Es gehört zu den jährlich wiederkehrenden Ritualen: In der verschneiten Schweizer Bergstadt Davos versammelt sich zu Jahresbeginn die Wirtschafts- und Politikelite. Gastgeber ist mit dem WEF eine Lobbyorganisation der grossen weltweit operierenden Unternehmen mit Sitz in Genf.
Ein Hauch von grosser Welt ist da immer zu spüren, selbst wenn man nicht vor Ort ist.
Und ebenfalls jedes Jahr nutzt der Verbund internationaler Hilfs- und Entwicklungsorganisationen Oxfam – ein bisschen Spassbremse – den Aufmerksamkeitsfokus für ein Update der Armutssituation in der Welt.
Schlimmste Ungleichheit seit 100 Jahren
Der neue Oxfam-Bericht ist niederschmetternd und verstärkt Ohnmacht und Wut.
Allein im vergangenen Jahr ist das Gesamtvermögen der weltweit inzwischen knapp 2800 Milliardäre von 13 auf 15 Billionen US-Dollar gestiegen. Die Reichenvermögen wachsen immer schneller; 2024 dreimal so schnell wie 2023.
In Genf sind inzwischen knapp 20 Prozent der Einwohner Millionäre.
Im selben Zeitraum stagnierte die Zahl der Menschen, die unter der erweiterten Armutsgrenze der Weltbank von 6,85 US-Dollar pro Tag leben. Die Zahl hungernder Menschen steigt laut dem Oxfam-Armutsbericht sogar wieder.
Gefahr für die Demokratie
Seit einigen Jahren stimmen selbst Millionäre in Klagen ein. Und fordern Milliardärsbesteuerung.
370 Millionäre nutzten Davos dieses Jahr, um vor der rasant wachsenden Macht ihrer eigenen Zunft zu warnen. Die Käuflichkeit von politischem Einfluss sei zunehmend eine «Bedrohung der Demokratie».
Reichtum wächst ins Unvorstellbare
«Der Vermögenszuwachs der Superreichen ist grenzenlos, während es bei der Bekämpfung der Armut kaum Fortschritte gibt und zum Beispiel Deutschland die Unterstützung einkommensschwacher Länder sogar kürzt», liess Oxfam Deutschland verlauten.
Mit rasant anwachsenden Vermögen Reicher gehen – zumindest bislang – keine erkennbaren sozialen und ökologischen Verbesserungen einher. Im Gegenteil: Prekarisierung, Entsolidarisierung, Rechtsruck und irreversible Klimaschäden nehmen zu.
Plattform der Decision-makers
Das Motto des 55. WEF lautet «Spirit of Davos», der Untertitel «Collaboration for the Intelligent Age». Die Formulierung «intelligentes Zeitalter» ist wohl primär auf den KI-Fortschritt gemünzt. Laut der Organisation LobbyControl bestimmen Techmilliardäre immer stärker die Stossrichtung des WEF.
Einige der wertvollsten Unternehmen der Welt, darunter Alphabet (Google), Apple, Amazon, Meta und Microsoft, sind offizielle Partner des Forums in Davos.
Auffallend in der Tech- und Kryptomilliardärsszene ist die Begeisterung für die Ideologie des sogenannten «Effektiven Altruismus» (EA). (RefLab griff das Thema bereits 2022 in einem Podcast auf).
Effektive Altruist:innen
Vorhandene Mittel sollen gemäss EA durch freiwillige Spendenbereitschaft (und nicht etwa durch Steuern) auf der Basis festgesetzter Parameter unsentimental denjenigen zukommen, die als die Bedürftigsten ermitteln werden.
EA ist ein quantitativer Ansatz. Von christlicher Barmherzigkeitsethik unterscheidet er sich unter anderem dadurch, dass die Grundlage die Unhinterfragbarkeit der herrschenden Form des kapitalistischen Wirtschaftssystems ist.
Effizient ist algorithmisch gestützter Altruismus, wenn die Wirtschaft möglichst schnell wächst und daher maximale Kapitalströme dirigiert werden können.
«Drill, baby, drill!»
Einige Protagonist:innen von EA geben zehn Prozent und mehr ihrer Vermögen für gute Zwecke ab. Beeindruckend.
Verbunden mit dem Effektiven Altruismus ist das Konzept des «Long-Termism». Hier geht es darum, die Zukunft der Menschheit in möglichst langen Zeitfenstern positiv zu beeinflussen.
