Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 4 Minuten

Der Kunstvlog: Hello Brasilia! – Reise in die alte Moderne

Brasilia!

In diesem Kunstvlog wandle ich auf den Spuren des legendären Architekten Oscar Niemeyer, Schüler des schweizerisch-französischen Architekten Le Corbusier, und entdecke im Nationalmuseum eine indigene Künstlerin: Daiara Tukano.

Auf Niemeyers Spuren

Schön, erhaben und schrecklich ist seine ab 1958 verwirklichte Stadt Brasilia, die Reissbrett- und Retortenmetropole in der brasilianischen Savanne, das größte Gesamtkunstwerk der Moderne. Sämtliche öffentliche Gebäude der Hauptstadt – vom Nationalkongress über die zwanzig identischen Ministerien bis zum Präsidentenpalast und der Kathedrale aus 16 weissen Pfeilern – hat Oscar Niemeyer geplant, der deutschstämmige Architekt aus Rio de Janeiro, der 104 Jahre alt wurde.

Der Methusalem der Architekturmoderne, der dem Werkstoff Beton ungeahnte Sinnlichkeit und Leichtigkeit verlieh, begab sich noch als alter Mann täglich in sein Penthouse-Büro in Rio, schmauchte Zigarren, die ihm sein Freund Fidel Castro zukommen liess, machte Skizzen, auch wenn das Augenlicht merklich nachgelassen hatte. Kurz vor seinem 99. Geburtstag hat Oscar Niemeyer noch einmal geheiratet, seine 38 Jahre jüngere Sekretärin.

Der Architekt lebte so lange, dass er seine Kritiker überlebte. Sie hielten ihm und anderen Heroen der Moderne ein langes Sündenregister vor: Menschenfeindlich seien ihre Planungen, überheblich, brutal, kalt, karg, lebensfern. Das genaue Gegenteil mithin des ursprünglich Angestrebten. Niemeyers Freund Lucio Costa, der das Grundraster für Brasilia (Plano Pilota in Form eines Flugzeuges) zeichnete, hatte noch 1968 gesagt:

«Alles ist monumental, menschlich, einfach, grandios, asketisch in der Reinheit seiner Formen.»

Schön gescheitert

Längst ist es Mainstream, gegen die Moderne zu lästern, in ihr den Gipfel der Verhässlichung zu sehen. Das Adolf-Loos-Diktum, Dekor sei ein Verbrechen, wird seinerseits als Verbrechen angesehen. Die Moderneverächter haben vor allem den traumatisierenden Betonbrutalismus und die Schuhkartonmoderne der Epigonen vor Augen, die häufig auch noch asbestverpestet ist. Früher wurde Asbest «Wunderfaser» genannt.

Der hundertjährige Niemeyer leugnete nicht, dass die modernen Utopien vom besseren Leben und besseren Menschen gründlich gescheitert waren («Es hat nicht funktioniert»). Nur machte der überzeugte Kommunist und Atheist («Der Mensch ist nichts wert, er wird geboren und stirbt.») nicht seine Architektur verantwortlich, sondern das ungeregelte Wachstum der Städte und «die Kapitalisten».

Noch heute erscheinen Niemeyer-Bauten atemberaubend schön.

«Es kommt auf die Schönheit an. Wenn du nur an die Funktion denkst, kommt Mist heraus», lautete Niemeyers Devise.

Freilich war nicht alles gleichermaßen schön und träumerisch-fantasiegeboren. Die 500 Schulen in Rio de Janeiro nach seinen Plänen haben ein ernsthaftes Klimatisierungs- und Lärmproblem. Die Wände sind nicht bis zur Decke gezogen worden.

Alte Moderne und neuer Schamanismus

Wer heute Niemeyer-Bauten ansieht, blickt auf die Alterung einer Utopie. Die Betonmonumente Brasilias aber bröckeln nicht. Sie werden liebevoll in Stand gehalten. Vor dem Präsidentenpalast wachen Garden in leuchtend weissen Uniformen. Reflection Pools und Parks werden von Armeen aus Gärtnern gepflegt. Bewohner:innen der Superquadras, so heissen Einheiten gleichförmig gestalteter Wohnblöcke, sagen, es sei ein Privileg in Brasilia zu leben.

Freilich genügt die Utopie von damals in keiner Weise heutigen Anforderungen ökologischer Nachhaltigkeit. Mein Eindruck allerdings ist, dass dies in Brasilien bisher kein grosses Thema ist.

In der Innenstadt sucht man als Europäer vergebens Gehsteige. Sie wurden in der autogerechten Stadt schlicht nicht eingeplant.

Im Nationalmuseum bin ich auf eine indigene Künstlerin und Aktivistin gestossen: Daiara Tukano. Sie nennt sich Tukano nach ihrem Volk. In ihrer Kunst verbindet sie altes Wissen mit gegenwärtigen Herausforderungen auch der Klimaerhitzungskatastrophe.

Stadt unzähliger Religionen

Eine Überraschung für mich: Ausgerechnet das ultramoderne Brasilia ist auch eine Hochburg der Religionen und Religionskombinationen. Katholizismus, Spiritismus, afro-brasilianischer Animismus (Candomblé), Amazonas-Vegetalismus (v.a. die Einnahme von Ayahuasca). Santo Daime ist eine Verbindung von alldem. Und sogar Ufo-Gläubige gibt es: im Vale do Amanhecer.

In Kultur- und Künstlerkreisen scheint es schick zu sein, an spirituellen Ritualen unterschiedlicher Ausrichtung teilzunehmen.

In Instagram informiert man sich, was am Wochenende läuft. In Favelas, wo das Drogen- und Alkoholproblem gross ist, erfahren dagegen evangelikale Kirchen starken Zulauf. Sie sind auch strikt Anti-Camdomblé.

Für mich war die Zeit zu kurz, um all dies zu erkunden. Immerhin konnte ich mir eine Vorstellung vom umfassenden Ökumenismus im Templo do Boa Vontade machen. Dort versammeln sich Menschen unter einem Riesenkristall in der Spitze einer Pyramide und im Tempel-Shop gibt es neben Kristallen, Heiligenfiguren und altägyptischen Götterbildern auch Franz von Assisi im Buddhasitz.

Für Klagen über voranschreitende Säkularisierung  gibt es in Brasilia jedenfalls keinen Grund.

Alle Beiträge zu «Kunstvlog»

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

RefLab regelmässig in deiner Mailbox

RefLab-Newsletter
Podcasts, Blogs und Videos, alle 2 Wochen
Blog-Updates
nur Blogartikel, alle 2 bis 3 Tage