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Briefe zum Krieg, Teil 3: Gerechtigkeit trotz Krieg

Nebel des Krieges

Kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs schrieb Sigmund Freud:

«Von dem Wirbel dieser Kriegszeit gepackt, einseitig unterrichtet, ohne Distanz von den großen Veränderungen, die sich bereits vollzogen haben oder zu vollziehen beginnen, und ohne Witterung der sich gestaltenden Zukunft, werden wir selbst irre an der Bedeutung der Eindrücke, die sich uns aufdrängen, und an dem Werte der Urteile, die wir bilden.»

Und kurz nach dem Angriff Putins auf die Ukraine schrieb Alexander Kluge in der «Zeit»:

«Keine Politik oder Redeweise der Selbstgewissheit. In der derzeitigen Debatte behauptet jede Seite, jedes Gremium die Übersicht zu haben. Die gibt es aber gar nicht. Wir sprechen mit dem großen Kriegstheoretiker Clausewitz von den ‹Nebeln des Krieges›. Sowie der Krieg ausbricht, ist alles unbestimmt.»

Das ist das erste, was ich sagen möchte: Die Form, in der oft über Krieg geredet und gefachsimpelt wird, bereitet mir Unbehagen: die zumeist erhobene Perspektive und Abstraktion, von der Dachkante aus, die Feldherrenperspektive, in Verbindung mit sicherer Sofadistanz zum blutigen Weltgeschehen. Oder wie über ein Schachspiel gebeugt, als handle es sich beim realen Töten um ein Strategiespiel.

Der Putin-Hofphilosoph Alexander Dugin bezeichnete das militärische Eindringen in die Ukraine als geostrategischen Schachzug auf dem Weg zu einer multipolaren Weltordnung, während zeitgleich Panzer rollten und Unschuldige in ukrainischen Städten und Dörfern starben. Ein gruseliges und zugleich törichtes Zeitdokument eines gerade erst angelaufenen Krieges – vielleicht des Dritten Weltkrieges.

Gerechtigkeit im Krieg statt gerechter Krieg

Eine Theologie des Krieges brauchen wir nicht, genauso wenig wie eine Theologie der Vergewaltigung oder eine Theologie der Grausamkeit. Für eine Theologie des Krieges sorgen schon andere: islamistische Fundamentalisten oder Moskaus Kyrill. Dieser überhöht den unprovozierten Angriffskrieg zu einem «metaphysischen Kampf».

Das massenhafte Morden billigt der Patriarch im Namen «des Rechts, sich auf der Seite des Lichts zu positionieren, aufseiten der Wahrheit Gottes, aufseiten dessen, was uns das Licht Christi, sein Wort, sein Evangelium offenbaren». Ich sympathisiere mit ganzem Herzen mit Gegnern einer solchen Theologisierung des Krieges.

Stephan hat sich gegen die Psychologisierung Putins gewandt. Ich bin damit einverstanden. Er ersetzt sie durch seine Moralisierung, Putin sei böse. Damit bin ich nicht einverstanden. Ich halte mich auch hier an Alexander Kluge, der sagte, dass wir «mit einer Psychologisierung Putins oder mit einer moralischen Haltung, die wir im Westen alle teilen, keine Sicherheitsstruktur gewinnen» könnten.

Was ist mit der Moralisierung gewonnen? Die Kategorie des Bösen hat stets etwas Selbstgebärendes. Sobald der/die andere böse ist, darf ich das mit gutem Gewissen auch sein. Sie ist eine Lizenz zur Selbstenthemmung. Damit macht sie alles noch schlimmer. Vor allem in der Politik.

Mit dem Bösen kann man keinen Frieden aushandeln.

Und warum bräuchte eine «Theologie des Krieges» das Böse? Das ist keine spezifisch theologische Kategorie, auch keine politische oder rechtliche, sondern in erster Linie eine moralische. Und was ist damit gewonnen, wenn Theolog:innen, wenn Christ:innen diese Kategorie nun auf Putin anwenden? Überlassen wir diese scharfmachende Rhetorik Kyrill, der Russlands Gegner – zwanzig Jahre nach George W. Bush‘ «Axis of Evil» – «Kräfte des Bösen» nannte.

