In fast 10 Folgen habe ich mich mit dem wohl bekanntesten Gebet der Welt, dem «Unser Vater», auseinandergesetzt. In diesem Artikel fasse ich zusammen, welche neuen Perspektiven sich daraus ergeben haben.
Am Ende jedes Abschnitts findest du den Link zum Beitrag zur jeweiligen Zeile des Gebets, wenn du es genauer wissen möchtest. Dort kannst du entweder die dazugehörige Podcastfolge hören, den Artikel lesen oder dir das Ganze als kurzes Video anschauen.
Hintergrund des Gebets
Was viele nicht wissen: Das «Unser Vater» steht doppelt in der Bibel. Die beiden Versionen im Lukas- und im Matthäusevangelium unterscheiden sich allerdings leicht. Durchgesetzt hat sich die längere Variante aus Matthäus 6,9-13, ergänzt durch ein Gotteslob aus dem Alten Testament (1. Chronik 29,11).
In diesem Wortlaut gehörte das «Unser Vater» schon sehr früh zum Grundbestand christlicher Texte. Es wurde dreimal täglich zum Gebet empfohlen.
Es gibt ähnliche Gebete im Judentum, die etwa aus derselben Zeit stammen, etwa das Qaddisch-Gebet oder das 18-Bitten-Gebet. Teilweise kommen Formulierungen wortwörtlich auch im «Unser Vater» vor. Trotzdem ist das «Unser Vater» inhaltlich weder ein spezifisch jüdisches noch ein spezifisch christliches Gebet.
Zum einleitenden Beitrag «Ein Gebet für alle Fälle»
Unser Vater im Himmel
«Vater» – ein sehr persönliches Bild für Gott. Jesus hat sich beim Vaterunser, in dieser Gebetsanleitung, bewusst für diesen Vergleich entschieden. Hier geht es um eine ganz eigene Beziehung: Es ist eine persönliche Anrede, die grosses Vertrauen ausdrückt.
Schon im Alten Testament wird Gott manchmal mit Eltern verglichen, mit einem Vater oder einer Mutter: «Ich will euch trösten, wie eine Mutter ihr Kind tröstet», heisst es zum Beispiel (Jesaja 66,13).
Bei diesem Vergleich geht es nicht um das Geschlecht Gottes oder um eine biologische Verwandtschaft.
Vielmehr geht es darum, was wir mit guten Eltern verbinden: Liebe, Fürsorge und Erziehung. Für Menschen, die ein schwieriges Verhältnis zu ihrem biologischen Vater haben, kann das entlastend sein. Die Anrede ist Ausdruck für eine Beziehung zu jemandem, dem man vertraut.
Mehr zur Anrede «Unser Vater im Himmel» und 7 Aspekte von Gott als Vater
Geheiligt werde dein Name
Für Christ:innen mag dieser Satz rätselhaft sein, aber im Judentum ist er von zentraler Bedeutung: «Kiddusch Ha’schem», die Heiligung des Namens Gottes, ist ein wichtiger Bestandteil der jüdischen Ethik. Gottes Namen zu heiligen bedeutet, am eigenen Verhalten erkennbar zu machen, wie Gott ist. Wie anders – aber vor allem, wie gut, liebevoll, vertrauenswürdig.
Der Knackpunkt: In der Realität gelingt das nicht immer so. Christ:innen verhalten sich lieblos und unehrlich zu Mitmenschen, umgekehrt gibt es agnostische und atheistische Personen, die enorm liebevoll zu anderen sind.
Gottes Namen zu «heiligen», bedeutet aber auch, im Alltag zu erkennen, wo Gott überall am Werk ist, und das zu benennen.
In der Bibel steht: «Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, ist in Gott und Gott in ihm (oder ihr).» Überall, wo diese Kraft des Guten, Wahren und Schönen spürbar ist, ist Gott am Wirken. Dass wir das sehen, darauf hinweisen und sagen, dass wir darin Gottes Wesen erkennen – auch das ist Teil der Heiligung des Namens Gottes.
Mehr zur Zeile «Geheiligt werde dein Name»
Dein Reich komme
Das «Unser Vater»-Gebet entstand in einer Zeit und Region, in der Kaiser und Könige herrschten. Das Bild des «Königreiches» war also für die Menschen damals verständlich.
Das «Reich Gottes» bildete einen Gegenentwurf zu herrschenden Ordnungen: Gott wurde als gerechter, vertrauenswürdiger König gesehen. Im «Unser Vater» wird gebetet, dass dieses Königreich bald anbricht und die geltenden politischen Verhältnisse mit ihrer Ungerechtigkeit und dem Leid umgestürzt werden.
Auch heute kann es wohltuend sein, für einen solchen Wandel zu beten.
