Zu beten: «Dein Wille geschehe», das bedeutet, die Kontrolle abzugeben. Das fällt schwer, besonders Menschen wie mir, die ihr Leben gern selbst gestalten und planen… Fehlt deswegen diese Zeile in der kürzeren Version des Gebets im Lukasevangelium? Dazu später.
In dieser Zeile drücken sich Spannungen aus: zwischen Gott und Mensch, Gottes Allmacht und dem eigenen, freien Willen, zwischen dem Wunsch nach Kontrolle und der Möglichkeit, loszulassen. Wer die Bitte vertrauensvoll stellen kann, lässt sich hineinnehmen in den Flow der grösseren Kraft, die das Leben trägt.
Jesus und die Spannung dieses Gebets
Nicht nur für mich ist die Zeile eine Herausforderung, sondern sogar für Jesus selbst, der seine Jünger:innen doch eigentlich dieses Gebet gelehrt hat: Kurz vor seiner Verhaftung, die absehbar ist und von der er weiss, dass er sie nicht überleben würde, betet er, dass Gott diesen Kelch an ihm vorbeigehen lassen möge. Und hängt an:
«Nicht mein, sondern dein Wille geschehe.»
Die Szene im Garten Gethsemane zeigt, wie herausfordernd diese Worte sein können. Jesus weiss um das Leid, das auf ihn zukommt, und bittet darum, dass es an ihm vorbeigehen möge.
Offenbar unterschied sich das, was er selbst wollte, von dem, was er als den Willen Gottes erkannte.
Das ist die Grund-Angst, das Risiko, dass mit dem Beten dieser Zeile des «Unser Vaters» zusammenhängt. Sie wirft auch die Frage auf, welche Rolle Gott in leidvollen Erfahrungen spielt.
Leiden ist nicht von Gott gewollt
Im «Unser Vater»-Gebet sprechen wir Gott als «Vater» an. (Blogpost zur ersten Zeile) Es ist eine vertrauensvolle Anrede an eine Person, die das Beste für einen will.
Wer diese Zeile «Dein Wille geschehe» betet, vertraut darauf, dass Gott dieses Vertrauen nicht enttäuscht.
Die Vorstellung, dass Gott Leid aktiv herbeiführt, um Menschen zu prüfen oder zu strafen, kollidiert mit diesem Vertrauen.
Ein liebevolles Elternteil würde dem eigenen Kind niemals aktiv Schlimmes zufügen.
Schmerzhafte Erfahrungen mögen manchmal den Charakter prägen, aber sie sind nicht aktiv von Gott gewollt. Krankheiten oder Krisen sind keine Strafen, sondern Teil der Unwägbarkeiten des Lebens. Gott lässt möglicherweise schwierige Schicksale zu, ohne sie aber absichtlich herbeizuführen.
Gott ist solidarisch und nahe bei den Leidenden.
Was ist denn Gottes Wille?
Es gibt viele Stellen in der Bibel, an denen steht, was hingegen Gottes Wille ist: Er richtet sich auf Liebe, Gerechtigkeit und das Wohlergehen aller Geschöpfe.
So gibt der Prophet Micha eine klare Antwort: «Es ist dir gesagt, Mensch, was Gott von dir will: nichts anderes als Recht zu üben, Güte zu lieben und in Einsicht mit deinem Gott zu gehen.» (Micha 6,8)
Auch die bekannte Geschichte des verlorenen Schafs (Lukas 15) zeigt, wie wichtig jeder einzelne Mensch ist – niemand soll verloren gehen.
Die fehlende Zeile in der kürzeren Version…
Im Lukas-Evangelium fehlt die Zeile «Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden», während sie im «Unser Vater» («Vaterunser») Matthäus-Evangelium enthalten ist und im sonst sehr knappen Gebet vergleichsmässig viel Raum einnimmt.
Die Zeile ist jedoch nicht rausgestrichen worden, weil sie so kontrovers ist.
Historische Forschungen legen vielmehr nahe, dass das Gebet bei Lukas die ursprünglichere Version darstellt. In der frühen christlichen Tradition, der der Evangelist Matthäus angehörte, wurde das Gebet ergänzt, um die Bedeutung von Gottes Willen und die vorangehende Bitte «Dein Reich komme» noch deutlicher zu machen.