Gerechtigkeit ist unverzichtbar, wie die Nächstenliebe. Beides bietet uns Orientierung in den dichten Nebeln des Krieges. Zur Gerechtigkeit gehört der Versuch, gerecht zu bleiben, wenn die Emotionen aufgewühlt werden. Und dazu gehört der Wille, den Dingen gerecht zu werden.

Zur (Sach-)Gerechtigkeit gehört auch die nüchterne Prüfung der Frage, ob der Begriff des «gerechten Krieges» noch Anwendung finden kann in einer Zeit, in der Kriege zu ungeheuerlichen Völker- und Materialschlachten mit der Perspektive auf atomare Vernichtung entartet sind. Auch deswegen ist Krieg geächtet, und das schon seit knapp 100 Jahren.

Nun kann man sagen: Genau diese völkerrechtliche Ächtung habe die Kategorie des ungerechten Krieges rehabilitiert. Aber schon Carl Schmitt, bekanntlich kein Pazifist, sah die Probleme dieser Tendenz, aus dem Feind einen Verbrecher zu machen. Gerade die Kategorie der Feindschaft habe eine Symmetrie und damit eine wechselseitige Anerkennung des anderen beinhaltet, durch die der Krieg eingehegt und humanisiert worden sei. Das habe die Ausartung von Kriegen in «totale Kriege» erschwert. Dies sei aber nicht leicht, denn «es fällt den Menschen schwer, ihren Feind nicht für einen Verbrecher zu halten.»

Seit ich Kriege bewusst als Zeitzeugin miterlebe, musste ich beobachten, wie der jeweilige Feind als pathologisches Ungeheuer und moralischer Schwerverbrecher gezeichnet wurde. Stets wurde aus ihm (Saddam Hussein, Slobodan Milošević, Baschar al-Assad, Kim Jong‐il) ein neuer Hitler, ein Schlächter und Massenmörder.

Gerade deswegen hat mich zutiefst deprimiert, was ich vergangenen Samstag am Berner Bundesplatz erlebte, wo der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski zugeschaltet war und viele Menschen gelbblaue Fahnen schwenkten. Die Demonstrierenden hatten meine Sympathie. Dann aber kam ein Redner, der schallende Vergleiche zwischen Putin und Hitler anstellte, um direkt anschliessend und laut skandierend eine no-fly zone über der Ukraine zu fordern.

Es ist nicht so, dass mir seine Perspektive vollkommen unverständlich wäre. Aber ich werde mich nicht kritiklos einer Dynamik überlassen, die von der Moralisierung über die Dämonisierung eine Eskalation und Emotionsaufheizung betreibt, an derem Ende ich Handlungen bejahen soll, die uns einem apokalyptischen Atomkrieg einen oder auch zwei Schritte näher bringen.

Es scheint leicht, sich wenigstens darauf zu verständigen, dass Angriffskriege immer ungerecht und Verteidigungskriege dagegen immer gerecht sind. Aber selbst hier stösst man auf ein Problem: Denn dann würden stets zwei Kriege zugleich und am gleichen Ort geführt: ein ungerechter und ein gerechter. Es gebe keinen gerechten, ohne einen ungerechten Krieg, auf den der gerechte notwendig antwortet. Hier verwirrt sich alles, und vielleicht ist das ein Grund, warum Völkerrechtler nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Kategorie des Kriegs zunehmend verzichteten.

Der berühmte Art. 2, Absatz 4 der UNO-Charta spricht bemerkenswerterweise nicht von Krieg, sondern verbietet stattdessen die Androhung und Anwendung von zwischenstaatlicher Gewalt.

100 Jahre Ächtung des Kriegs

Dass Putins Russland gegen diesen Artikel verstossen hat, ist evident. Der Internationale Gerichtshof, das höchste Gericht der Vereinten Nationen, hat angeordnet, dass Russland sofort die militärische Gewalt in der Ukraine beenden soll und gab damit einer Klage der Ukraine gegen Russland statt.

Dass Putin als Kriegsverbrecher vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) gestellt würde, wäre ein Fortschritt in der internationalen Gerechtigkeit. Aber Russland ist dem IStGH nicht beigetreten. Und die USA sind es auch nicht. Und auch das wäre gerecht: Wenn Biden nicht nur Putin einen Kriegsverbrecher nennen würde, sondern darauf hinarbeiten würde, dass die USA dem Internationalen Strafgerichtshof beitreten würden. Stattdessen ist der Präsident ermächtigt, eine militärische Befreiung von US-Staatsbürgern anzuordnen, die sich in Den Haag vor dem IStGH verantworten müssten. Und die USA betreiben auch unter seiner Führung die Auslieferung von Julian Assange und bedrohen jemanden mit höchsten Strafen, der amerikanische Kriegsverbrechen öffentlich gemacht hat.