Jesus hat oft Geschichten erzählt, um die besondere Atmosphäre des Reiches Gottes zu beschreiben. Er hat viel über diesen Himmel gesprochen, der jetzt schon überall durchschimmert. (Video und Blogpost dazu hier.)
«Dein Reich komme» ist also auf der einen Seite ein Gebet, dass diese Liebe noch mehr Raum in uns und in der Welt bekommt. Dass dieser Schimmer immer stärker wird, bis das Licht eines Tages alles anstrahlt. Beim Beten halte ich mein Gesicht in die Sonne, lasse mich wärmen von diesem Licht Gottes.
Auf der anderen Seite ist diese Zeile des «Unser Vaters» auch ein Entscheid, Teil dieser neuen Zeit zu sein. Das Licht in die Welt hinaus zu reflektieren, es aktiv in die Welt hinauszutragen.
Mehr zur Zeile «Dein Reich komme»
Dein Wille geschehe
…wie im Himmel, so auf Erden
Zu beten: «Dein Wille geschehe», das bedeutet, die Kontrolle abzugeben. Das fällt schwer, besonders Menschen wie mir, die ihr Leben gern selbst gestalten und planen…
Fehlt deswegen diese Zeile in der kürzeren Version des Gebets im Lukasevangelium? Dazu mehr im ausführlicheren Beitrag…
In dieser Zeile drücken sich Spannungen aus: zwischen Gott und Mensch, Gottes Allmacht und dem eigenen, freien Willen, zwischen dem Wunsch nach Kontrolle und der Möglichkeit, loszulassen. Man befürchtet, dass Gottes Wille nicht dem eigenen entspricht – und zwar in einer Weise, die einen unglücklich machen oder sogar leiden lassen könnte. Dass Gott etwa Leid herbeiführt, um Menschen zu prüfen oder zu strafen.
Jedoch gibt viele Stellen in der Bibel, an denen steht, dass Gottes Wille gut ist: Gott hat Gerechtigkeit und das Wohlergehen aller Geschöpfe im Sinn.
In diesem Vertrauen steht diese Bitte des «Unser Vaters». Wer sie betet, lässt sich hineinnehmen in den Flow der grösseren Kraft, die das Leben trägt.
Mehr zur Zeile «Dein Wille geschehe»
Unser tägliches Brot gib uns heute
Geht es hier um das, was unseren Körper am Laufen erhält, oder was unsere Seele nährt – von geistiger Nahrung bis hin zu menschlichen Beziehungen?
Zwar sind Theologie und Philosophie oft etwas abgehoben, aber die biblischen Geschichten zeigen, dass die alltäglichen menschlichen Sorgen und Probleme Gott wichtig sind. Es ist also plausibel, dass hier mit «tägliches Brot» die ganz einfachen Grundbedürfnisse angesprochen sind: Essen, schlafen, physische und psychische Gesundheit.
Die Bitte um das tägliche Brot drückt aus, dass wir mit Gott über alle Sorgen sprechen sollen, und seien sie scheinbar noch so banal.
Das Alltägliche ist Gott wichtig.
Gleichzeitig habe ich hier auch ein grosses Fragezeichen: Denn natürlich ist diese Bitte keine Bestellung, die dann automatisch erfüllt wird. Sonst gäbe es keinen Hunger mehr auf der Welt. Wenn ich darum bitte, genug zum Leben zu haben, muss ich mich auch fragen, wo ich selbst zur Versorgung anderer beitragen muss.
Gedanken zu diesem Problem gibt’s im Beitrag zur Zeile «Unser tägliches Brot gib uns heute».
Vergib uns unsere Schuld
…wie auch wir vergeben unseren Schuldigern
Oft wird diese Zeile missbraucht, um Menschen zur Vergebung zu zwingen. Sind wir verpflichtet, anderen zu vergeben – egal, was sie getan haben?
Hier wird keine starre Regel kommuniziert, sondern eine Lebenshaltung. Es geht darum, nicht auf den eigenen Rechten zu beharren, sondern Grosszügigkeit und ein weites Herz zu entwickeln.
In der einen Variante des «Unser Vater»-Gebets, bei Matthäus, wird für «Schuld» das griechische Wort für finanzielle Schulden verwendet, während Lukas ein Wort für moralische Schuld gebraucht. Das Bild mit den Geldschulden ist stark: Schulden können einen Menschen in eine Abwärts-Spirale bringen. Mahnungen, Betreibungen, Verlust von Wohnung, Arbeitsplatz und sozialem Umfeld.
Wem Schulden erlassen werden, dieser Person wird eine grosse Last genommen. Mit diesem Bild arbeitet der biblische Text: Vergebung ermöglicht, nochmals neu anzufangen.
