«Unser Vater im Himmel» – möchtest du gleich reflexartig die Hände falten oder runzelst befremdet die Stirn?
Das 2000 Jahre alte Gebet löst immer noch viel aus. Bei den einen andächtige Stimmung, bei den anderen Irritation. Gott als Vater, als Mann? Und was ist mit Zeilen wie «Führe uns nicht in Versuchung» – was wäre das denn für ein Gott, der die Gläubigen aktiv zu moralischen Fallgruben lenken will?
In der neuen Staffel des Podcasts «Unter freiem Himmel» gehen wir das Gebet Zeile für Zeile durch (am besten gleich abonnieren). In diesem Artikel, wie auch in der ersten Folge der Podcast-Staffel und im dazugehörigen Kurzvideo, erst mal eine Einführung.
In der Kürze liegt die Würze
In den wenigen Worten dieses Gebets steckt enorm viel über das Leben und den Glauben drin; es ist fast wie eine Zusammenfassung aller möglichen Gebete. Perfekt für vielbeschäftigte Menschen, das passt gut in unsere Zeit.
Luther sagte einmal: «Je weniger Wort, je besser Gebet», und der Theologe Gerhard Ebeling schreibt, die wenigen Worte des Vaterunsers seien im Grunde in einem einzigen zu verdichten: «Vater».
Jesus selbst warnt sogar zwei Verse, bevor in der Bibel das Gebet im Wortlaut steht, beim Beten zu viele Worte zu machen. Dabei ging es nicht darum, Gott nicht das Herz ausschütten zu dürfen. Sondern darum, dass beten nicht als Gelegenheit zur Selbstdarstellung genutzt werden soll.
Jesus, der Lehrer
Das «Unser Vater»-Gebet geht auf Jesus Christus zurück. Die Story in der Bibel erzählt, dass Menschen Jesus fragen (ähnlich wie einen typischen jüdischen Lehrer), wie er ihnen empfiehlt, zu beten. Jüdinnen und Juden hatten viele vorformulierte Gebete, freies Gebet war eher die Ausnahme.
Auch Johannes habe seine Jünger beten gelehrt, sagten die Menschen zu Jesus, und sie wünschten sich das Gleiche von ihrem Lehrer. Diese Frage zeigt gleichzeitig, dass sie in Jesus eine besondere Beziehung zu Gott erkannten.
Jesus sprach ihnen also dieses Gebet vor und es wurde mündlich überliefert, bevor es später schriftlich festgehalten wurde. Wahrscheinlich wurde es schon in den ersten christlichen Gemeinden gebetet, bevor es niedergeschrieben war, es stammt also aus der Mitte des 1. Jahrhunderts nach Christus und wurde spätestens gegen Ende dieses Jahrhunderts verschriftlicht.
Zwei Versionen in der Bibel – eine kurze und eine lange
Interessanterweise gibt es zwei Versionen des Gebets in der Bibel: eine im Matthäusevangelium (Matthäus 6,9–13) und eine im Lukasevangelium (Lukas 11,2–4). Die Version im Lukasevangelium ist dabei viel kürzer: Dort fehlt der Anfang «im Himmel», es steht nur: «Vater». Auch die Bitten «erlöse uns von dem Bösen» und «dein Wille geschehe» fehlen.
Es ist unklar, welches die ältere Version des Gebets ist, da beide auf mündliche Tradition zurückgehen. Wahrscheinlich stammt die knappere Anrede «Vater» von Jesus selbst. Die redaktionell geschliffenere ist eindeutig im Matthäusevangelium: Dort gibt es zwei Teile; drei Bitten, die sich auf Gott beziehen, und drei, die sich auf menschliche Bedürfnisse beziehen. Im griechischen Grundtext ist das Gebet sogar leicht gereimt.
Was beim Blick in die Bibel ebenfalls auffällt, ist, dass der Schluss, wie wir ihn heute kennen («Denn dein ist das Reich…»), gar nicht dort steht.
Dieser Abschluss ist eine sogenannte «Doxologie», ein Lobpreis Gottes am Ende eines Gebets oder Gottesdienstes. Dieser Schluss wurde schon im 1. Jahrhundert als Abschluss des «Vaterunsers» übernommen, und zwar nicht einfach frei erfunden, sondern dem Alten Testament entnommen (1. Chronik 29,11).
