsteht.» «Das meiste Gerümpel auf dem Estrich stammt aus einer Zeit, in der ich noch gar nicht hier gewohnt habe. Eigentlich ist es da auch nicht meine Aufgabe, das zu entsorgen.» Perfekt – jetzt habe ich nicht nur eine Ausrede dafür, warum ich heute nicht mithelfe, sondern warum ich das überhaupt nicht tun muss.
Den atmosphärischen Estrich entrümpeln
Ich nahm mein Handy hervor und scrollte durch den Instagram-Feed. Wenn sich mein Gewissen schon nicht ganz überzeugen liess, konnte ich es wenigstens kurzzeitig betäuben. Bei einem Post hielt ich inne. Es ging um die Entsorgung der Treibhausgase aus unserem atmosphärischen Estrich. Ich las die Kommentare. Die Argumente kamen mir bekannt vor.
Wer weckt wen?
Ein Finanzblogger meinte, die Wirtschaft müsse halt mit dem Hammer des Gesetzes wach gerüttelt werden. «Die Unternehmen würden ja gerne klimafreundlicher produzieren, wenn man die Spielregeln des Marktes daraufhin anpasst.» Jemand anderes erwiderte, früher habe es auch nie geklappt, wenn man mit einer grossen politischen Aufräumaktion versuchte, den CO2-Austoss einzuschränken. «Die Mehrheit der Bevölkerung ist nicht bereit, solche Entscheidungen mitzutragen.»
Das Bermudadreieck
Eine junge Automechanikerin schrieb, es sei doch nicht ihre Aufgabe, das wegzuräumen, was grösstenteils andere in der Atmosphäre zurückgelassen hätten. «Ich stehe nicht auf, solange chinesische Kohlekraftwerke und amerikanische Politiker:innen ihre Verantwortung nicht übernehmen!» Politik, Wirtschaft, Bevölkerung: Das Bermudadreieck, in dem jegliche Verantwortung verschwindet. «Wir haben alle Recht», dachte ich und stand erleichtert auf.
Ein enttäuschter Blick
Als mein Mitbewohner von der Entsorgungsstelle zurückkommt, reicht ein einziger Blick in seine Augen und meine Ausreden lösen sich in Luft auf. Es spielt keine Rolle mehr, ob ich mich mit rhetorischer Taktik aus der Verantwortung ziehen könnte. Ich habe ihn enttäuscht.
Besen statt Argumente
Das möchte ich wiedergutmachen. Schweigend hole ich den Besen und gehe auf den Estrich. Während ich die letzten Staubspuren entferne, fällt mir auf, dass sich ein schlechtes Gewissen viel besser mit einem Besen wegwischen lässt, als mit Argumenten.
Grafik: Rodja Galli
1 Gedanke zu „Planet A. Die Klimakolumne: Bermudadreieck der Verantwortung“
Wunderbar treffend!