Dein digitales Lagerfeuer
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«Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben» (Unser Vater, Teil 6)

Die Frage der Vergebung beschäftigt viele Menschen tiefgehend. Ist es unsere Pflicht, anderen zu vergeben, egal, was sie uns angetan haben? Jesus scheint das zu bestätigen, indem er seinen Jünger:innen sagt, sie sollen «sieben mal siebzig Mal» vergeben (Matthäus 18,22).

Doch:

Geht es wirklich um eine starre Regel, oder nicht eher um eine Lebenshaltung?

Vergebung als Herzenshaltung, nicht starre Regel

Vergebung ist psychologisch ein komplexer Prozess. Wenn er abgekürzt wird, wenn Vergebung ausgesprochen wird, ohne, dass das Herz bereit ist, führt das nicht zu innerer Freiheit. Vergebung ist keine Pflicht, die Jesus seinen Schüler:innen auferlegt, sondern eine Herzenshaltung.

Es geht darum, nicht auf den eigenen Rechten zu beharren, anderen ihre Schuld ewig nachzutragen, sondern ein weites Herz zu entwickeln.

Das ist etwas, was Übung erfordert und schmerzhaft sein kann. Und es bedeutet nicht, dass man alles hinnehmen muss: Vielmehr eröffnet Vergebung einen Raum, in dem Versöhnung und neues Leben möglich sind.

Gefahr des «Spiritual Bypassing»

«Spiritual Bypassing» beschreibt das Phänomen, sich nicht mit schmerzhaften Realitäten auseinanderzusetzen, sondern diese unter religiösen Vorwand unter den Teppich zu kehren.

«Du musst einfach vergeben»: Wenn jemand dies einer anderen Person nahelegt, ohne die Tiefe des Schmerzes oder die Schwere der Schuld zu erkennen, dann wird Vergebung zur Floskel. Leider hat die Institution Kirche eine lange Geschichte des «spiritual bypassing», etwa beim Thema sexualisierter Missbrauch.

Wahre Vergebung erfordert Hinschauen, Anerkennung der Schuld und oft auch Reue. Hier ein Artikel über die Praxis der Busse (untere Hälfte des verlinkten Blogposts).

Befreiung durch Vergebung – für beide Seiten

Ähnlich wie die Bitte um das tägliche Brot (hier zum Artikel dazu), ist Vergebung etwas, was Leben ermöglicht. Noch darüber hinaus: Der Theologe Gerhard Ebeling schrieb, «Im Unterschied zu dem, was zum Leben notwendig ist, deute Vergebung der Schuld auf das, was zum Sterben notwendig ist.»

Das griechische Verb, das in diesem Kontext verwendet wird, wird mit «lassen» übersetzt (ἀφίημι). Es kann bedeuten, jemandem, der friert, den eigenen Mantel zu überlassen. Es kann eine Aufforderung sein: «Lasst uns gehen!». Das Verb kann «zulassen» bedeuten, «unterlassen», und im Kontext von Vergebung vielleicht am ehesten: «loslassen».

Vergebung kann frei machen. Sie erlaubt, loszulassen, was einen belastet und daran hindert, weiterzugehen. Das ist oft ein langer Prozess, der Unterstützung und manchmal auch professionelle Begleitung braucht.

Trotzdem:

Die Verheissung bleibt bestehen: Wer vergeben kann, findet inneren Frieden.

Für die Person, die Vergebung erfährt, kann dies erst recht gelten.

In der einen Variante des «Unser Vater»-Gebets, bei Matthäus 6,12, wird für «Schuld» das griechische Wort für finanzielle Schulden verwendet (ὀφείλημα), während Lukas ein Wort für moralische Schuld gebraucht (ἁμαρτία, Lukas 11,4).

Geldschulden können einen Menschen in eine Abwärts-Spirale bringen. Mahnungen, Betreibungen, Verlust von Wohnung, Arbeitsplatz und sozialem Umfeld. Wem Schulden erlassen werden, kann neu anfangen – mit diesem Bild arbeitet der biblische Text.

Die Bitte um Vergebung durch Gott

Nun geht es in dieser Zeile des Vaterunsers aber nicht primär um den Auftrag an Menschen, Vergebung walten zu lassen – sondern um die Bitte um Vergebung durch Gott. Fehler, die man im Leben getan hat, können schwer auf der Seele lasten. Anders als Geldschulden kann man seelische Schulden nicht einfach abzahlen.