«Unser Vater» oder «Vater unser»?
Wenn wir schon bei den Varianten sind: Es gibt im Deutschen auch zwei Versionen der Anrede. «Unser Vater» ist die reformierte Version des Beginns; wenn du nicht reformiert bist, sagst du vielleicht «Vater unser».
Eine Hypothese aus diesem Video ist, dass sich der Text je nach Tradition entweder auf den lateinischen oder griechischen Grundtext bezieht – bei der katholischen Kirche auf den lateinischen, bei reformatorischen Kirchen auf den griechischen. Jedoch ist die Wortreihenfolge in beiden Sprachen gleich: «pater noster» bzw. «pater hemon».
Hinzu kommt, dass sich auch die Kirchen aus der protestantischen Tradition unterscheiden: Während Reformierte «Unser Vater» sprechen, lautet der Anfang des Gebets bei Lutheraner:innen und evangelischen Christ:innen «Vater Unser».
Das Rätsel bleibt also ungelöst.
Übersetzung aus dem Aramäischen
Wichtig ist, dass das «Unser Vater» auch im biblischen Grundtext eine Übersetzung darstellt: Umgangssprache zu Jesu Zeiten war Aramäisch, die religiöse Sprache Hebräisch, Griechisch bildete die Sprache der Kultur, des Briefwesens und der Philosophie.
Jesus hat die Menschen auf Aramäisch beten gelehrt.
Die Ansprache «Abba», «Vater», die von Jesus an einer anderen Bibelstelle überliefert ist, ist ebenfalls Aramäisch. Es gibt Rückübersetzungen des bekannten Gebets in diese Sprache, jedoch hat sich in der christlichen Tradition die Übersetzung aus dem Griechischen durchgesetzt.
(Zu anderen Varianten des «Unser Vaters», etwa auf Schweizerdeutsch oder in gendergerechte Sprache, wird es ebenfalls eine Podcastfolge in dieser Staffel geben.)
3x täglich
Das Gebet hat schon sehr früh eine zentrale Rolle für Christ:innen gespielt. Dass es so alt ist, merkt man auch daran, dass es eigentlich nichts Neues im Vergleich zum jüdischen Glauben enthält. Es gibt sogar sehr ähnliche Gebete im Judentum, etwa das Qaddisch-Gebet oder das 18-Bitten-Gebet.
In letzterem findet sich sogar der Satz «Unser Vater im Himmel».
Es gibt neben den Evangelien ein frühchristliches Werk aus dem 1. oder 2. Jahrhundert, in dem das «Vaterunser» vorkommt: die sogenannte «Didaché», eine Art Anleitung zum christlichen Glauben. Dort heisst es, man solle dieses Gebet dreimal täglich sprechen.
Meditatives Gebet für den Alltag
Jede Religion hat ein Gebet oder einen wichtigen Text, den man schon als Kind lernt, sofern man religiös aufwächst. Viele ältere Menschen können das «Unser Vater» immer noch mitsprechen, auch wenn sie ansonsten kognitiv nicht mehr voll da sind. Es ist wie eine Melodie, die sich durch das ganze Leben zieht und tief verankert ist.
Man kann es sogar wie ein Mantra nutzen, um mit Gott zu sprechen, während man meditiert oder betet – etwa, indem man es immer wiederholt oder eine Zeile nach der anderen betet und zwischendurch in Stille verweilt.
Solche verinnerlichten Gebete können auch hilfreich sein, wenn man nicht genau weiss, was man beten soll.
Vielleicht ging es den Menschen damals ähnlich, als sie zu Jesus kamen, und er ihnen das «Unser Vater» vorsprach.
Es ist eine Art Zusammenfassung aller möglichen Gebete – ein paar Worte, mit denen alle etwas anfangen können. Gleichzeitig ist es genau dadurch auch sehr persönlich: Wenn man beim Beten darüber nachdenkt, was es gerade für einen selbst bedeutet – sei es «unser tägliches Brot» oder «wie auch wir vergeben».
Ausblick
Weil in diesem Gebet so viel drin steckt, gehen wir es bei «Unter freiem Himmel» in den nächsten Folgen und Kurzvideos jede Zeile einzeln betrachten: Was steht da, wie ist es gemeint und was bedeutet es heute?
