«Vater» – ein sehr persönliches Bild für Gott. Jesus hat sich beim Vaterunser, in dieser Gebetsanleitung, bewusst für diesen Vergleich entschieden. Hier geht es um eine ganz eigene Beziehung: Es ist eine persönliche Anrede, die grosses Vertrauen ausdrückt.
Ein jüdisches Gottesbild
Dass Jesus Gott als «Vater» anspricht, war für ihn typisch. Er wurde von seinen Nachfolger:innen als «Sohn Gottes» bezeichnet, das hat aber nur indirekt damit zu tun. Vor allem sieht man daran, was Jesus über Gott gesagt hat, und an den Gebeten, die in der Bibel von ihm überliefert sind, dass er eine sehr enge, persönliche Beziehung zu Gott hatte.
Es gibt Menschen, die diese vertrauensvolle Anrede Gottes für revolutionär im damaligen Judentum halten.
Das stimmt so jedoch nicht: Der Satz «Unser Vater im Himmel» taucht zum Beispiel auch in einem der wichtigsten jüdischen Gebete, dem Achtzehn-Bitten-Gebet, auf. (Zu jüdischen Parallelen ist auch dieser Artikel in der «Jüdischen Allgemeinen».)
Indem Jesus diesen Satz in seiner «Gebetsanleitung» an den Anfang stellte, drückte er aus, dass ihm diese persönliche, vertrauensvolle Beziehung zu Gott sehr wichtig ist.
Gott Vater/Mutter im Alten Testament
Auch im Alten Testament wird Gott manchmal mit Eltern verglichen, mit einem Vater oder einer Mutter oder sogar mit einem Muttertier. «Ich will euch trösten, wie eine Mutter ihr Kind tröstet», heisst es zum Beispiel (Jesaja 66,13). Oder: «Ich habe euch das Laufen beigebracht.» (Hosea 11,3). Oder Gott vergleicht sich mit einer Bärin, die ihre Jungen verteidigt (Hosea 13,8).
Diese Beispiele sind interessant, weil sie zeigen, dass es bei dem Elternvergleich nicht um das Geschlecht Gottes oder eine Personalisierung geht.
Vielmehr geht es darum, was wir mit guten Eltern verbinden: Liebe, Fürsorge und Erziehung.
«Gute Eltern» ist ein wichtiges Stichwort in dem Zusammenhang:
Gott als Vater anzusprechen, ist für manche Menschen schwierig. Wenn sie zum Beispiel keinen Vater haben oder keinen, den sie positiv erlebt haben.
Gerade hier hilft es, den Begriff «Vater» nicht 1:1 zu nehmen, sondern als Ausdruck für eine Beziehung zu jemandem, dem man vertraut. Jemandem, bei dem man sich sicher fühlt, weil man weiss, diese Person will nur das Beste für einen. Vielleicht auch jemand, zu dem man aufschaut und den man als Vorbild nimmt.
7 Aspekte davon, Gott als Vater anzusprechen
Das sind mehrere Aspekte, die mit dem Wort «Vater» im «Unser Vater»-Gebet zu tun haben. Insgesamt lassen sich mindestens 7 solcher Facetten des Begriffs ausmachen, die biblisch begründbar sind.
Jesus sprach von Gott als Vater. Christ:innen wollen so leben wie Jesus und so mit Gott verbunden sein wie er, deshalb wurde diese Anrede von Anfang an auch von gläubigen Menschen übernommen.
Es geht dabei nicht nur um eine persönliche Art des Betens, sondern um eine Haltung, eine bestimmte Art der Beziehung.
1. Ein liebevoller Gott
Jesus hat sich bewusst dafür entschieden, nicht das Bild eines strafenden, rächenden, willkürlichen oder distanzierten Gottes zu vermitteln. Im Alten Testament, der jüdischen Bibel, hätte es neben dem Eltern-Bild auch solche Bilder für Gott gegeben, auf die er hätte zurückgreifen können.
Das bedeutet umgekehrt auch: Diejenigen, die zu Gott beten, sind Gottes Kinder – nicht seine Armee oder seine Diener:innen.
Das heisst, jeder Mensch ist für Gott individuell wichtig.
Jeder Mensch ist von Gott geliebt – das ist die Botschaft von Jesus Christus.
2. Autorität und Respekt
An anderen Stellen der Bibel wird Gott als König oder Herrscher bezeichnet. Diese Hierarchie bleibt auch bestehen, wenn man Gott als Elternteil sieht. Das zeigt sich auch darin, dass in späteren Zeilen des «Unser Vaters» Gott um bestimmte Dinge gebeten wird.