Jesus hat mit der Geschichte vom «verlorenen Sohn» ein Gleichnis erzählt, in dem Vergebung durch Gott treffend beschrieben wird. Hier kannst du die Geschichte nachlesen (Lukas 15,11–32).

Gott wird dort als Vater beschrieben, der seinen Sohn mit offenen Armen empfängt, nachdem dieser ausgezogen ist und sein Leben ruiniert hat.

Manche Fehler haben bittere Konsequenzen, die auch Vergebung nicht ungeschehen machen kann. Doch Vergebung ermöglicht, nochmals neu anzufangen. Egal, wie gross die Schuld ist – Gottes Vergebung steht immer offen.

Wie ein weisses Blatt Papier

Ich stelle mir vor, dass Gott zu mir sagt:

Du bist mir wertvoll. Du sollst nicht mehr darunter leiden, was du falsch gemacht hast. Ich nehme dir die schwere Last ab und stärke dir den Rücken. So kannst du von dort aus, wo du jetzt bist, frei in die Zukunft schauen.

Was denkst du über Vergebung? Fällt sie dir leicht oder schwer? Teile deine Gedanken gerne in den Kommentaren!

 

Mit Janna Horstmanns meditativem Text «Und vergib uns unseren Sturm» kannst du diese Zeile noch poetisch auf dich wirken lassen. Am Ende der Podcastfolge zu diesem Artikel (siehe Box ganz oben) liest sie dir den Text vor.

Das bekannteste christliche Gebet: «Unser Vater» oder «Vaterunser». In dieser Staffel von «Unter freiem Himmel» gehen wir es Zeile für Zeile durch: Was steht da genau, was sind unterschiedliche Interpretationen und was bedeutet es für uns, heute? Am 11. Februar erscheint der nächste Blogpost in dieser Reihe, parallel zur Podcastfolge und zum Video, zur nächsten Zeile des Gebets: «Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen».

Disclaimer: Dieser Blogartikel wurde mit Unterstützung von ChatGPT auf Basis des Podcast-Transkripts erstellt. Die Autorin hat den KI-Entwurf danach eingehend überarbeitet.

 

Literatur zum Unser Vater (Auswahl): 

Artikel WiBiLex zum Unser Vater

Gerhard Ebeling, Vom Gebet: Predigten über das Unser Vater, Tübingen 1963 (in Bibliotheken oder antiquarisch)

EKS (Hrsg.), Rede und Antwort stehen. Glauben nach dem Unser Vater, Zürich 2014

Alle Beiträge zu «Unser Vater»

1 Gedanke zu „«Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben» (Unser Vater, Teil 6)“

  1. David Steindl-Rast beginnt das «heisse» Thema Schuld und Vergebung mit dem täglichen Brot: «Vergib uns unsere Schuld.» Schuld könnte mir an dieser Stelle im Vaterunser ganz von selbst auf die Zunge kommen. Schuld hat ja etwas zu tun mit der Scham, die ich fühle, wenn ich ums tägliche Brot bitte und weiss, dass gleichzeitig Kinder hungern. Du schenkst uns Brot, damit wir es teilen, unsre Gesellschaft aber bleibt es den Hungernden schuldig. Bei «Schuld» denken wir ja meistens an die persönliche Schuld, wenn wir ein Gesetz übertreten. Aber «Schuld» will nicht so sehr als Gesetzesübertretung verstanden werden, sondern meint vor allem unser Schuldigbleiben andren gegenüber, wenn wir ihnen gerechterweise etwas schulden.

    Wenn wir Schuld auf einen blossen Verstoss gegen Vorschriften, einengen, machen wir es uns leicht, denn Gesetzesparagraphen lassen sich oft geschickt durch Schleichwege umgehen. Wenn Gerechtigkeit aber gerechte Verteilung des uns Gegebenen bedeutet, dann klagt unser Herz uns an, wo anderen das Nötigste zum Leben vorenthalten wird. Unser Herz lässt sich nicht so leicht betrügen. Lass mich also meine Verschuldung an allen, denen ich etwas schuldig geblieben bin, klar erkennen, eingestehen und, so gut ich kann, wiedergutmachen. Amen.

