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 Lesedauer: 4 Minuten

Und was ist mit neuen Übersetzungen? («Unser Vater», Teil 9)

Darf man das «Unser Vater» umschreiben?

Das «Unser Vater» ist das bekannteste Gebet der christlichen Tradition. Seit Jahrhunderten wird es in Gottesdiensten auf der ganzen Welt gesprochen. Auch auf Deutsch – in einer Sprache, die kaum mehr jemand versteht. Oder was bitteschön heisst: «Denn dein ist das Reich»???

Menschen fassen dieses Gebet deswegen auch immer wieder in neue Worte. Ist das erlaubt?

Und warum braucht es überhaupt noch die «alte» Version?

Alternative Versionen: Ein Bedürfnis nach Nähe

Als ich mit der Blog-/Video-/Podcastserie zum «Unser Vater» begann, schickten mir sehr bald auch Menschen aus der Community Varianten des Gebets, die ihnen näher sind als die traditionelle. Übertragungen, die sie irgendwo gefunden oder selbst formuliert haben.

Manche beginnen mit «Du Gott, bist uns Vater und Mutter im Himmel» (Bibel in gerechter Sprache). Andere sind Berndeutsch (Walter Vogt) oder beenden das Gebet mit Bezügen zu Liebe, Frieden und Kosmos.

Eine sehr kritische Version stammt von der jüdischen Lyrikerin Rose Ausländer:

«Vater unser
nimm zurück deinen Namen
wir wagen nicht
Kinder zu sein»,

heisst es darin etwa. 

Diese alternativen Fassungen zeigen: Viele Menschen wünschen sich dieses Gebet in einer Sprache, die sie unmittelbar berührt und ihre eigene Glaubensrealität besser widerspiegelt.

Übersetzung oder Übertragung?

Eine wichtige Unterscheidung: Während eine Übersetzung nahe am Originaltext bleibt und versucht, in Sprache und Satzbau möglichst genau wiederzugeben, was dort steht, geht eine Übertragung freier mit dem Grundtext um.

Wenn ich also zum Beispiel das «Unser Vater» auf Schweizerdeutsch bete, verwende ich 1:1 die gleichen Worte wie in der schriftlichen, hochdeutschen Formulierung. Zum Beispiel: «Gib üs jede Tag z’ässe», oder «Vergib üs eusi Schuld». Das ist deswegen eine Übersetzung.

Eine Übertragung hingegen ist eine Formulierung neu und folgt dabei nicht Wort für Wort dem Grundtext. Man versucht herauszufinden, was die ursprünglichen Worte für eine Bedeutung haben, und versucht zeitgemässe Worte dafür zu fidnen.

Ähnlich, wie ich das in dieser Videoserie zum «Unser Vater» getan habe. (Eine Zusammenfassung meiner Gedanken zum Gebet findest du hier.)

Wenn es sich um Übertragungen von Theolog:innen handelt, bezieht sich die grosse Mehrheit der Exeget:innen (Ausleger:innen) auf den jüdischen Kontext. Dieser ist in der christlichen Bibel im Alten Testament (damals und heute die jüdische Bibel) sowie in jüdischen Texten aus der gleichen Zeit überliefert. Zudem wird der Stand der historischen Forschung mit einbezogen.

Beides hat seinen Platz. Während eine Übersetzung dem historischen Text gerecht wird, hilft eine Übertragung dabei, den Inhalt in eine neue Zeit und Kultur zu übertragen.

Gerade das «Unser Vater» ist ein Gebet, das viele als zu altmodisch empfinden – weshalb kreative Übertragungen helfen können, es lebendig zu halten und zu einem wirklich persönlichen Gebet zu machen.

Was ist mit dem «aramäischen» «Unser Vater»?

Ein kleiner Exkurs: Besonders populär sind «aramäische Varianten» des «Unser Vater»-Gebets. Sie erwecken den Anschein, noch originalgetreuer zu sein, weil Jesus Aramäisch gesprochen hat – die Umgangssprache seiner Zeit.

Diese Versionen sind allerdings Rück-Übersetzungen aus dem griechischen Text. Davon gibt es wiederum Übertragungen ins Deutsche oder Englische wie «Das aramäische VaterMutterunser», die den Bibeltext ziemlich frei ergänzen.

Es gibt auch dubiose spirituelle Lehrer:innen, die sich für ihre Variante des Gebets auf neue himmlische Botschaften und Offenbarungen berufen.

Es gilt also zu unterscheiden zwischen persönlichen oder kontextsensiblen Übertragungen und Varianten des Gebets, die neue Gültigkeit beanspruchen.

Warum dann noch die alte Version?

Warum wird denn noch Sonntag für Sonntag die sprachlich spröde Variante im Gottesdienst gebetet?

Schlicht und einfach: Weil viele das Gebet so auswendig können.

Wenn Menschen zusammenkommen, um zu beten, ist es wichtig, dass alle mitbeten können. Und weil die traditionelle Version, die sich nach dem Bibeltext in Matthäus 6 richtet, so bekannt ist, ergibt es Sinn, sich darauf zu einigen.

Würde jede Gemeinde ihre eigene Version verwenden, wäre es schwieriger für neue Gottesdienstbesucher:innen, mitzubeten. Deshalb bleibt die überlieferte Fassung für viele ein fester Anker.

Hingegen kannst du während dem persönlichen Gebet so beten, wie du die Zeilen übersetzen würdest.

Inspiration: Dein eigenes «Unser Vater»

Nimm diesen Post als Inspiration, dein eigenes «Unser Vater» zu schreiben.

Was bedeuten die einzelnen Zeilen für dich? Welche Worte berühren dich?

Was ist die tiefere Bedeutung von Begriffen wie «Schuld» oder «Vergebung» für dich?

Durch diese Auseinandersetzung kann das Gebet auf eine ganz neue Weise erfahrbar werden. Vielleicht magst du deine eigene Version sogar in den Kommentaren zu diesem Artikel mit anderen teilen!

 

Sammlung: Ina Prätorius, Rainer Stöckli (2017) Vater unser Mutter unser. Gebet in 150 Variationen aus 250 Jahren.

Lesenswertes Interview mit der Theologin Anne-Catherine Baudoin zu ihrem Buch «Was tun mit dem Vaterunser?» (2024, kath.ch).

Disclaimer: Dieser Blogartikel wurde mit Unterstützung von ChatGPT auf Basis des Podcast-Transkripts erstellt. Die Autorin hat den KI-Entwurf eingehend überarbeitet und ergänzt.

Alle Beiträge zu «Unser Vater»

1 Gedanke zu „Und was ist mit neuen Übersetzungen? («Unser Vater», Teil 9)“

  1. liebe Evelyne
    so schön deine Gedanken über das Unser Vater…
    so inspirierend und wie immer von dir liebevoll geschmückt,
    dankevilmol 🙂
    ich fange jetzt auch an das vater unser in schwiizerdütsch zu reden für mich…
    bei der Versuchung sag ich jeweils:
    und führe mich in der Versuchung…. / stand by me ganz nöch / und hilf mir wieder raus…
    gueti zyt und alles läbi
    christoph

    Antworten

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