Sich hineinbeten in die Perspektive Gottes
Die Worte «Dein Wille geschehe» rufen dazu auf, sich mit einer grösseren Perspektive zu verbinden. Sie laden ein, Gottes Wirken anzuerkennen und sich darauf einzulassen.
Diese Haltung verändert den Blick auf das eigene Leben und öffnet den Raum für Vertrauen in etwas, das über den eigenen Alltag hinausgeht.
Welche Gedanken kommen dir zu diesem Satz, oder zum «Unser Vater»-Gebet allgemein? Schreib gerne einen Kommentar.
Das bekannteste christliche Gebet: «Unser Vater» oder «Vaterunser». In dieser Staffel von «Unter freiem Himmel» gehen wir es Zeile für Zeile durch: Was steht da genau, was sind unterschiedliche Interpretationen und was bedeutet es für uns, heute? Am 10. Dezember erscheint der nächste Blogpost in dieser Reihe, parallel zur Podcastfolge und zum Video, zur nächsten Zeile des Gebets: «Unser täglich Brot gib uns heute».
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5 Gedanken zu „«Dein Wille geschehe» (Unser Vater, Teil 4)“
Sorry, was ist «Dein Wille?» Wollte Gott eine perfekte, folgsame und heile Welt – à la Swissminiatur – wäre das der «Himmel auf Erden»? So hätte er die Entwicklung des Bewusstseins auf einer tieferen Ebene gestoppt, zum Beispiel beim tierischen Bewusstsein. Fressen und gefressen werden ist auch nicht nett. Die Grossen fressen die Kleinen, das ist doch ungerecht. Ok, dann hätte er besser den Urknall verhindert, und die Freiheit des Denkens – mit allen Unwägbarkeiten – wäre sicher verhindert worden. Nein, ich glaube, er will eine schrittweise Entwicklung: vom Ichbewusstsein bis zur Selbsttranszendenz. Menschen wie Buddha und Jesus haben den Beweis erbracht. Die Sehnsucht muss nun zuerst in uns geweckt werden, damit wir uns auf den Weg machen. Das braucht halt ein bisschen Zeit.
David Steindl-Rast nimmt nun den roten Faden wieder auf:
«Dein Wille» weist in eine bestimmte Richtung, wenn ich das recht verstehe. Denn das Leben, als dessen innerstes Wesen wir dich erkennen, du unergründliches Geheimnis, das Leben in uns und um uns hat diese Ausrichtung. Es wirbelt nicht chaotisch, sondern entfaltet eine innere Ordnung. Du willst also, dass auch wir Menschen deine Ordnung durch unser Ja zur gegenseitigen Zugehörigkeit und Vernetzung verwirklichen. Dazu gehört dass wir einander Eigenart und Selbstentfaltung freudig zugestehen und ermöglichen. Die gegenseitige Anerkennung unsrer Menschenwürde ist das Merkmal, an dem wir erkennen können, ob wir in Einklang mit deinem Willen leben. Diesen Einklang lass uns anstreben und erreichen. Amen.
«Tue allen Andren, wie du willst, dass sie dir tun» ist eine solche Grundforderung, der wir alle zustimmen können. Sie allein würde genügen unsre Weltordnung umzugestalten. Dazu gib uns Mut. Amen.
«Dein Wille geschehe!» Wie könnte er denn nicht geschehen? Gibt es denn etwas, was deinem Willen wiederstehen kann? Da stosse ich auf das Geheimnis meiner Freiheit. Ich erlebe, dass ich wählen kann und immer das wähle, was mir wünschenswert erscheint. Ich kann gar nicht anders. Dabei tue ich auf meiner Bewusstseinsebene, was schon der Einzeller auf der seinigen tut, wenn er Lebensernährendes anstrebt und vor Lebenszerstörendem flieht.
Auf der menschlichen Bewusstseinsebene kommt alles auf den Rahmen der Wahl an: Ego oder Gemeinwohl, kurzfristige oder langfristige Befriedigung. Befriedigungsverzögerung fällt meiner Ungeduld schwer, Gemeinsinn meinem Egoismus, die Bereitschaft, mich anzustrengen, meiner Bequemlichkeit. Diese Widerstände lass mich überwinden. Nur wenn alle Wesen glücklich sind, kann auch ich glücklich sein. Mein bleibendes Glück ist dein Wille. Dieses grosse, allgemeine, bleibende Glück, nichts Geringeres, lass mich willig anstreben. Amen.