Statt anachronistisch von «gerechten Kriegen» zu reden, ergreifen wir doch die Gelegenheit, um, fast hundert Jahre nach der ersten Ächtung des Kriegs 1928 (Briand-Kellogg-Pakt), eine Stärkung des Internationalen Strafgerichtshofs anzustreben!

Einen Strafgerichtshof, vor den ein Putin genauso gestellt werden könnte wie ein amerikanischer Präsident. Das wäre gerecht. Und das wäre ein Schritt zum Frieden. Denn Kriege führen nicht zu Gerechtigkeit. Und ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden.

Graphik: Rodja Galli

Alle Beiträge zu «Briefe zum Krieg»

9 Kommentare zu „Briefe zum Krieg, Teil 3: Gerechtigkeit trotz Krieg“

  1. Spannender Diskussionsbeitrag. Für mich bleibt bloss die Frage der tatsächlichen Umsetzung. Die „ganz grossen Fische“ wie Staatsführer wurden nur selten vor den Internationalen Gerichtshof gebracht.
    Und was hilft diese sozusagen „zukünftige“ Perspektive jetzt der Ukraine?
    Ich glaube auch nicht, dass ein Verzicht der Kategorie des Bösen zielführend ist. Im Gegenteil. Vielleicht ist es hilfreich zwischen Personen, die man als böse bezeichnet und bösen Taten zu differenzieren. Aber wie soll man sonst die Kriegsverbrechen des 3. Reiches, die offensichtlichen Lügen der Bush-Administration im Irakkrieg, der Einsatz von Giftgas gegen die eigene Bevölkerung durch Saddam Hussein, die Folter von Gefangenen in Guantanamo und die Kriegsverbrechen, die aktuell durch die Regierung Russlands begangen werden sonst bezeichnen.
    Ist der Verzicht der Kategorie des Bösen nicht eine Nivellierung? Wenn des das Böse nicht gibt? Gibt es dann überhaupt das Gute?

    1. Vielen Dank für Ihren Beitrag. Es geht mir nicht um einen grundsätzlichen Verzicht auf die Kategorien Gut und Böse, und ich persönlich zweifle auch nicht daran, dass man Putin als böse bezeichnen kann und seine aggressiven Taten sogar muss. Aber ich zweifle daran, das damit in der gegenwärtigen Lage viel gewonnen ist. Hingegen sehe ich sehr wohl auch Gefahren einer Moralisierung, wie ich in meinem Artikel geschrieben habe. Im Übrigen glaube ich nicht, dass die Kategorie des Bösen hier unverzichtbar ist. Gerade, wenn man wie ich, eine Verrechtlichung internationaler Konflikte für einen Fortschritt hält, reichen rechtliche Kategorien vollkommen aus. So wie wir auf staatlicher Ebene Verbrecher nicht als böse bezeichnen müssen, um sie gerichtlich zu verurteilen, so braucht es diese Kategorie auch nicht im Umgang mit internationalen Verbrechern.

      1. Johanna, Sie formulieren sinngemäß:

        „Eine Verrechtlichung internationaler Konflikte sind ein Fortschritt. Rechtliche Kategorien reichen vollkommen aus. Wir müssen Verbrecher auf staatlicher Ebene nicht als böse bezeichnen, um sie gerichtlich zu verurteilen, auch nicht entsprechende internationale Verbrecher.“

        Wie funktioniert Ihrer Meinung nach eine nachhaltige gerichtliche Umsetzung des Rechts in dieser akuten Situation? Und wer kann bei dazu unterschiedlichen Rechtsverständnissen wie und warum gewinnen?

        Verlierer, unschuldig, haben wir bereits unsäglich auf allen Seiten in unzählbarer Schar.