Auch beim Konzept der «Nachhaltigkeit» geht es um die Zukunft der Menschheit. Allerdings steht hier, anders als beim EA, das Streben nach einem Gleichgewicht zwischen Umweltschutz, wirtschaftlicher Entwicklung und sozialer Gerechtigkeit im Zentrum.
Verbunden damit: schonender Umgang mit Ressourcen statt aggressivem Extraktivismus (uneingeschränkte Rohstoffausbeutung) sowie Erhaltung von Ökosystemen.
Was ist das grösste Existenzrisiko?
Laut dem Kognitionspsychologen und Professor für Digitale Kommunikation Christian Stöcker handelt es sich beim Effektiven Altruismus inzwischen um die vermutlich bestfinanzierte Denkschule der Geschichte.
An amerikanischen, aber auch an europäischen Hochschulen werden angeblich Stipendien vergeben, die teilweise Professorengehälter übersteigen.
Allein eine halbe Milliarde Dollar soll von Effektiven Altruist:innen laut investigativer Recherchen [1] in die «x-risk»-Kampagne geflossen sein. Hier geht es um die Ermittlung existenzieller Menschheitsrisiken und die Warnung vor ihnen.
KI-Apokalypse
Was ist laut EA das grösste existenzielle Risiko für die heute lebende Menschheit? Keineswegs die Klimakatastrophe, wie man meinen könnte.
Als grösstes Risiko ermittelten Do-gooders des EA-Netzwerks eine sich verselbständigende KI, die die Menschheit auslöschen könnte.
Wieso investieren Tech-Milliardäre gigantische Summen in die KI-Entwicklung, vor der sie zugleich warnen?
Unterschwellig schwingt womöglich noch eine andere Angst mit: dass in Zukunft tatsächlich alle einen fairen Beitrag zum Gemeinwohl leisten müssen. Dass ausserdem Wachstum neu definiert wird, Technologien intelligent zum Wohl aller eingesetzt werden (statt Jobs zu verdrängen) und «frugaler Wohlstand» ein global anerkanntes Prinzip wird.
Ökonomie des Genug
«Frugaler Wohlstand» bezeichnet laut Wolfgang Sachs eine Ökonomie des Genug. Gemeint ist ein Wohlstand, der nicht durch systematische Üppigkeit oder gar durch Vergeudung auffällt, sondern durch Realismus, nicht-materielle Vergnügungen und Einfachheit.
Dieser Denkansatz ist urchristlich. Der erste lateinamerikanische Papst umreisst den Ansatz in der Enzyklika «Laudato si‘»:
«Wir wissen, dass das Verhältnis derer, die mehr und mehr konsumieren und zerstören, während andere noch nicht entsprechend ihrer Menschenwürde leben können, unvertretebar ist.»
Darum sei die Stunde gekommen, in einigen Teilen der Welt «einen gewissen Wachstumsrückgang zu akzeptieren», damit in anderen Teilen ein gesunder Aufschwung stattfinden könne, unter Rücksichtnahme auf die Schöpfung.
Oder mit Jürgen Moltmann reformiert gesprochen:
«Heute würde Calvin – nehme ich an – bei den Grünen sein. Er hat immer gesagt, der Heilige Geist ist auf die ganze Schöpfung schon ausgegossen und hält alles am Leben.»
Calvin habe eine gerade für heute anschlussfähige Schöpfungslehre entwickelt.
Karacho!
Die Welt dreht sich, bevor es noch schlimmer wird, aber wohl noch eine Weile und sogar schneller wie gehabt.
Neuerdings reicht der kühle Neoliberalismus nicht mehr, dessen Weg viele Leichen pflastern. Der Libertarismus und Anarchokapitalismus – Milei & Trump gestern in Davos – müssen her, karacho!
Totalderegulierung, Totalsteuerdumping, Null-Umweltauflagen.
CEOs aus der Finanz- und Fossilbranche, darunter der TotalEnergies-Chef Patrick Pouyanné, nickten zustimmend. Pouyanné sicherte sich vor laufender Kamera beim US-Präsidenten Fracking-Gas für Europa.
In Mileis Argentinien leben inzwischen mehr als 50 Prozent in Armut. Tendenz: steigend.