«Wie im Himmel so auf Erden.» Wie das aussehen könnte, das können wir ja an der Natur ablesen. Himmel ist überall dort, wo dein Wille geschieht. Und überall, wo wir Menschen die Natur noch nicht verletzt haben, entfaltet sich die Harmonie einer Ordnung, die wir als deinen «Willen» erkennen. Die kontemplative Achse, die Schauen und Tun verbindet, verläuft nicht nur vertikal zwischen Himmel und Erde, sondern auch horizontal zwischen Natur und Kultur. Das Stichwort für kontemplativen Einsatz ist Bionik – die Anwendung dessen, was wir von der Natur lernen, auf die Lösung menschlicher Probleme.
«Wie im Himmel so auf Erden.» Ja wirklich, nicht nur da und dort, sondern auf der ganzen Erde muss dein Wille geschehen, wenn wir dem «Himmel auf Erden», den wir so ersehen, näher kommen wollen. Unsre grössten Probleme sind global. Nur gemeinsam können wir sie lösen. Mir wird immer klarer, dass jede Bitte im Vaterunser nur auspackt, was in den beiden ersten Worten dieses Gebetes schon drinsteckt. Weil du unser aller Vater bist, hängt alles davon ab, dass wir vom Ich-Denken zum Wir-Denken gelangen. Nur gemeinsam dürfen wir hoffen, Gewalttätigkeit, Umweltzerstörung oder explosives Bevölkerungswachstum in den Griff zu bekommen. Lehre du uns, Fragwürdiges zu hinterfragen. Amen.
«Wie im Himmel so auf Erden» weist auf Veränderung hin, auf Übergang, auf Verwandlung. Alles Elend der Erde soll in Himmelsfreude verwandelt werden. Ja, aber das geschieht nicht ohne unser Zutun. Wer sich wirklich brennend nach dem Himmel auf Erden sehnt, der wird nicht herumsitzen und darauf warten, sondern beherzt darauf hinarbeiten. Die Zukunft hast du ja in unsre Hände gelegt. Wir gestalten sie durch unser Tun und werden dadurch auch selber umgestaltet. Gib, dass uns dabei nicht der Atem ausgeht. Amen.
Was ist «im Himmel so auf Erden?» Und die Hölle ist auch immer im Hinterkopf, das wurde uns jahrelang eingetrichtert, dem möchte ich auch noch nachgehen. Elisabeth Haich zeigt im „Tarot“ die verschiedenen Bewusstseinsstufen, die wir durchleben müssen: «Unser wahres Selbst, unser göttliches Wesen kennt die folgenden Aspekte nicht. Es kennt keine Geburt und keinen Tod, keine Vergangenheit und Zukunft, es kennt nur Ewigkeit und ewiges Leben. Es kennt nur absolute Gegenwart – «das ewige Jetzt». Und der Mensch versteht nun auch, dass Himmel, Erde und Hölle drei Bewusstseinszustände sind und er, je nachdem, mit welcher Ebene er sich identifiziert, glücklich oder unglücklich ist. Wenn er sich mit sich selbst, mit seinem Geiste identifiziert und geistige Freuden sucht, so ist er glücklich, also im Himmel. Auf der Erde hat er Freud und Leid erlebt, aber beide sind vergänglich. Und wenn er sich mit seinen Trieben identifiziert und Sklave seines Körpers wird, dann verliert er sich selbst, wird verzweifelt und stürzt sich damit in die Hölle.
Er erkennt, dass Himmel, Erde und Hölle tatsächlich existieren, aber nicht als Ort, sondern als Zustände des Menschen. Es hängt vom Menschen ab, in welchen Zustand er sich mit seinem richtigen oder unrichtigen Tun bringt. So kämpft der Mensch in sich und auch in der irdischen Welt. Durch diesen Kampf kommt er vorwärts, sein Horizont wird weiter und er wird in seinem Wesen immer bewusster. Doch der Weg ist noch lang und er darf nicht stehenbleiben. Er muss mit Geduld weiter wandern, weil noch weitere Meilensteine auf ihn warten.»
