Less noise – more conversation.

Die Revolution beginnt aus Versehen

«Sie hat ja gar keinen Helm an», sagt ein kleines Mädchen, das hinter mir am Veloständer vorbeigeht. Es klingt nicht vorwurfsvoll, sondern beeindruckt. Als hätte das Kind gerade entdeckt, dass man nicht sofort tot umfällt, wenn man sich ohne Helm aufs Velo setzt.

Der Vater starrt mich an. Ich habe seinem Kind gerade die Tür zur Rebellion geöffnet. Ich bin schuld, falls sein Mädchen irgendwann ein Schädel-Hirn-Trauma erleidet.

Das war vor zwei Wochen. Seither trage ich wieder Helm.

Die Worte eines fremden Mädchens haben mein Verhalten verändert. Es scheint, als könnten Worte doch mehr bewegen als ich dachte.

Ausgeleierte Worte

Als Pfarrerin und Texterin sind Worte meine Werkzeuge: Gesprochen, gelesen, gebetet versuchen sie Gemüter zu kneten und Gemeinschaften zu schaffen. Sobald ich aber einen Fuss in die Klimabewegung setze, verschwindet mein Vertrauen in die Macht der Worte.

Der Satz «Wir müssen mal aufhören, so viel zu reden und mehr tun!» fällt bei uns Klimabewegten fast so oft wie das Wortspiel Ölbert Rösti.[1] «Tun» bedeutet dann meistens «einen Kleidertausch organisieren» oder «einen Essensreste-Kühlschrank im Quartier aufstellen».

Keine Demos mehr! Keine Vorträge mehr! Taten! Muss ich mich von meinen Lieblingswerkzeugen verabschieden?

Worte wählen Menschen

Bis vor kurzem glaubte ich das. Doch neben dem Mädchen am Veloständer hat auch etwas anderes meinen Glauben an Worte wieder erweckt: Das globale Wahljahr 2024.

In keinem anderen Jahr der Weltgeschichte gehen so viele Menschen an die Urne wie 2024.

Vom Inselstaat Tuvalu bis Indien, von Südafrika bis Europa wählt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung ihre parlamentarische und präsidentielle Vertretung.

Bei uns in der Schweiz stehen zwar keine Wahlen an, aber klimabezogene Abstimmungen (z.B. Energiegesetz oder Biodiversitätsinitiative). Worte bestimmen, wer oder was gewählt wird. Worte von Freund:innen in meinem Insta-Feed. Worte von Arbeitskolleg:innen in der Kaffeepause. Worte von Podcaster:innen in meinem Ohr. Worte wählen Menschen. Und die richtigen Menschen können innerhalb von sieben Monaten die Regenwaldabholzung in Brasilien halbieren oder Paris in eine Fahrradstadt verwandeln.

Fakten sind stumpf geworden

Darum sollten wir nicht nur tun, sondern vor allem reden.

Aber oft habe ich das Gefühl, dass zum Thema «Klima» längst alles gesagt ist. Fakten sind stumpf geworden. Deshalb versuche ich, meine Fragen zu spitzen. «Wie geht es dir, wenn du an die Klimakrise denkst?» , «Worauf freust du dich, wenn wir die Klimakrise überwunden haben werden?» oder «Betest du fürs Klima?»

Worauf freust du dich?

Vielleicht ist es pastorale Naivität, vielleicht hartnäckiger Optimismus, aber ich glaube tatsächlich, dass uns ehrliche Gespräche weiterbringen. Wenn ich offenlege, wovor ich Angst habe, wo ich mich schuldig fühle und was mich enttäuscht, dann verwandelt sich ein Argumentationskrieg vielleicht in ein gemeinsames Ringen für, ja, eine bessere Welt.

Und wenn wir schon bei Ehrlichkeit sind: Meine Bekehrung zur Velohelmträgerin wird wohl nicht ewig halten. Falls mich wieder mal jemand ohne Helm sieht, freue ich mich über jedes Wort, das mein Gewissen beunruhigt.

[1] Der Bundesrat Albert Rösti war jahrelang Präsident von Swissoil und präsidiert noch immer Auto-Schweiz.

Am 9. Juni 2024 wird in der Schweiz über ein Bundesgesetz für eine sichere Stromversorgung abgestimmt.

Foto von Justin Luebke auf Unsplash

2 Kommentare zu „Die Revolution beginnt aus Versehen“

  1. Danke liebe Anna. Deine kurzen Gedanken beunruhigen mich immer wieder in guter Weise.
    Ja, als Überlebender der helm- und sicherheitsgurten-losen Zeit vertraue ich auch immer noch dem Gespräch.
    Zu deiner Frage: Nein, fürs Klima bete ich nicht. Ich bete in der Hoffnung, dass dieser Blick nach „Oben“ mein Verhalten ändert, und Gott vielleicht auch diverse „Ölberts“ zu einer Verhaltensänderung verlockt.

    1. Das freut mich, lieber Felix! Beunruhigen tue ich gerne.
      Ich verstehe dich so, dass du lieber für Menschen (und menschlichen Gesinnungswandel) betest, als für ein bestimmtes globales Resultat. Ich glaube auch, dass es im Kern um diese Herzens- und Verhaltensänderung geht. Und wenn die kleinen und grossen „Ölberts“ ihr Verhalten überdenken, freut sich bestimmt auch das Klima.

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