        1. Lieber Tom Jay, mein nächster Brief geht in eine andere Richtung, daswegen möchte ich doch direkt hier antworten. Das ist sicher das Grundproblem des jetzigen Völkerrechts: die Schwierigkeit, effektiv Massnahmen zu ergreifen, die im Kapitel 7 der Charta der Vereinten Nationen angeführt sind. Zum Teil scheint das Problem schon darin zu liegen, dass der UN-Sicherheitsrat die gegenwärtigen Machtverhältnisse nicht mehr adäquat abbildet. Fundamentaler ist sicher das Problem des Vetorechts. Das noch tiefer liegende Problem ist, dass nach heutiger Sicht schwer vorstellbar ist, dass Atommächte auf ihre Souveränität verzichten und gegen sie gerichtete Urteile eines Strafgerichtshofs anerkennen würden (Sie erkennen derzeit ja nicht einmal das Strafgericht selbst an). Da ich aber keine Alternative zu einer Stärkung dieser völkerrichtlichen Institutionen sehe, möchte ich die Hoffnung auf Entwicklungen in diese Richtung auch nicht aufgeben. Sowie nach WK I und II grosse Schritte in diese Richtung unternommen wurden, die man zuvor wahrscheinlich auch nicht für realistisch gehalten hatte, so würde ich nicht ausschliessen, dass das auch in Zukunft und sogar durch den Ukrainekrieg der Fall sein könnte.

  2. Wir alle spielen mit um Macht, Geld und Sex, wer aufsteigt wird von Neid begleitet, Wut und Hass, Schuld und Sühne gehören dazu. Es gibt kein Gut oder Böse, weder in Ost noch West, wir tragen alle Attribute in uns, sie begleiten uns durchs Leben. Wir sind verlogen und scheinheilig, schuld sind immer die Anderen. Das mehr an Macht und Geld führen in die Einsamkeit, Isolation und Angst. Grosszügigkeit, Loslassen „Geben ist seliger denn Nehmen“ führt zum Du, vom Ichbewusstsein zur Ichlosigkeit, zur absoluten Freiheit. Ich kenne keinen anderen Weg.

    Ursache und Wirkung, das Perpetuum mobile hört nie auf. Wir sitzen alle im selben Boot, wir können nur uns selber ändern. «Wir müssen selbst die Veränderung sein, die wir in der Welt zu sehen wünschen» lehrte schon Mahatma Gandhi.

  3. Ihre Gedanken sind grundsätzlich interesant und geeignet für ein theologisch-philosophisches Grundlagenseminar. Aber Ihre gelassene Art, mit Bezug auf Zitate von allerlei geistesgrössen Noten zu verteilen an jene, die sich im Moment leidenschaftlich damit abmühen, intellektuell und praktisch das zu verarbeiten, was jetzt in der Ukraine geschieht, scheint mir komplett aus der Zeit gefallen. Ihre Gedanken kommen daher, als gäbe es gar keinen Angriffskrieg und keine Ungeheuerlichkeiten und keine grundlegenden Verletzungen völkerrechtlicher Prinzipien und humanitärer Regeln und – als würde nicht die grosse Frage im Raum stehen, WIE denn dieser Ungeheuerlichkeit begegnet und wie sie in Zukunft verhindert werden kann.

  4. Sehr geehrte Frau di Blasio, wie können Sie zur Lösung des Angriffskriegs von Russland auf die Ukraine ein völkerrechtliches Instrument wie einen internationalen Strafgerichtshof (haben wir den nicht schon?) vorschlagen? Genau dieser Krieg demonstriert ja, dass eine militärisch hochgerüstete militaristische Grossmacht sich um dieses Völkerrecht foutiert und dass – nicht zum ersten Mal – das Völkerrecht in solchen und ähnlichen Fällen (in anderen Fällen ist es sicher hilfreich) eine vollständig machtlose Instanz ist.

    1. Danke, Herr Gasser, für Ihre Anmerkungen. Ich glaube, es besteht kein Dissens zwischen uns, dass in einer akuten Situation nur akute Massnahmen helfen (Unterstützung der Flüchtenden und des Widerstands der Angegriffenen, Schwächung der Aggressoren etc.). Dass die Institutionen der UN ziemlich machtlos dastehen, gerade angesichts der Aggression einer Vetomacht im UNO-Sicherheitsrat, ist offensichtlich. Aber genau deswegen glaube ich, dass wir darüber nachdenken sollten, wie wir diese Institutionen stärken können. Ich sehe nicht, was die Alternative wäre. Wenn man das Völkerrecht aufgrund seiner Schwäche ganz aufgeben würde, könnte man ja auch nicht einmal mehr wie Sie von einer Verletzung völkerrechtlicher Prinzipien sprechen.

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