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 Lesedauer: 3 Minuten

Planet A. Die Klimakolumne: Nachhaltige Not

Eine bahnbrechende Idee

Vor zwei Jahren kam mir eine Idee, welche die Welt für immer verändern sollte. Während ein paar Monaten besuchte ich meine Freunde am Stadtrand von Lima. Die Strassen waren staubig, die Hütten klein und die Herzen gross – wie immer, wenn eine europäische Volontärin ein südamerikanisches Armenviertel beschreibt. Jeden Tag erwachte ich mit derselben Frage: Was kann ich tun, um meinen peruanischen Freunden zu helfen?

Eines Morgens habe ich die zündende Idee. Der Engelchor in meinem Kopf stimmt Händels «Hallelujah» an, denn mir wird klar, was diesem Quartier fehlt: eine Facebook-Seite, wo Leute aus der Nachbarschaft Haushaltsgegenstände günstig verkaufen, die sie nicht mehr brauchen!

Dann könnte sich José endlich ein Bett für seine Kinder leisten! Ich scrolle durch Facebook und atme erleichtert auf, weil scheinbar noch niemand vor mir diese bahnbrechende Idee hatte.

Die Ernüchterung

Mein mentaler Engelchor steuert bereits auf den fünften Durchgang zu, als der Gesang mit einem Mal abbricht. Aus dem Augenwinkel sehe ich den Schrank, der in der Ecke steht: Er ist so altersschwach wie Josés Grossmutter und wurde wohl schon vor deren Zeit als Erbstück durch die Familie gegeben. Ernüchtert schaue ich auf die Strasse, wo meine Nachbarin gerade einen kaputten Stuhl verbrennt, um ihren Kochtopf anzuheizen. Ich seufze. Das wird wohl nichts mit der Auszeichnung für meine nachhaltige Entwicklungshilfe. In meinem Leben ist die Wiederverwendung von Gegenständen eine Lifestyle-Entscheidung – für José und seine Familie war dies schon immer eine Notwendigkeit.

Minimalismus aus Notwendigkeit

Da macht sich auch schon die nächste Innovationsidee in mir breit: Ich bin gerade umgeben von Nachhaltigkeitsexpert:innen und Upcycling-Profis! Sie sollten auf Instagram eine Learning Community starten, um den Menschen im globalen Norden zu zeigen, wie ein nachhaltiges Leben funktioniert!

Ich stellt mir vor, wie Adriana ein Video macht zu „Minimalistisch Kochen“ und wie Pablo erklärt, dass man ganz einfach aus vier kaputten Backsteinen einen kleinen Ofen bauen kann. Doch diesmal bleibt dem Chor das Hallelujah im Hals stecken. Ich erinnere mich: Adriana schämt sich bei jedem meiner Besuche für ihre minimalistische Wohnungseinrichtung.

Was in meinen Augen ein nachhaltiger Lifestyle ist, bedeutet für sie Armut. Und Armut zeigt man nicht vor der Kamera – Armut versteckt man verschämt hinter geschlossenen Türen.

Minimales Leben, maximale Würde

«Glücklich seid ihr, die ihr in Armut lebt, denn euch wird ein nachhaltiger Lebensstil geschenkt»: Aus einem Mund, der immer etwas zu Beissen hatte, ist dieser Satz arrogant.

Ein Glück, dass ein mittelloser Vagabund einst etwas ganz Ähnliches gesagt hat, während er an den Aussengrenzen der Gesellschaft entlangwanderte. Den Menschen, die er dort antraf, schenkte er keine gebrauchten Schränke, sondern uneingeschränkte Würde.

Graphik: Rodja Galli

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