Swami Vivekananda der «Brückenbauer» aus dem Osten, zum aktuellen Thema Himmel und Erde: «Bemitleide niemanden, sondern blicke auf alle als deinesgleichen; läutere dich von der Ursünde der Ungleichheit. Wir sind alle gleich und dürfen nicht denken: «Ich bin gut und du bist schlecht, und ich versuche, dich zu bessern.» Gleichheit ist das Wahrzeichen des Freien. Jesus ging zu Zöllnern und Sündern und lebte bei ihnen. Er stellte sich niemals auf ein Piedestal. Nur Sünder sehen Sünde. Sieh nicht den Menschen, siehe nur den Herrn. Wir selbst machen unseren eigenen Himmel, und können aus dem Himmel auch eine Hölle machen. Sünder findet man nur in der Hölle; solange wir Sünder wahrnehmen, sind wir selbst in der Hölle. Sünde ist der Kampf des Göttlichen in uns, das Tier in uns zu überwinden. Wir müssen «sündigen» – das heisst Fehler machen – um zur Gottheit aufsteigen zu können.»
Jetzt wissen wir was uns erwartet! Eigenverantwortung: Lernen, Fehler, Lernen … Aber bevor es so richtig losgeht, brauchen wir noch eine kleine Stärkung. Wie wär`s mit frischem Brot 🙂
Danke für deinen Kommentar! Das Brot kommt demnächst 🙂
Vielen Dank für eure Gedanken Evelyne und Emil. Dein Wille geschehe ist für mich auch kein genauer Masterplan oder Regieanweisung, wie alles auf dieser Welt funktionieren soll und wird. Ich sehe es als Rahmen, Grundmelodie, mit denen die großen Ideen Gottes für eine bessere Welt langsam Wirklichkeit werden. Überall da, wo sich Lebewesen für eine bessere Welt einsetzen und wirken.
Liebe Evelyne
Aus der Warte der zweiten Lebenshälfte, wie sie Richard Rohr in seinem Buch “Reifes Leben” beschreibt, verstehe ich “Dein Wille geschehe” auf zwei verschiedene, sich ergänzende Arten.
Die erste Lesart ist die einer “Orientierungshilfe” für uns Menschen, die zeigt, welchen Werten und Haltungen wir nachleben sollen: «als Recht zu üben, Güte zu lieben und in Einsicht mit deinem Gott zu gehen (Micha 6,8)» oder «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.» (Matth. 22,37-39)
Diese Aufforderungen gelten gewiss auch in der zweiten Lebenshälfte. In der zweiten Lebenshälfte haben wir Menschen schon einiges erreicht: unsere Persönlichkeit ist gewachsen, wir haben mehr oder weniger unseren Platz in der Gesellschaft gefunden, vielleicht haben wir schon (erwachsene) Kinder, etc. Vieles von der obigen “Orientierungshilfe” haben wir umgesetzt und verinnerlicht. – Einiges vielleicht noch nicht. Trotz aller Unvollständigkeit und all unserer Fehler fühlen wir uns von Gott geliebt und getragen. – Auch das ist Gottes Wille: Er hat den Menschen geschaffen und ihm die Freiheit zugestanden, sich ihm zuzuwenden oder sich von ihm abzuwenden; zu versu-chen, nach seiner “Orientierungshilfe” zu leben oder nicht.
So verstehe ich “Dein Wille geschehe” auch als Verheissung, Wunsch oder Willensbekundung: Gott lässt zu, dass wir Menschen ihn suchen, nach ihm fragen. Er lässt aber auch zu, dass wir Menschen unvollkommen sind und womöglich auch Leid und Unheil über andere bringen. In dieser schier unfassbar grossen Freiheit sind wir eingebettet in Gottes Willen und getragen von seiner Liebe.
Wenn ich “Dein Wille geschehe” bete, richte ich mich selbst (wieder) auf Gott aus, kann ich Mut fassen und vergegenwärtige mir, dass ich aus Gottes Gnade lebe. Als Antwort wächst in mir die Sehnsucht, ganz mit Gott zu verschmelzen und, so gut ich kann, mich ihm hinzugeben.
Herzliche Grüsse
David
Lieber David, danke für den Kommentar. Genau, ich glaube, es geht oft ums “getragen sein”. Liebe Grüsse, Evelyne