Schlaflos und spazierfreudig
Eine Historikerin überfliegt die Zeilen, welche sie in den letzten Stunden zu Papier gebracht hat:
«Am Anfang meinte Herbert noch, er habe sich eine Grippe eingefangen: Er kann kaum noch schlafen und hat wenig Appetit. Gleichzeitig bringt ihn sein enormes Bewegungsbedürfnis dazu, täglich mehrmals durch das Dorf zu spazieren − zufälligerweise immer dann, wenn die Bäckerstochter die Brotbestellungen ausliefert.
Der Liebeszauber
‹Du leidest unter einem Liebeszauber›, flüstert Herberts heilkundiger Bruder mit aufgerissenen Augen, nachdem dieser ihm die Symptome geschildert hat.
‹Während manche Dichter die Liebe metaphorisch als Zauber beschreiben, meint es Herberts Bruder wörtlich: Wer von einem Liebeszauber verhext wurde, übersieht alle fehlerhaften Charakterzüge der Angehimmelten und frisst ihr aus der Hand.›»
An den Säulen rütteln
Die Historikerin runzelt die Stirn. Es ist gar nicht so einfach, einer Hollywood-durchtränkten Gesellschaft zu erklären, wie sich Liebe vor 300 Jahren angefühlt hat. Sie blickt nachdenklich durchs Fenster.
Die Gedanken aus einer vergangenen Zeit rütteln an den Säulen ihrer Weltanschauung. «Könnte es sein, dass ich bisher die Rolle der Liebe komplett falsch beurteilt habe?»
Liebe bevorzugt
Mit mehr Liebe wäre die Welt ein besserer Ort − das behaupten Heilige Schriften von der Bibel bis zu Beatrice Eglis Songtexten. Doch was ist, wenn Liebe der Kern all unserer Probleme ist?
Liebe ist nicht fair. Sie bringt Menschen dazu, Dinge zu tun, die anderen schaden. Um eine geliebte Person zu schützen, bevorzugt man die Lüge vor der Wahrheit, den Krieg vor dem Frieden und im Extremfall sogar Til Schweiger vor Steven Spielberg.
Liebe entschuldigt alles
Wer zum Wohl des Familienfriedens weiterhin Fleisch kocht, dem kann man verzeihen. Wer aus Liebe monatlich nach Amerika fliegt, die kann man verstehen.
Liebe stellt das Interesse einer kleinen Gruppe vor das Gemeinwohl. Nicht Egoismus ist der Grund, warum wir zu viele Ressourcen verbrauchen, sondern Liebe.
Den Liebeszauber entkräften
Vielleicht sollten wir uns an der Medizin der Renaissance ein Vorbild nehmen, und uns fragen, wie wir uns vom Liebeszauber befreien können. Damals schlug man vor, man solle «sich die Fehler der Geliebten stets vor Augen halten» und daran denken, «dass sie später eine Speise der Würmer sein wird».[1]
Mit allen verbunden sein
Statt die Liebe loszuwerden, könnte man natürlich auch versuchen, nicht nur einzelne Menschen zu lieben, sondern sich mit allen Lebewesen dieses Planeten gleich verbunden zu fühlen. Doch es wäre sehr schmerzhaft, wenn bei jedem Käferpanzer, der unter einer Schuhsohle zerknackt, auch mein Herz bricht. Da suche ich lieber nach einem Gegenmittel zum Liebeszauber.
Ein Netz aus Liebe
Eine weitere Möglichkeit gäbe es noch. Herbert liebt die Bäckerstochter. Die Bäckerstochter liebt ihre Familie. Ihre Familie liebt Nachbarn und Freunde, welche wiederum im nächsten Dorf jemanden lieben.
Wenn ein ganzes Netz aus Liebe die Welt umspannt, werden Menschen plötzlich bereit, sich um das Wohl von Fremden zu kümmern. Doch was ist mit denjenigen, die durch die Maschen fallen und von niemandem geliebt werden?
Man müsste Gott erfinden
Am einfachsten wäre es wohl, man würde ein Wesen erfinden, das alle Geschöpfe auf diesem Planeten gleichermassen liebt. Es müsste selbst so liebenswürdig sein, dass wir alle durch unsere Verbundenheit mit ihm in einen globalen Liebesteppich eingewoben werden.
«Vielleicht hatte ja schonmal jemand so eine Idee», denkt die Historikern und geht zu ihrer Bibliothek aus alten, heiligen Texten.
[1] Zauberei und Gerichtsmedizin 16.-18. Jahrhundert
Graphik: Rodja Galli