Als Bonus gibt es zu jeder Folge eine kurze Meditation von Janna Horstmann aus dem RefLab. Eine andere Möglichkeit, dieses uralte Gebet heute zu verstehen.
Ich freue mich, wenn du mir einen Kommentar hinterlässt, was dir das «Vaterunser» bzw. «Unser Vater» bedeutet oder welche Fragen du dazu hast, auf die ich in den kommenden Folgen eingehen soll.
Das bekannteste christliche Gebet: «Unser Vater» oder «Vaterunser». In dieser Staffel von «Unter freiem Himmel» gehen wir es Zeile für Zeile durch: Was steht da genau, was sind unterschiedliche Interpretationen und was bedeutet es für uns, heute? Am 15. Oktober erscheint der nächste Blogpost in dieser Reihe, parallel zur Podcastfolge und zum Video, zum Anfang des Gebets: «Unser Vater im Himmel».
10 Gedanken zu „«Unser Vater»: ein Gebet für Vielbeschäftigte“
Ich habe das «Unser Vater» oder «Das Vaterunser» – ein Gebet für alle -, bei David Steindl-Rast neu entdeckt, es hat mein Herz berührt, früher war es einfach ein Gebet auf meinem Lebensweg als Christ. Vorneweg, ich freue mich auf die neue Staffel.
Weil ich nicht an einen persönlichen Gott glaube, kann ich auch «Mutter unser im Himmel» beten oder einfach die «göttliche Liebe» in mir „anrufen“. Aber wichtig für mich, GOTT ist in mir, die Quelle ist in mir, in dir, in jedem Wesen, in den Tieren, in den Pflanzen, in Mutter Erde, in jedem Planeten, im Kosmos, in Raum und Zeit. Das ist meine Basis, eigentlich mein Glaubensbekenntnis. Punkt.
VATER gefällt mir als Botschaft der allumfassenden Liebe, wie sie David Steindl-Rast beschreibt:
«Dass die Glaubenstraditionen, die auf Jesus zurückgeht, Gott mit solcher Betonung «Vater» nennt, unterscheidet sie einerseits von anderen Traditionen, schmiedet aber zugleich ein kräftiges Verbindungsglied zu ihnen. Weil Christen Gott «Vater» nennen, dürfen sie alle anderen Menschen, die ja ebenso Gottes Kinder sind, Brüder und Schwestern nennen – ja, sie werden nicht nur Menschen, sondern alle Geschöpfe als Mitglieder in Gottes Haushalt anerkennen und entsprechend lieben»
Auch nicht ganz einfach, wenn ich an die Verantwortung denke, die sie uns bringt. Also, Fortsetzung folgt …;-)
Lieber Emil, danke für den Kommentar! David Steindl-Rast kenne ich selbst noch fast nicht, kürzlich gab es glaube ich eine Sternstunden-Sendung mit ihm, die ich mal schauen möchte. Klingt aber sehr spannend! Was für mich neu war, ist, dass ein Teil des Unser-Vaters, inkl. der “Vater”-Anrede, stark aus dem Judentum kommt. Es ist mir wichtig, das zu kommunizieren, da es scheinbar christlich vereinnahmt wird. Die Anrede “unser Vater im Himmel” kommt aus dem jüdischen 18-Bitten-Gebet, das vermutlich ein bisschen älter ist als das Unser Vater. Jesus hat das einfach neu betont, aber revolutionär oder neu war es nicht. Liebe Grüsse!
Liebe Evelyne, besten Dank für dein Feedback.
“Credo” von David Steindl-Rast hat mich umgehauen, es fiel – letztes Jahr – in eine Zeit in der ich mich intensiv mit Jesus Christus (als interessierter Laie) beschäftigte. Das zweite Buch «Das Vaterunser» – ein Gebet für alle – war dann das Sahnehäubchen, mit Suchtpotenzial 🙂
Herzliche Grüsse Emil
Toll, dass es mal wieder was von dir gibt. Bin gespannt uber alte und neue facetten. ❤️🌱
Ich suche immer podcasts, die mich vom nachdenken über Gott in eine glaubenspraxis reinfuhren und hab gerade das Gefühl, der könnte eeiner sein.
Liebe:r Eli, so schön, danke für den positiven Kommentar! Dann wird dir bestimmt die Kombi von Wissensvermittlung (von mir) und Meditation (Janna Horstmann) in den kommenden Folgen gut gefallen. Liebe Grüsse!
