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Seniorinnen für alle

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat den «Klimaseniorinnen» Recht gegeben: Ein Land müsse seine Bevölkerung vor den Folgen des Klimawandels schützen, die ihr Leben bedrohen.

Eine Genugtuung und ein Hoffnungsschimmer für alle Menschen, die sich aktiv für den Klimaschutz einsetzen und die ihre Anliegen regelmässig hinter die Interessen der Wirtschaft zurückgesetzt sehen.

Das Urteil wird international als bahnbrechend und als historisch wahrgenommen: CNN etwa bringt die News auf der Startseite. Es ist das erste Mal, dass ein Gericht festhält, dass Klimaschutz ein Menschenrecht ist (vgl. NZZ-Interview mit Völkerrechtsprofessorin Helen Keller).

Doch das Urteil des EGMR ist noch in zweiter Hinsicht bemerkenswert: Es spricht älteren Frauen Recht zu.

Ältere Frauen sind die unsichtbarste Bevölkerungsgruppe in unserem Kulturraum. Und wer unsichtbar ist, kommt weniger zu seinem – bzw. ihrem – Recht.

Ältere Frauen sind unsichtbar – mit fatalen Folgen

«Bei der Umsetzung von Menschenrechten werden ältere Frauen nicht gut bedient, weil sie aufgrund der Mehrfachdiskriminierung oft durchs Raster fallen.»

«So haben sie beispielsweise beim Zugang zur Gesundheitsversorgung oder zu den Sozialsystemen große Probleme.» So Claudia Mahler, deutsches Institut für Menschenrechte.

U. a. äussert sich dies in medizinischer Forschung, die bis vor kurzem die Unterschiede zwischen den Geschlechtern wenig beachtete. Das typische Beispiel für die Notwendigkeit von gendersensibler Medizin ist die höhere Sterberate von Frauen nach Herzinfarkten: Weil die Symptome anders sind als bei Männern, werden Infarkte zu spät erkannt und behandelt.

Ein weiteres Beispiel für die Ungerechtigkeit gegenüber älteren Frauen ist die «Rentenlücke» (Gender Pension Gap), und dass Frauen im Alter doppelt so häufig von Armut betroffen sind wie Männer (Quelle).

Die Klimaseniorinnen führen auch an, dass Frauen laut einem WHO-Bericht von den Folgen der Klimaerhitzung gesundheitlich noch stärker betroffen sind als Männer.

Frauen wird nicht zugehört…

Dass die Anliegen der Klimaseniorinnen in der Schweiz nicht ernst genommen wurden, was jetzt vom EGMR gerügt wurde, spricht in dieser Hinsicht Bände.

Einmal mehr wird deutlich: Frauen wird oft einfach nicht zugehört.

Das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) trat auf die Eingabe des Vereins nicht ein. Dann wiesen die höheren gerichtlichen Instanzen Beschwerden gegen dieses Nichteintreten ab.

Wissenschaftliche Erkenntnisse bezüglich des Klimawandels seien ausser Acht gelassen worden, befindet nun der EGMR. Die Gerichte hätten nicht überzeugend erklären können, warum die Beschwerde nicht behandelt wurde.

Und: Die Schweiz habe zu lange zu wenig unternommen, um sich für die notwendige Erreichung der Klimaziele einzusetzen.

…oder sie werden lächerlich gemacht

Dass manche Politiker den Entscheid des EGMR nun als «lächerlich» bezeichnen, führt diese Unsichtbarmachung fort: Sogar wenn ein Gericht ihren Anspruch bestätigt, werden ältere Frauen nicht ernst genommen, die belegen, dass ihr Leben von der Klimaerhitzung akut und überdurchschnittlich bedroht ist.

Diese Lächerlichmachung führt eine jahrhundertelange misogyne (frauenfeindliche) Tradition fort, die sich in Sätzen äussert wie:

«Man findet alte Frauenzimmer unerträglicher, weil sie schlechtere Eigenschaften an sich haben als alte Männer.»

Denn sie könnten «weniger unterhalten und den Abgang ihrer Annehmlichkeiten nicht durch Weisheit und Tugend ersetzen.» Johann Samuel Patzke, «Der Greis».

