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 Lesedauer: 4 Minuten

Still wie ein See

Nach jüdisch-biblischer Vorstellung ist das Blut oder die Kehle Sitz der Nefesch. Sie ist Symbol des bedürftigen und begehrenden Menschen. Endet das Leben, kehrt sie laut Überlieferung zu Gott zurück. Nefesch wird oft als Seele übersetzt.

In ein anderes Bedeutungsfeld als mit Nefesch (Atem, Kehle, Lebenskraft) tauchen wir aber mit dem deutschen Begriff «Seele» ein.

Eine gängige Herleitung von Seele lautet: «vom See kommend».

Die Vorstellung dahinter ist, dass am anderen Ende des Sees, also auf seiner Unterseite, ein Seelen- oder Totenreich existiert. In germanischen Mythen gibt es für ein derartiges Schattenreich allerdings kaum Belege. Anders im finno-ugrischen Raum: Dort gibt es Göttinnen des Nebels und der Finsternis, die im oder am Wasser wohnen. Sie wachen über das Leben, den Tod und die Liebe.

Eine popularisierte Version dieser Vorstellung findet sich in dem Fantasy-Bestseller «Die Nebel von Avalon» von Marion Zimmer Bradley. Diese adaptierte die keltische Artus-Sage, wo es ähnliche Motive gibt.

Der Seelengrund ist ruhig

Am Bild der Seele als vom See kommend oder dem See zugehörig gefällt mir die Tiefe der Metaphorik. Von tiefen Metaphern sprechen wir bei existenziellen Bildern.

Seele ist nicht nur etymologisch von See ableitbar, sondern viele denken bei Seele an etwas, das Tiefe besitzt; dass sich, ähnlich wie Wasser, ausdehnen (in der Freude) oder zusammenziehen (im Unglück und Leiden) kann.

In der Meditation stellen wir uns Seele intuitiv als stiller See vor.

Ein Komplementärmediziner gab mir in einer Krankheitsphase, in der mich Verzweiflung ergriffen hatte, dieses stärkende Bild mit auf den Weg:

«Auf der Oberfläche der Seele kann es Stürme geben, Schiffsbrüche sogar. In der Tiefe der Seele aber kann es dennoch still sein.»

Der Empfindung des stillen Seelengrundes könnte die Vorstellung eines ewigen, unverbrüchlichen und mithin unsterblichen Seelenteils entspringen. Eine Vorstellung, die es auch schon in vorchristlicher Zeit gab.

Eine andere mögliche Ableitung aus dem Ur- oder Indogermanischen verbindet Seele als Totenseele mit am Schlachtfeld gefallenen Soldaten. Damit war ein Glaube an ein heldenhaftes Weiterleben nach dem Tod verbunden. Derartiges findet sich auch in der Vorstellung des Märtyrertodes.

Ein unerklärtes Tabuwort

Schliesslich ist auch ein Bedeutungsspektrum ähnlich wie bei Geist möglich: Seele als Schreckgespenst oder Wiedergänger.

Wir nähern uns hier dem Assoziationsfeld von Halloween an.

Das aus dem Germanischen stammende deutsche Wort Seele gilt in der Sprachwissenschaft als bisher unerklärtes Tabuwort. Das heisst, es stand für etwas anderes, war eine Umschreibung für etwas, dass vielleicht nicht aussprechbar war. Wir wissen also nicht genau, was bei dem Wort mitschwang, bevor es von christlichen Übersetzern beispielsweise zur Übersetzung von Nefesch herangezogen wurde.

Mit ziemlicher Sicherheit aber lässt sich sagen: Seele bezeichnete ursprünglich die Totenseele des Menschen; erst später, im späten Mittelalter, wird der Begriff auch auf Vitalseelen von Tieren übertragen.

Die Seelenlehre und der Glaube an eine unsterbliche Seele haben sich wohl an Gräbern geliebter Menschen herausgebildet.

An Karfreitag stehen wir Christ:innen immer wieder von Neuem unter dem Kreuz, vor dem niederschmetternden Bild des gewaltsamen Todes des allersanftesten Menschen.

Wenn ich mit meiner Seele rede, verbinde ich mich in irgendeiner Form auch mit einer jenseitigen Welt; wie immer sich diese auch denken lässt.

Unsere Seele, ein Nichts?

Daneben existiert der deutsche Begriff Seele auch in verschiedenen Handwerken. Er bezeichnet dort ein Nichts, eine Leerstelle oder einen Hohlraum. Zum Beispiel den Hohlraum im Inneren von Seilen. Auch der Hohlraum von Gewehrläufen wird als Seele bezeichnet.

Ein Hohlraum ist auch unsere Kehle, durch die der Atem strömt, Ruach: Geist oder auch Seele.

Wenn Seele das universell Verbindende ist, braucht es nicht zu verwundern, dass sie empirisch nicht auffindbar ist. Dann existiert sie vor allem in den Relationen, den Beziehungen. Dann ist Seele ein notwendiges Nichts, ohne das alles nichts ist.

Im vierten und letzten Teil der Serie geht es in einer Woche um das freche Seelenfünklein.

 

Seelenflunkern mit Johanna Haberer: Um das Thema Seele geht es auch in diesem Podcast: eine TheoLounge mit Johanna Haberer («Unter Pfarrerstöchtern»), Andy Loos und mir, aufgenommen beim Podcastfestival des RefLab «Expedition Wirklichkeit» Anfang März 2024 in Zürich.

Foto von Darya Sannikova, Pexels.

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