[1] Ich verdanke diese Information der Beilage des Philosophie Magazins «Impulse für 2025». Darin greifen gleich zwei Autoren das Thema auf: «Furcht vorm Fabelwesen» von Aurelie Herbelot und Eva von Redeker. Künstliche Intelligenz könnte die Menschheit ausrotten, diese Annahme sei vor allem unter «Effektiven Altruisten» verbreitet. So gerieten die wirklichen Gefahren aus dem Blick (aus: «Freitag»), sowie: Christian Stöcker: «Effektive Accelerationism. Die neue Silicon-Valley-Ideologie ist dunkel und kalt» (aus: SPIEGEL ONLINE). Siehe auch Nirit Weiss-Blatt.
«Proud to pay more!». Meine Analyse anlässlich des Weltwirtschaftsforums in Davos 2024 auf RefLab.
Foto: Pexels Cottombro Studio
2 Gedanken zu „Reichtum wächst. Elend auch.“
Der Artikel bietet eine wichtige Perspektive auf Ungleichheit und Umweltschutz, greift jedoch den Effektiven Altruismus (EA) und wirtschaftliches Wachstum zu einseitig an. EA wird pauschal als systemkonform und kalt rational abgetan, dabei hat der Ansatz bereits erhebliche Fortschritte erzielt, etwa in der Bekämpfung von Malaria. Die datengestützte Priorisierung begrenzter Mittel ist keine „Ignoranz gegenüber dem Kapitalismus“, sondern pragmatisch – insbesondere in einer Welt knapper Ressourcen. Der Artikel unterschätzt hier den Wert von Effizienz.
Auch die Kritik am Wachstumsfokus greift zu kurz. Wirtschaftliches Wachstum hat in den letzten Jahrzehnten Milliarden Menschen aus der Armut geholt. Ohne Wachstum fehlen die Mittel für soziale Umverteilung oder nachhaltige Technologien. Ein „Wachstumsrückgang“, wie der Artikel fordert, könnte gerade einkommensschwache Länder härter treffen und bestehende Ungleichheiten verschärfen.
Zudem zeigt sich eine problematische Verengung auf sichtbare Krisen wie Klimawandel und soziale Gerechtigkeit. Langfristige Risiken, etwa durch unkontrollierte Künstliche Intelligenz, werden vom EA nicht aus reiner Spekulation thematisiert, sondern aufgrund ihres potenziell existenziellen Schadens. Die Priorisierung solcher Gefahren bedeutet nicht, andere Probleme zu ignorieren, sondern weitsichtig zu handeln.
Schließlich wirkt die romantisierte Idee eines „frugalen Wohlstands“ unrealistisch. Wirtschaftliche Einschränkungen in reichen Ländern sind politisch schwer umsetzbar und könnten global zu neuen Machtverschiebungen führen. Stattdessen sollte man Innovationen und individuelle Verantwortung stärker in den Fokus rücken, um systemischen Wandel voranzutreiben.
Der Artikel liefert wertvolle Anstöße, vernachlässigt jedoch die Notwendigkeit eines pluralistischen Ansatzes: Umverteilung, Wachstum, Nachhaltigkeit und technologische Weitsicht sind keine Gegensätze, sondern sollten gemeinsam verfolgt werden, um langfristig soziale und ökologische Ziele zu erreichen.
Danke für ihre Darstellung und Analyse. Sie haben Recht: Wohlstand wächst. Bereits 2010 lebte die Hälfte der globalen Mittelschicht in der Nordhemisphäre, die andere Hälfte im Süden. Die sieben bedeutendsten Schwellenländer sind heute wirtschaftlich stärker als die Gruppe G-7. Aber die «Grenzen des Wachstums» bleiben Grenzen. Wir erleben aggressive Extraktion (Fracking) und auch wieder verstärkt Rohstoffkriege (Kongo und Ukraine verfügen über Seltene Erden). Aus der Perspektive der Naturausbeutung sind heute alle Nationen Entwicklungsländer – die “entwickelteren” sogar noch stärker.
Es gibt Ansätze, Wachstum und Fortschritt neu zu definieren, beispielsweise im Sinne von Wohlbefinden (Gesundheitsversorgung, Bildung etc.). Bedenkenswerte Ansätze, zu denen beispielsweise die Publikation “Pluriversum. Ein Lexikon des guten Lebens für alle” Anregungen gibt (2019 in Indien erschienen und seit 2023 auf deutsch erhältlich).