Man traut ihm mehr zu als sich selbst und begegnet ihm deshalb mit Respekt – so heisst es in den letzten Zeilen: «Dein ist die Herrlichkeit», eine altertümlich klingende Formulierung der Ehrerbietung.
Dies lässt an die Zehn Gebote denken, wo es heisst: «Ehre Vater und Mutter».
Manche Christ:innen nutzen sogar noch intimere Anreden für Gott wie «Papi», oder «Daddy» im Amerikanischen. Das Aramäische «Abba» ist jedoch kein Kosename, sondern drückt einfach die Vater-Beziehung aus (engl. Artikel dazu hier).
3. Das Leben kommt von Gott
In den meisten Fällen sind die Eltern auch die leiblichen Erzeuger:innen eines Kindes. Doch nicht nur ein biologischer Prozess macht aus Menschen Eltern.
Auch im übertragenen Sinn erhalten Kinder von ihren Eltern das Leben – sie haben sich um sie gekümmert, als sie noch unfähig waren, dies selbst zu tun.
So ist es auch mit Gott, wie es in der Bibel beschrieben wird: Gott hat die Welt geschaffen, Gott ist die Kraft, die Leben gibt und für die Menschen sorgt.
In der dazugehörigen Folge des Podcasts «Unter freiem Himmel» kannst du diese Zeile des Gebets mit einem poetischen Text von Janna Horstmann noch einmal anders auf dich wirken lassen (Link zum Podcast ganz oben, Meditation ab Minute 12).
4. Vorbildfunktion
Eltern sind Vorbilder – gute oder weniger gute. Kinder ahmen automatisch nach, was sie tun und wie sie leben, und übernehmen bewusst und unbewusst vieles von Vätern und Müttern.
Dieses «Nachahmen» gilt auch für die Beziehung zu Gott: Grosszügigkeit, Warmherzigkeit, Ansprechbarkeit und Nächstenliebe zum Beispiel sind Charakterzüge, von denen es in der Bibel heisst, dass wir sie übernehmen sollen. Sogar Gottes Heiligkeit wird auf die Menschen übertragen, die ihm vertrauen.
5. Erbe – und Verantwortung
In der Bibel heisst es, wir seien Erb:innen Gottes (Römer 8,17). Das ist eine besondere Position, denn das, was Gott gehört, gehört auf eine gewisse Art auch uns. Damit kommt aber auch Verantwortung.
6. Ermächtigung zur Selbständigkeit
Eltern wünschen sich, dass ihre Kinder irgendwann eigenständig leben können. Sie wollen das Beste für ihre Kinder, aber lassen sie irgendwann frei fliegen.
So haben auch wir Menschen Möglichkeit, eigene Wege zu gehen und eigene Entscheidungen zu treffen. Manchmal gelingt das gut, manchmal weniger. Was für ein Bild von guten Eltern Jesus in diesem Zusammenhang hatte, zeigt sich am besten in der Geschichte vom «verlorenen Sohn».
7. Geschwister
Das «Unser Vater» ist im Plural formuliert. Es wurde schon in den ersten Kirchen gemeinsam gebetet und nicht nur individuell.
Die ersten Christ:innen bezeichneten einander gegenseitig als Geschwister, als Brüder und Schwestern. Auch heute gibt es noch Kirchen und Gemeinden, in denen das üblich ist.
Die Geschwister sucht man sich nicht aus.
Ähnlich ist es in der Kirche, wenn zusammen das «Unser Vater» gebetet wird und dadurch eine Gemeinschaft entsteht: Man sucht sich nicht aus, wer dazugehört. Geschwister können wunderbar sein und uns Freude bereiten, manchmal fordern sie uns aber auch heraus.
Und was ist mit dem Himmel?
Soweit zur Anrede «Vater» – und was ist mit dem «im Himmel»? Kurz gesagt: In vielen antiken Religionen war der Himmel der Ort, an dem die Götter wohnten. Weit oben, unerreichbar für die Menschen.
Jesus predigte jedoch auch davon, dass das «Himmelreich nahe herbeigekommen ist» (schau dazu auch mein Video: «Wo oder was ist eigentlich der Himmel?»).
Gott ist nicht dort, wo der Himmel ist, sondern umgekehrt.
So schreibt es der Theologe Gerhard Ebeling. Der Himmel ist dort, wo Gott ist – und das kann überall sein.
Wie stellst du dir Gott vor? Schreib mir gerne einen Kommentar dazu!