Egal, wie gross die seelische Schuld ist – Gott vergibt und sagt:
Du bist mir wertvoll. Du sollst nicht mehr darunter leiden, was du falsch gemacht hast. Ich nehme dir die schwere Last ab und stärke dir den Rücken. So kannst du von dort aus, wo du jetzt bist, frei in die Zukunft schauen.
Mehr zur Zeile «Vergib uns unsere Schuld»
Und führe uns nicht in Versuchung
…sondern erlöse uns von dem Bösen
Die einzige negativ formulierte Bitte im «Unser Vater». Hier tun sich Abgründe auf: Führt Gott Menschen tatsächlich aktiv in Versuchung?
Papst Franziskus schlägt stattdessen vor: «Überlasse uns nicht der Versuchung». Falsch ist diese alternative Übersetzung nicht, zeigt ein Blick in biblische Prüfungs- und Versuchungsgeschichten sowie in den griechischen Grundtext.
Mit «Versuchung» ist nicht in erster Linie die Verlockung zu moralischen Sünden gemeint. Denn solche Fehler, «Sünden», sind im christlichen Gottesverständnis etwas, wogegen man zwar ankämpfen sollte, was Gott jedoch bereits mit einberechnet und überwunden hat.
Was hier angesprochen wird, geht viel tiefer:
Manchmal wird durch Herausforderungen das Vertrauen an Gott grundlegend infrage gestellt – und darum geht es in diesem Gebet. Um Lebenssituationen, die das «Risiko des Unglaubens» enthalten. [1]
Letztlich drückt diese Zeile des «Unser Vater» eine existenzielle Sehnsucht aus: die Sehnsucht danach, dass Gott da ist, wenn es schwer wird. Dass Gott hilft, den Glauben nicht zu verlieren. Dass Gott Zweifel und Klagen hört und aushält.
Deswegen könnte es statt «Führe uns nicht in Versuchung» auch heissen:
«Lass mich bitte nicht alleine, Gott!»
Mehr zur Zeile «Führe uns nicht in Versuchung»
Denn dein ist das Reich
…und die Kraft, und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.
Der Schluss, wie wir ihn heute kennen («Denn dein ist das Reich…»), steht im Neuen Testament nicht da. Er wurde aber nicht einfach hinzugedichtet, sondern steht einfach an einem anderen Ort in der Bibel (1. Chronik 29,11).
Dieser Schluss wurde schon im 1. Jahrhundert als Abschluss des «Vaterunsers» übernommen. Er bildet eine sogenannte «Doxologie», ein Lobpreis Gottes am Ende eines Gebets oder Gottesdienstes.
Manchmal wirkt der Schluss des «Unser Vater»-Gebets wie ein Anhängsel. In der Kirche wird er oft mechanisch heruntergeleiert, als wäre er nicht mehr als eine höfliche Grussformel oder eine Verzierung zum Schluss.
Doch «Denn dein ist das Reich» etc. ist nicht nur ein feierlicher Abschluss: Die Worte geben dem Gebet seinen Rahmen.
Es beginnt mit «Unser Vater» – einer intimen, vertrauensvollen Anrede. Und am Ende wird noch einmal betont, wer dieser Gott ist: Er ist derjenige, dem das Reich, die Kraft und die Herrlichkeit gehören.
Paradox: Die ersten Christ:innen beteten keinen glanzvollen König an. Sondern einen, der seine Macht gerade darin zeigte, dass er sich für andere hingab. Indem er dies freiwillig und aus Liebe tat.
Die Herrlichkeit, die im «Unser Vater» bekannt wird, ist die Kraft dieser Liebe, die sogar den Tod überwindet und neues Leben ermöglicht.
Mehr zum Abschluss des «Unser Vater»
Meditationen zum «Unser Vater»:
Zu den meisten Zeilen des Gebets hat meine RefLab-Kollegin Janna Horstmann einen poetischen Text geschrieben. In der Linkliste unten findest du diese Texte mit dem Zusatz «Unser Vater Meditation». Falls du sie lieber hören magst: Den jeweiligen Text liest Janna am Ende der jeweiligen Podcastfolge bei «Unter freiem Himmel» vor.
Literatur:
Die wichtigsten Bücher und Artikel zum «Unser Vater», die ich für diese Serie gelesen habe:
[1] EKS (Hrsg.), Rede und Antwort stehen. Glauben nach dem Unser Vater, Zürich 2014
Artikel WiBiLex zum Unser Vater
FAMA 2017/4 «Unser Vater» (PDF)
Ganz neu gibt es auch einen «Worthaus»-Vortrag zum Unser Vater im Lukasevangelium.
Foto von Igor Rodrigues auf Unsplash