    «Vergib uns unsere Schuld», Vater, und lass uns eingestehen, worin sie eigentlich besteht, denn das ist schon der erste Schritt zu Vergebung. Du willst, dass wir alles, was du uns schenkst, gerecht miteinander teilen. Am Teilen liegt dir. Teilen und Vergebung sind eng miteinander verflochten. So wie dein gerechtes Austeilen nur ans Ziel gelangt, wenn wir miteinander teilen, so kommt auch deine Vergebung nur ans Ziel, wenn wir einander vergeben. Eine Welt gerechter Güterverteilung und allgemeiner Vergebung von Schulden und von Schuld, das wäre eine Welt voller Fülle des Friedens – das wäre dein Reich und das Ziel deines Willens, wie im Himmel so auf Erden. Lass uns dieses Ziel so brennend ersehnen, dass wir uns auch ganz konkret auf den Weg machen. Denn wo ein Wille ist, da ist ein Weg. Amen.

    «Wie auch wir vergeben» – wird anderen und uns selber zeigen, wie brennend ernst es uns ist mit dem Vaterunser als Ganzem. Wir heiligen deinen Namen als Vater im Himmel dadurch, dass wir in deinem Namen vergeben – im Lichte deines Vaternamens also und mit der Herzenswärme, die uns als Kinder im Gotteshaushalt deines Reiches verbindet. Nur so erfüllen wir deinen Willen: Wir vergeben auf Erden, wie du im Himmel vergibst.

    Aber nur glühende Begeisterung für deinen Willen kann Anschuldigung in Vergebung verwandeln, so wie erst glühende Hitze Sauerteig in Brot verwandelt. Von diesem Licht, dieser Wärme, dieser Glut sagt Jesus: «Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen und wie ersehne ich, dass es schon brennt» (Lukas 12,49) Unser guter Wille genügt da nicht. Mögen unsre Herzen brennen in deinem Heiligen Geist! Amen.»

    Jetzt liegt es auf dem Tisch: Vergebung ist das schwierigste Thema im Vaterunser – für mich. Geprägt in einer Zeit mit autoritären Gesellschaftsformen – der Mahnfinger, der strafende Gott war nie weit. Ein Gott der straft, aber «Liebe deine Feinde!» von mir verlangt, ein solcher Gott ist nichts für mich. Obschon Jesus predigte: «Ihr habt gehört, dass den Alten gesagt ist: «Auge um Auge, Zahn um Zahn». Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.» (Mt 5,38) – Nein danke, wieso auch?

    Eine befriedigende Antwort fand ich erst in der Vedanta-Philosophie, die die Einheit von Gott, Seele und Universum lehrt. Über diesen Weg fand ich zu meinem Glauben – zur unerschöpflichen Quelle der absoluten Liebe und kann heute mit allen Glaubens-richtungen sehr gut leben, die Liebe und Mitgefühl (vor)leben. Ja, hier fühle ich mich wohl…:-)

    Auch die Philosophen des Vedanta entdeckten die Basis der Ethik. «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst» gibt es auch gute Gründe dafür? Warum soll ich meinen Nächsten nicht verletzen? Sie sagen, dass diese Seele aller Seelen, absolut und alldurchdringend ist und deshalb unendlich. Jede individuelle Seele ist ein Teil der universalen Seele, die unendlich ist. Deshalb verletzt man sich selbst, wenn man seinen Nächsten verletzt.

    «Du bist eins mit dem universalen Wesen, und dadurch ist jede Seele deine Seele und jeder Körper dein Körper. Verletzt du jemanden, dann verletzt du dich. Liebst du jemanden, dann liebst du dich. Wenn du hasst und jemanden verletzt, dann verletzt du dich. Strahlst du Liebe aus, wird sie auf dich zurückfallen.» Ja, wir haben es selber in der Hand. Jede Tat schlägt auf uns zurück. Das Kausalitätsgesetz von Ursache und Wirkung ist unerbittlich. Und trotzdem – Vergebung und Mitgefühl im Alltag zu leben, ist schon nicht ganz einfach. Nun, Theorie und Praxis sind doch zwei Paar Schuhe.

    Verzeihen und um Verzeihung bitten, wie soll ich sonst meinen Zorn, meine Wut, Neid und Frustration jemals überwinden? Wenn ich meinen Eltern, meinen Mitmenschen nicht verzeihen kann, kann ich erwarten, dass mir meine Kinder, meine Nächsten verzeihen können? So geht es mit den Nationen, Kulturen und den verschiedenen Religionen. Vergeben ist ein steiniger Weg, aber wir dürfen nicht aufgeben.

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