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Briefe zum Krieg, Teil 5: Friede & Gerechtigkeit brauchen Gewalt

Dass euch – Johanna und Manu – die Rede vom «gerechten Krieg» nicht gefällt, habe ich nicht nur vermutet, als ich meinen Beitrag geschrieben habe. Vielmehr habe ich diese Begriffskombination gewählt, weil ich meinen Gedanken zuspitzen und schärfen wollte. Du, Johanna, suchst den Ausweg in einem internationalen Gerichtshof, den alle Seiten respektieren. Du, Manu, siehst die pazifistischen Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft. Für euch beide darf kein Krieg «gerecht» genannt werden.

Der gerechte Krieg

Ich glaube, dass sich im letzten Punkt eure Intuitionen mit dem Konzept des «gerechten Krieges» decken. Denn gerecht genannt wird nicht das, was ein Krieg ist. Im Konzept des «gerechten Krieges» wird nur dieser letzte Weg, der keine Option, sondern die erzwungene Selbstverteidigung meint, gerecht genannt. Und selbst dann rechtfertigt das Ziel nicht jedes Mittel.

Es mag auf beiden Seiten zu unverhältnismässiger Gewalt kommen. Das kann sein. Aber die Grunddifferenz bleibt: Putins Russland führt einen nicht legitimen, ungerechten und von Grund auf falschen Krieg gegen die Ukraine. Und sie führen diesen Angriffskrieg ungerecht, indem sie Krankenhäuser und andere zivile Einrichtungen bombardieren. Die Ukraine ist das Opfer. Die ukrainische Armee verteidigt ihren Boden, ihre Bürger und ihre Freiheit.

Sie führen keinen Krieg. Der Krieg ist über sie gekommen. Das alles zeigt das Konzept vom «gerechten Krieg».

Das drittgrösste Atomwaffenarsenal

Bis 1994 verfügte die Ukraine über das drittgrösste Atomwaffenarsenal der Welt. Sie haben das Budapester Memorandum unterzeichnet und ihre Atomwaffen abgegeben. Ein friedenserhaltender Akt. Aber schon 2005 (Gasstreit zwischen Ukraine und Russland), spätestens aber seit 2014, verstösst Russland systematisch gegen diese Vereinbarung. Sind wir froh, dass die Ukraine keine Atomwaffen besitzt? Sicher. Hätte der Westen bereits 2014 reagiert, wenn die Ukraine eine Atommacht wäre? Sicher.

Kraft, Recht durchzusetzen

Johanna: Wie denkst du dir einen Gerichtshof, der Putin dafür zur Rechenschaft ziehen könnte? Ohne Gewaltmittel?

Manuel: Welcher Widerstand wäre gegen das Kriegsverbrechen Putins geeignet? Auf Seiten der Ukraine?

Ich schätze gewaltfreien Widerstand und insbesondere zivilen Ungehorsam nicht gering! Aber sie sind die Mittel des russischen Volkes, der russischen Armee und nicht diejenigen der Ukrainerinnen und Ukrainer. Diese Unterscheidung ist mir sehr wichtig. Ja, der Krieg kann durch zivilen Ungehorsam, durch Friedensmärsche und durch mutige Aktionen einzelner Menschen gestoppt werden. Aber in Moskau, nicht in Kiev. Und darauf würde ich nicht vertrauen. Jedenfalls nicht einzig und allein.

Und natürlich sind internationale Strafgerichtshöfe wichtig. Und die Verbindlichkeit ihrer Urteile sollte gestärkt werden. Doch sie sind keine Alternative zu einer schlagkräftigen Armee, die als kaserniertes Gewaltmittel den Verfahren und Urteilen solcher Gerichte zur Durchsetzung verhilft.

Ohne Gewalt fehlt auch die Kraft, Recht durchzusetzen und es für alle verbindlich zu machen.

Die USA setzen seit langer Zeit auf eine starke NATO. Ausser von den Briten und Franzosen wurden sie dafür jahrelang von allen übrigen belächelt.

Friede ist ein agiles Gleichgewicht

Ich glaube, es ist an der Zeit, realistischer zu werden und zu akzeptieren, dass uns die Gegenwart etwas lehrt, was wir in unseren bisherigen Konzepten nicht aufnehmen können: Friede lebt – global verstanden – von einem agilen Gleichgewicht zwischen denjenigen, die Macht haben, ihre Interessen durchzusetzen. Diplomatie ist keine ideale Kommunikationssituation, in der sich das bessere Argument qua Vernunft durchsetzt.

Argumente erhalten in politischen Auseinandersetzungen ihre Wucht durch die Macht, mit der die mit ihnen verbundenen Anliegen durchgesetzt werden können.

Kein Friedensgespräch hätte Nachdruck, keine Wirtschaftssanktion Wirkung und kein Pazifismus Zukunft, wenn das, wofür wir leben, nicht auch schliesslich mit allem, was wir haben, verteidigt werden könnte. Je stärker das Dispositiv hinter diesem Konjunktiv ist – das zeigt die Geschichte – desto unwahrscheinlicher bleibt es, dass es realisiert werden muss. Aber auch das ist wahr: Eine grosse Armee schützt vor eigener Dummheit nicht!

Wer Friede will, braucht Waffen

Was es darum braucht, ist eine gemeinsame europäische Aussenpolitik und europäische Streitkräfte. Da wir beides nicht hatten, haben wir einseitig auf Handel gesetzt.

Putin hat unterdessen in Tschetschenien und Syrien den Krieg geübt, seine Kriegskasse gefüllt und seine Oligarchen beseitigt oder auf Linie gebracht.