In der dazugehörigen Folge des Podcasts «Unter freiem Himmel» kannst du diese Zeile des Gebets mit einem poetischen Text von Janna Horstmann noch einmal anders auf dich wirken lassen (Link zum Podcast ganz oben, Meditation ab Minute 12).
Das bekannteste christliche Gebet: «Unser Vater» oder «Vaterunser». In dieser Staffel von «Unter freiem Himmel» gehen wir es Zeile für Zeile durch: Was steht da genau, was sind unterschiedliche Interpretationen und was bedeutet es für uns, heute? Am 29. Oktober erscheint der nächste Blogpost in dieser Reihe, parallel zur Podcastfolge und zum Video, zur nächsten Zeile des Gebets: «Geheiligt werde dein Name».
Auch Manuel Schmid und Stephan Jütte haben in der neusten Folge des Podcasts «Ausgeglaubt» über das Bild von Gott als Vater gesprochen: Zur Folge geht es hier.
Zur jüdischen Herkunft des «Unser Vaters» ist dieser Artikel in der «Jüdischen Allgemeinen» lesenswert.
1 Gedanke zu „«Unser Vater im Himmel» (Unser Vater, Teil 1)“
Jesus lebte in einer männerdominierten Welt, in der Männer das Sagen hatten. Die über Krieg und Frieden und die Götter bestimmten. VATER ist sicher DAS Wort für Gott in dieser Zeit. Für mich waren die Kirchenbilder sehr prägend, der VATER, der weise, alte Mann mit dem wallenden Bart auf dem Thron. Neben ein paar „historischen“ Frauen in der Geschichte, war die 68er-Bewegung der Anfang einer neuen Zeit, die mich – und viele andere – entscheidend prägten. Ein Beispiel: Am 7. Februar 1971 – nach einem mehr als 100-jährigen Kampf der Frauenbewegung – erhalten die Schweizerinnen endlich das Wahl- und Stimmrecht. So kann ich heute auch «Mutter unser» beten.
Ich halte mich weiterhin an David Steindl-Rast: «Ich glaube an Gott den VATER». Mit dem Namen VATER für Gott beginnt im „Credo“ der Text, den allgemein menschlichen Glauben spezifisch christlich auszudrücken. Trotz verschiedener Ausdrucksformen bleibt der Glaube immer das Wagnis tiefsten Vertrauens auf eine liebende Macht, die uns unendliche übersteigt. Ja, eine liebende Macht muss es sein – und das will das Wort VATER ausdrücken – denn letztes Vertrauen können wir nur auf LIEBE setzen.
An Jesus fiel schon seinen Zeitgenossen auf, dass er auf ganz persönliche Art Gott «Abba» – VATER – nannte. Vielen Christen ist das Bild Gottes als Vater zu vertraut geworden; sie vergessen dabei allzu leicht, dass es doch nur ein Bild ist. Andere bemerken, dass der ausschliessliche Gebrauch des Vaterbildes für Gott weitreichende psychologische und soziologische Verzerrungen bewirken kann. Zu viele männliche Züge werden da unbewusst in die Gottesvorstellung hineinprojiziert; zu viele mütterliche Aspekte werden übersehen. Das unterstützt männlichen Chauvinismus in Kirche und Gesellschaft und es kann leicht dazu verleiten, sich Gott so vorzustellen wie den eigenen Vater, mit allen Spannungen, die daraus erwachsen.
Der christliche Glaube an Gott spiegelt sich für unser heutiges Lebensgefühl besser im Vertrauen eines Kindes zur Mutter. Jesus selbst stellt den Vater – etwa im Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-24) – eher so dar, wie wir uns eine liebende Mutter vorstellen. Wenn wir heute trotz alledem immer noch Gott unseren VATER nennen, dann tun wir das, weil Jesus es getan hat, aber wir haben das Recht – heute vielleicht sogar die Pflicht – hin und wieder Gott auch Mutter zu nennen.
Auch andere Traditionen verwenden das Bild von Vater, Mutter, Grossmutter oder Grossvater für Gott. Was das Vaterbild zum Ausdruck bringen will, ist, dass wir als Menschen die «letzte Wirklichkeit» als persönlich mit uns verbunden und für uns sorgend erleben können. Und doch behauptet der Glaube an den persönlichen Gott nicht, dass Gott im herkömmlichen Sinn Person sei. Wenn ich Person bin, kann Gott nicht weniger sein; Gott kann aber unvorstellbar mehr sein. Letztlich weist VATER auf ein erstes Du hin, durch das ich überhaupt erst «ich» sagen kann, ein Du, mit dem ich von meinem Wesen her verbunden bin.