Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 5 Minuten

Briefe zum Krieg, Teil 1: Protokoll aus der Redaktionssitzung

Die Stimmung ist angespannt. Stephan zieht tief an seinem Dampfer, Johanna macht sich Notizen und Manu verschanzt sich hinter dem Laptop: Weil wir an der Teamsitzung wegen unserer Fastenzeit keine Redaktionsplanung machen müssen, haben wir Zeit, über die weltpolitische Lage zu diskutieren. Und da geht es um unseren grossen weissen Redaktionsbürotisch herum ein bisschen zu wie an einem Stammtisch.

Manu und Stephan haben am Morgen bereits eine Folge Schall & Rauch zur aktuellen Situation aufgenommen. Sie diskutierten darüber, ob die Verbrechen Russlands schlimmer oder gleich schlimm seien wie diejenigen der USA in Vietnam, Afghanistan und Irak, und ob folglich die Staatengemeinschaft eingreifen solle oder nicht. Evelyne hat diese Podcastfolge nicht zufriedengestellt. Viel spannender hätte sie es gefunden, ihre Perspektive darauf als Theologen zu hören, und das diskutieren wir jetzt an der Teamsitzung.

Gibt es einen gerechten Krieg?

Stephan findet jedoch, die Theologie habe in den letzten hundert Jahren nichts Brauchbares zum Thema Krieg produziert, deswegen sei dieser Anspruch müssig. Evelyne verweist auf den grossartigen Artikel von Antje Schrupp zum Thema Pazifismus von vor ein paar Tagen und die Friedensarbeit von Dorothee Sölle, doch das meint er nicht: Während Manuel nämlich dem Bibelwort «Schwerter statt Pflugscharen» anhängt und sagt, es gebe keinen gerechten Krieg, findet Stephan, man dürfe Putin nicht gewähren lassen. Und dazu, eben, habe die Theologie nach Schleiermacher und Barth nichts mehr gesagt.

«Dafür Bud Spencer und Terrence Hill», wirft Luca ein, und erzählt eine Anekdote aus dem Film «Die rechte und die linke Hand des Teufels». Darin sorgen die beiden für das Recht einer Gruppe unterdrückter Mormon:innen. «Von Gott gesandt» – aber mitnichten pazifistisch.

Krieg führen oder nicht? – Wie schon bei Corona haben alle den Eindruck, mit ihrer Ansicht in der Minderheitenposition zu sein. Überhaupt gibt es einige Parallelen zu den Diskussionen von damals (wie lange her es plötzlich scheint!). Evelyne beobachtet in ihrem Umfeld, dass es erstaunlich oft konservativere Christ:innen sind, welche jetzt Putins Angriffskrieg «verstehen», während sie gegenüber westlichen Regierungen ungleich kritischer eingestellt sind. Dieselben Menschen, die sich von den verordneten Covid-Massnahmen bevormundet fühlen, seien offenbar patriarchalen und autoritären Regimes nicht abgewandt, stellt sie verständnislos fest.

Abtreibungen ablehnen, aber Geburtskliniken zerbomben

Johanna gesteht ihre «heimliche Liebe» zu orthodoxen Liturgien, beobachtet aber bestürzt ähnliche Haltungen in der  russisch-orthodoxen Kirche. Überhaupt ist das Christentum dieser Tage vor allem wegen Patriarch Kyrill im Gespräch. Ultrakonservative, die damit einverstanden sind, Spitäler und Geburtskliniken zu bombardieren, aber den Westen dafür verachten, Abtreibungen zuzulassen.

Denselben Westen, der jetzt seine Gästebetten und Wohnzimmer Geflüchteten aus der Ukraine zur Verfügung stellt. An dieser Stelle mischt sich Beatrice ein und gibt ihrer Betroffenheit über den Rassismus gegenüber Geflüchteten Ausdruck. Was jetzt an Solidarität und unkomplizierter Integration möglich ist, sei ein Hohn gegenüber Menschen, die vor Kriegen in Afghanistan und Syrien geflohen sind und jahrelang in Asylzentren ausharren. Ein Artikel in der NZZ am Sonntag (Abo) hat diese Problematik aufgegriffen.

Nächstenliebe und Gerechtigkeit, wirft Johanna ein, seien laut Spinoza die wichtigsten Massstäbe einer Gesellschaft. Dies zeige und bewähre sich im konkreten und alltäglichen Handeln, was jegliche Form von Gewalt und Terror kategorisch ausschliesse. Umso trauriger sei es, dass sich mit der Ukraine und Russland nun zwei christlich geprägte Staaten im Krieg befinden.