Indem sie klagen, sorgen sie für das Recht anderer

Paradoxerweise tun die Klimaseniorinnen, indem sie ihr Recht einklagen, auch das, was Frauen traditionell immer getan haben: Sie setzen sich für andere ein.

Auf seiner Website schreibt der Verein:

«Mit dem Fokus auf die nachgewiesene besondere Betroffenheit von uns älteren Frauen vergrössern wir die Erfolgschancen unserer Klage, was letztlich allen nützt.»

Und weiter: «Da wir im Norden zu den Hauptverursacher:innen der globalen Erwärmung gehören, tragen wir auch eine spezielle Verantwortung gegenüber denjenigen Teilen der Welt, die unter Dürren, Überschwemmungen und Wirbelstürmen zu leiden haben.»

Ein Sieg für alle Generationen

Der Behauptung, dass heute die Solidarität zwischen den Generationen fehle (zuletzt bei der Abstimmung über die 13. AHV-Rente laut geworden), wurde damit ein Gegenbeispiel gesetzt. Verbände und Vereine im gesamten europäischen Raum haben nun in Sachen Klima grundsätzlich Zugang zu Gerichten.

Ob die Klimaseniorinnen sich als Feministinnen verstehen, ist nicht bekannt. Aber ihr Einsatz und das heutige Urteil können als Beispiel dafür gewertet werden, dass der Einsatz für Frauenrechte allen zugute kommt, ungeachtet von Gender, Herkunft und Alter.

Rosmarie Wydler-Wälti, Co-Präsidentin der Klimaseniorinnen: «Dieses Urteil ist nicht nur ein Sieg für uns KlimaSeniorinnen. Unser Sieg ist ein Sieg für alle Generationen.»

 

Zum RefLab-Dossier «Climate Chance»

Foto: © Greenpeace / Shervine Nafissi

10 Kommentare zu „Seniorinnen für alle“

  1. burkhard Schmalstieg

    Danke für diesen Artikel.
    Vielfältig recherchierter Überblick, sachlicher Tonfall, der auf Distanz bleibt, und nachvollzierbahre Schlussfolgerungen; z.B.:

    „Ob die Klimaseniorinnen sich als Feministinnen verstehen, ist nicht bekannt. Aber ihr Einsatz und das heutige Urteil können als Beispiel dafür gewertet werden, dass der Einsatz für Frauenrechte allen zugute kommt, ungeachtet von Gender, Herkunft und Alter.“

    Wohltuend, dass dieses Thema hier auf RefLab, sichtbar wird. Für mich ein Referenz-Artikel.
    LG
    Burkhard

  2. Dieser Beitrag zu Urteil der klagender Seniorinnen entsetzt mich.
    Diese Gruppe wird von Greenpeace politisch vorgeschoben, finanziert, betreut. Die wichtigsten gültigen Menschenrechte sind:
    Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Gleichheit vor Gericht, Verbot der Folter, Schutz des Leben.
    Schutz von sommerlicher Hitze gehört keinesfalls dazu – dies wäre eine Verhöhnung der echter Menschenrechte.
    Es gehört zur Eigenverantwortung der Einzelner, sich zu schützen vor Hitze oder Kälte. Im hiesigen Sommern sind die Badis, See- und Flussbäder voll von Seniorinnen, die Zeit haben und ihre Gesundheit mit Freude+Genuss pflegen – in der Sonne wie im Schatten.
    In der direktdemokratischer Schweiz entscheiden die Bürger und kein Gericht die Gesetzgebung. Keinesfalls sehe ich mich vertreten von dieser aktivistischer Gruppe.