Es wird immer Herrscher geben, die den Tod von Menschen in Kauf nehmen, um ihre geostrategischen Ziele zu erreichen. Es wird immer militärische Kräfte brauchen, die stoppen, was die Zivilgesellschaft nicht aufhalten konnte. Der Friede lebt nicht vom Rechtssystem oder pazifistischen Bemühungen allein. Beide werden bedingt durch die Möglichkeit rechtserhaltender Gewalt. Wer Frieden will, braucht Waffen und die entschlossene Hoffnung, sie vielleicht nie einsetzen zu müssen. Und wenn doch, dann gegen das Böse.

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4 Kommentare zu „Briefe zum Krieg, Teil 5: Friede & Gerechtigkeit brauchen Gewalt“

  1. Religion darf nie vom gerechten Krieg reden, sonst ist sie – jedenfalls nach meiner Meinung – völlig unglaubwürdig und kann schnell gefährlich werden. Wieso? Der Schöpfer, göttlichen Liebe manifestiert sich in der Schöpfung, im grenzenlosen Leben, in Raum und Zeit. Göttlichen Liebe ist wie die Sonne, sie sendet ihre Strahlen auf die Erde, ungeachtet von Gut und Böse. Nur menschliche Vorstellungen unterscheiden Gut und Böse, Schön und Hässlich. So gesehen, hat jede Handlung – kurzfristig oder längerfristig, einen gerechten und ungerechten Teil – eine bestimmte Wirkung. Was heute passiert und uns empört oder erfreut, sind die Ursachen vergangener und vielmals vergessener Taten. Das mächtige Kausalitätsgesetz besagt, alles im Weltraum ist abwechselnd Ursache und Wirkung.

    Wir müssen uns klar positionieren und Stellung beziehen. Europa muss zusammenrücken, wir Schweizerinnen und Schweizer müssen zusammenrücken, dieser brutalen Bedrohung müssen wir gemeinsam und entschlossen die Stirn bieten. Hilfsbereitschaft, Ethik, Mitgefühl, Demut UND Kampfbereitschaft schliessen sich nicht aus. „Den Schwanz einziehen“ geht nicht mehr, verhandeln ist ok, aber ohne faulen Kompromisse. Die Verteidigung der Unabhängigkeit und Freiheit ist nicht einfach, die Ukrainerinnen und Ukrainer sind ein Vorbild.

  2. Du hast Argumente, traditionelle Vernunft, Geschichte seit der Antike (Cäsar: „si vis pacem, para bellum!“) auf deiner Seite! Leuchtet alles ein. Und dennoch ist diese Logik irgendwie „erbärmlich“. In fast allen anderen Bereichen (Gender, LGBTIQ-Rechte, Rassismus) haben wir (nicht alle, aber doch inzwischen mehrheitsfähig) inzwischen Paradigmenwechsel geschafft, die alten Logiken, Argumente und dualistischen Metaphysiken verlieren ihre Plausibilität. Aber ausgerechnet im Bereich Krieg und Frieden, Umgang mit Bösem und Gewalttätern soll immer noch die gleiche, alte Logik weiter und selbstverständlich, offengbar fast naturrechtlich gelten? Weshalb eigentlich?
    Du redest gerne von deiner Gottes-Reich-Hoffnung. Ich auch. Das beinhaltet jedoch Bergpredigt-Ethik, ganz besonders im Bereich Entfeindungsliebe, Friedensstiftung, Gewaltlosigkeit. Aber statt visionär-utopisch dem endlich mal eine Chance zu geben, setzen deine Argumente eigentlich unhinterfragt Bismarck („Mit der Bergpredigt lässt sich keine Politik machen“) als universal und unhinterfragbar gültig voraus.
    Die alte Logik kennen wir seit Jahrhunderten. Hat sie je mehr als Frieden in Form von vorübergehender Abwesenheit von Krieg geschaffen? Ist die atomare Kaltkriegslogik M.A.D. (Mutually Assured Destruction) wirklich nicht bloss „mad“, sondern weise?
    Wäre es nicht an der Zeit (leider vielleicht nicht während eines aktiven, aber nach diesem Krieg) mal das andere, gewalt- und waffenfreie Paradigma mindestens zu versuchen? Das wurde nämlich noch gar nie wirklich versucht. Die atomfreie Ukraine kommt dem noch nicht nahe. Aber was wäre geschehen, wenn sich die NATO nach dem Mauerfall selbst entwaffnet und Russland in die europ. Gemeinschaft integriert hätte? Hätte der böse Mann im Kreml das als gefundenes Fressen ausgenutzt oder ohne latente NATO-Bedrohung doch auch die nötigen Schritte getan? Ich weiss es nicht. Aber mindestens einmal in der Weltgeschichte den andern, jesuanischen Weg zu versuchen statt die alte, unter alten Prämissen und Paradigmen einleuchtende Logik zu verfolgen, wäre zumindest einmal einen Versuch wert, oder nicht? (evt. leider „wert gewesen“, denn m.E. bestand die Chance nach 1989 sehr wohl, heute leider viel weniger).

  3. Lieber Stephan
    Was soll ich sagen: genau meine Meinung! Hier noch ein Hinweis: warum wird im christlichen Milieu oftmals der Militärdienst, nie aber die Polizei wegen ihrem Gewaltmonopol hinterfragt? Kann ich als christlicher Pazifist Polizist sein?
    Gruss und ich freu mich auf unser Gespräch

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