Evelyne wiederum findet das irrelevant: Religiöse Prägungen spielten in dem Konflikt keine Rolle, sagt sie. Sie blickt in erster Linie auf die Welle der praktischen Nächstenliebe in der Schweiz, die ihrer Meinung nach nicht nachhaltig ist. Es sei zwar wunderbar, dass so viel Geld und Hilfsgüter gesammelt worden seien, doch in zwei Wochen werde das vergessen sein. Schon jetzt hofften viele nicht mehr aus Solidarität mit den Menschen aus der Ukraine, dass der Krieg bald fertig sei, sondern wegen der hohen Benzinpreise.

…und wir?

Wir kommen nicht auf einen grünen Zweig mit der Diskussion. Doch wir wollen sie auch nicht einfach am Redaktionstisch verhallen lassen. Was uns beschäftigt, wollen wir mit der RefLab-Community teilen. Wir hatten uns ja offen gelassen, uns möglicherweise trotz Fastenzeit in unseren Podcasts und Blogs mit der Aktualität zu beschäftigen.

All die Fragen, die wir an der Redaktionssitzung diskutiert haben, haben handfeste geo- und machtpolitische Aspekte und Auslöser. Doch viele davon berühren auch Themen der Ethik und Theologie. Deswegen suchen unsere Leserinnen und Hörer bei uns im RefLab andere Perspektiven darauf als bei anderen Medien. Denn ihr wisst: Wir sind keine geopolitischen Expert:innen, sondern Theolog:innen und Christ:innen.

Weil wir als Team ganz verschiedene Zugänge zur aktuellen Situation haben und auch unterschiedlich mit unserer Hilflosigkeit und Wut umgehen, ist es eine Chance, darüber ins Gespräch zu kommen. Wir tun dies in den nächsten Tagen und Wochen in Form von «Briefwechseln» hier im Blog. Bestimmt werden einige der Themen, die an der Redaktionssitzung angeschnitten wurden, dabei noch weiter in die Tiefe geführt. Und wir freuen uns, wenn ihr in den Kommentaren mitdiskutiert.

Falls ihr unseren Newsletter noch nicht abonniert habt, wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, dies nachzuholen: In diesen unregelmässig erscheinenden Mails halten wir euch über neu erscheinende Briefe auf dem Laufenden – und darüber, was wir bei uns im RefLab sonst noch so tun in der Fastenzeit ohne fixen Redaktionsplan.

 

Illustration von Rodja Galli

Bisher im RefLab zum Ukrainekrieg erschienene Artikel und Podcasts (zukünftige Artikel werden wir im Dossier Ukraine-Krieg ablegen): 

Luca Zacchei rezensierte ein 2019 erschienenes Buch über das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen. Stephan Jütte prangerte in den ersten Tagen des Kriegs die Neutralität der Schweiz an und diskutierte mit Pfarrerin Sibylle Forrer, wo man da noch Hoffnung finden soll. Später fragte er, was wichtiger sei: Demokratie oder Überleben? Bei Johanna Di Blasi lösten die Bilder von Geflüchteten Assoziationen mit russischen Angriffen auf osteuropäische Staaten im Zweiten Weltkrieg aus. Und wie man auch in schwierigen Zeiten Glück finden kann, darüber sprach sie mit der Philosophin Ariadne von Schirach im Podcast TheoLounge.

Alle Beiträge zu «Briefe zum Krieg»

4 Kommentare zu „Briefe zum Krieg, Teil 1: Protokoll aus der Redaktionssitzung“

  1. Hallo zusammen!
    Spannende Diskussion!
    Doch, theologisch gibt’s einiges zum Thema: Ich hab‘ meine Liz-Arbeit über die Lehre vom gerechten Krieg geschrieben;
    Dieter Baumann: Militärethik und auch das Handbuch zur Militärseelsorge geben da gute Inputs!
    Fragt doch mal eine/ einen „Feldprediger*Inn an- wir machen immer wieder Vorträge zum Thema…

    Das nur so als „Input“
    Gruss Roland

    1. Lieber Roland, genau diese Lehre habe ich auch erwähnt! Ich nehme sie in meinem Blogbeitrag, der heute Abend erscheint auch auf 😉

  2. Ich finde Evelynes Beobachtung hinstl. der konservativen Christen (die ich nicht mehr als konservativ bezeichnen würde, sondern als fundamentalistisch oder neurechts) überhaupt nicht erstaunlich. Patriarchale und anti-zeitgeistliche Denkweise sind doch zwei ihrer Markenzeichen.
    Und diese Entwicklung hat sich ja schon beim Thema Klimawandel angebahnt. Weil diese Menschen immer wieder und immer stärker nur noch ganz bestimmte (neurechte, antidemokratische) Informationsquellen nutzen, die zT direkt oder indirekt mit Russland verknüpft sind. Aus meiner Sicht ein Teil der putinschen Strategie, im Westen Menschen gegen den Westen aufzuhetzen.

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