    1. Ihr Kommentar entsetzt wiederum mich:
      1. Was „Schutz des Lebens“ bedeutet und beinhaltet, hat nur am Rande damit zu tun, sich warm anzuziehen oder in der Badi abzukühlen. Was übrigens längst nicht alle können, schon gar nicht global gesehen.
      2. Wenn Greenpeace und andere Organisationen und Einzelpersonen sich nicht für Klimaschutz einsetzen, können Sie Ihre diversen Freiheiten und „echten“ Menschenrechte noch viel früher verdorren sehen, sofern sie nicht vom Sturm davongetragen oder überschwemmt werden…

    2. Liebe Eva Pauli
      Jeder Beitrag zu jeden Thema interessiert mich sehr und lässt mich nachdenken. In diesem Sinne auch Ihrer – danke.
      Was mich aber bedrückt, ist, wenn ideologische Haltungen und Gedanken vom eigentlichen Problem ablenken. Vielleicht habe Sie in ihrem Sinne ja auch recht, ich weiss es nicht. Anstatt anzugreifen, wäre es doch sinnvoller über das eigentliche Problem nachzudenken und zu überlegen, was diesen Klimaseniorinnen wichtig ist. Denn darin haben diese Frauen recht. Wir haben offensichtlich die Möglichkeit unseren Lebensraum zu zerstören. Und das beschäftigt mich! Bringen uns Feindschaften und Diskriminierung weiter, als gegenseitiges Akzeptieren einer Ansicht oder eines Engagements?
      Was in der Schweiz, in Europa und auf der ganze Welt passiert, bewegt mich sehr, vor allem für die Zukunft meiner Kinder und Kindeskinder. Ich bin jetzt 75 Jahre alt, ein Mann, und könnte denken, dass mich das alles nicht mehr betrifft. Es wäre aber die Lüge meines Lebens und die Verleugnung meines Lebenssinnes. Wir helfen niemandem, wenn wir uns bekämpfen und auf juristische Fragen ablenken. Wir müssen eher lernen zu verstehen, zusammen nachzudenken und zusammen zu handeln.
      Ich hoffe, dass ich Ihnen nicht zu nahe trete und Sie mich verstehen – Danke!

      1. Lieber Rene H.Bartl
        mit Interesse habe ich Ihren Beitrag gelesen – hier einige Ergänzungen zu Ihren/meinen Betrachtungen.
        Der Hintergrund der „Klimaseniorinnen“, die Organisation Greenpeace vernichtet für mich ihre Glaubwürdigkeit, indem sie nicht autonom+echt sind.
        Auch finde ich die extremfeministischen Äusserungen, wie „ältere Frauen sind unsichtbar“ „Frauen wird nicht zugehört“ in der heutiger Zeit einfach grob falsch. In der Medizin, Jurasstudium, Schulwesen etc. sind Frauen in der Mehrheit, zum Beispiel im Hochbaudepartement Zürich sind alle Führungspositionen mit Frauen besetzt, etc.
        Auch sind ältere Frauen nicht per se speziell bedroht von der Sommerhitze. Die einfachsten Verhaltensregeln sind doch bekannt: im Schatten bleiben, viel trinken etc. Gleichzeitig fühlen sich viele ältere Frauen( eigentlich jedes Alters) sehr wohl im Sommer und sind in grosser Zahl in den Badis , am See etc. und pflegen ihre Gesundheit und Lebensfreude mit schwimmen, sonnenbaden etc. Alleine, mit Freundinnen, Enkeln. Ich bin 91 Jahre alt, schwimme seit Kindheit und heute immer noch, habe etliche befreundete Frauen etwa in meinem Alter, die genau so leben und denken. Ich/wir empfinden/beurteilen die „Klimaseniorinnen“ als Vertreterinnen einer Ideologie, vom realem Leben entfernt. Ich „bekämpfe“ diese nicht, akzeptiere aber auch nicht, dass sie sich als Vertäterinnen aufspielen wollen aller älteren Frauen.
        Auch sind sie blind betreffend unsrer direkten Demokratie – hier urteilen/entscheiden nicht fremde Gerichte unsere Gesetzgebung.

  3. Danke, Eveline, dass du diesen Artikel zum Thema Klimaschutz und Frauenrechte veröffentlicht hast. Zuerst wollten wir klagen aus Besorgnis um die nächsten Generationen, aber wir wurden abgewiesen mit der Begründung, für andere könne man nicht klagen. So haben wir unsere Sorge um die Jungen, die uns belastet in den Vordergrund gestellt. All jenen, die uns nun kritisieren kann ich nur sagen, ihr verteidigt wohl eure eigennützigen Interessen.

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