Zwei Gedanken kommen mir:
Ich merke, dass ich mit dem Wort „Vater“ schon fremdel, weil es in meinem Leben keinen emotionsbesetzten Platz hat. In meiner Familie wurde „Papa“ und „Mama“ gesagt.
Mein „Vater“ – das war eher eine Beziehungs- oder Rollenbeschreibung Dritten gegenüber.
Ich denke, Jesus hat auch „Papa“ gesagt. Und ich spüre, dieses Wort in einem Gebet bringt eine emotionale Nähe zum Ausdruck, die mir im Gebet oft fehlt. Das finde ich eigentlich schade, zeigt mir aber auch, dass ich mich beim Gebet in eine unbegreifliche Sphäre begebe, die sich meinen eigenen Bildern und Emotionen immer wieder entzieht.
Und das andere:
Das Vaterunser ist für mich ein „safe harbour“.
Das Vaterunser geht immer, wenn mir selbst keine Worte kommen oder wenn Stille und Schweigen zu sehr schmerzen. Also besonders in Grenzerfahrungen – etwa wenn mich Trauer zu überwältigen droht.
Dafür bin ich dankbar.
Lieber Ulrich, danke fürs Teilen. Es berührt mich, dass du so einen emotionalen, liebevollen Zugang zum Unser-Vater-Gebet hast. Liebe Grüsse und alles Gute!
Schön, wieder deine Gedanken zu wichtigen Themen zu vernehmen.
Wie du, habe ich den Satz: Führe mich nicht in Versuchung, nicht einordnen können. Ich bete daher: führe mich in der Versuchung. So passt es für mich.
Danke und bis zum nächsten Mal.
Rosmarie
Liebe Rosmarie, danke für den Kommentar!
«Wer mich sieht, sieht den Vater» sagt Jesus Christus.
Nach der Euphorie – ich und mein VATER sind eins – kam die Ernüchterung. Wenn wir alle Eins sind, muss ich alles akzeptieren, was auf dieser Welt abgeht; mit jedem Löli freundlich und fröhlich?
David Steindl-Rast geht aber weiter und erinnert an unsere Verantwortung:
«Vater unser», sagen wir. Dieser Hinweis auf Gemeinschaft gilt also, auch wenn ich ganz allein bete. Das Vaterunser ist immer das Gebet einer Gemeinschaft – einer grenzenlosen Gemeinschaft. Sind nicht alle Lebewesen deine Kinder? Sind wir nicht alle Geschwister untereinander? Es ist viel, worauf ich mich mit diesem Wörtchen «unser» einlasse.
Ich stehe ja nicht nur mit «allen den stillen Geschwistern im Winde der Wiesen» vor dir. So harmlos ist das nicht. Da sind Kreuzottern im Gras, Blutegel im Teich und lästige Stechmücken rundherum. Und ich kann einfach nicht vergessen, dass es auch unter uns Menschenkindern allzu viele gibt, die Gift sprühen, Blut saugen oder mir zumindest lästig fallen. Es kostet Mut, sie alle als Brüder und Schwestern anzusehen und zu behandeln. Ich will es aufrichtig versuchen. Gib mir die Kraft dazu. Amen.
«Vater unser», ja, einige machen es mir wirklich schwer, sie in die Gemeinschaft einzuschliessen, die dieses «unser» voraussetzt. Aber gibt es nicht weit mehr andre, deren Gemeinschaft ich selbst kaum würdig bin? Schwestern und Brüder, die Tag für Tag geduldig tun, wovon ich selbst nur rede, all jene, die im Dienst an den Kranken sich selber gefährden; Gastarbeiter, die, oft selber hungrig und durstig, dennoch uns alle mit Nahrung versorgen.
Wie darf ich es wagen, mich neben sie zu stellen? Nur in grosser Demut. Demut als Bewusstsein aber auch im ursprünglichen Sinn des Wortes als «Dien-Mut» – mutig zu dienen, so gut ich kann. Amen.»
Kann ich, soll ich diesen Weg beschreiten? Bin ich reif für diese Herausforderung? Wie gehe ich mit dieser Verantwortung um? Ich habe keine schlüsselfertige Lösung, aber ich arbeite daran, ich muss alles, woran ich glaube, in die Waagschale werfen.