Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 5 Minuten

Ukraine-Krieg und die Schwäche westlicher Demokratien

Putins Kalkül

Putin hat bis zum Tag seiner Kriegserklärung diplomatische Gespräche geführt. Er hat behauptet, dass Russland Truppen abziehe. Niemand hat ihm zugetraut, mehr zu verlangen, als die ohnehin schon besetzten Gebiete. Nun bombardiert er die ganze Ukraine und beschiesst sie aus allen Himmelsrichtungen. Manche fragen sich, ob er wahnsinnig geworden sei. Ob er abgeschottet von der Realität in einer eigenen Wirklichkeitsblase, umgeben von kopfnickenden Schergen lebe.

Wahrscheinlich ist er nicht wahnsinnig. Er ist ein Verbrecher und wer ihn bewundert muss zynisch sein. Aber seine Kriegshandlungen sind nicht das Resultat einer geistigen Verwirrung, sondern folgen einem Plan.

Er wird versuchen, einen kurzen Krieg zu führen, die Regierung zu stürzen und eine Marionettenregierung einzusetzen. Zu lange darf der Krieg nicht dauern, will sich Putin innenpolitisch nicht schwächen. Gelingt ihm dies, ist Russlands Westgrenze gegenüber den Nato-Staaten breit abgeschirmt. Denn mit Lukaschenko hat sich Putin in den letzten Jahren immer besser verstanden und im Herbst 2021 sogar einen gemeinsamen Wirtschaftsraum von Belarus und Russland und eine stärkere militärische Interaktion der Staaten vereinbart. Viel wichtiger als dieser territoriale Grenzpuffer ist jedoch das Zeichen, das Putin an die Nachbarstaaten aussendet:

Schaut her, der Westen ist kein starker Partner, kein verlässlicher Freund. Ich falle in ein Land ein und nehme es mir. Die dekadent gewordenen Demokratien schauen nur fassungslos zu.

Westliche Formprobleme

Das geschieht just zu einem Zeitpunkt, in dem die USA nicht mehr Welt-Polizei spielen mögen und ihre Kriegseintritte ökonomisch kalkulieren. Es geschieht in einer Zeit, in der die Nato durch die Folgen der aussenpolitischen Verunsicherung durch die Trump-Regierung geschwächt ist. Und in einem Moment, indem sich alle an den schmachvollen Truppenabzug aus Afghanistan erinnern: Nein, der Westen ist wahrhaftig kein verlässlicher Freund.

Von der EU gar nicht zu reden. Sie hat Griechenland im Stich gelassen, sich in der Flüchtlingsfrage von mehr als einem Autokraten erpressen lassen und gegenüber Assad in Syrien einen peinlichen Schlingerkurs hingelegt: Ultimative Forderungen nach einem Regimewechsel, Aufweichung der Rhetorik, Sanktionsregime und Aufbauhilfe, die sich gegenseitig im Weg stehen.

Zu keinem Zeitpunkt hat die EU zu einer gemeinsamen Haltung gefunden, nie hat sie aussenpolitisch eine ernstzunehmende Rolle gespielt.

Zu sehr ist sie mit den eigenen Problemen, den eigenen Populisten von Rechts (Ungarn, Polen, Italien, Österreich) oder den EU-Skeptikern (Grossbritannien, Slowakei) beschäftigt. Die EU ist nicht zu einer Wertgemeinschaft zusammengewachsen, sondern gibt das Bild einer zerstrittenen, dysfunktionalen Patchworkfamilie ab. In Österreich und Italien bisweilen sogar einer Reality-Show.

Träge Demokratie

Armin Nassehi erinnert in seinem jüngsten Beitrag an Ulrich Becks Essay, den dieser 1993, kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, verfasst hat. Beck beschreibt darin, wie der Systemantagonismus zwischen Ost und West die Demokratie unterscheidbar gemacht und identitätsbildend gewirkt habe. Als feindlose Demokratie seien die demokratischen Staaten zu «Versorgungsstaaten geschrumpft». Insofern böte der Krieg Putins wenigstens die Chance, die Demokratie selbst wieder zu einem gesellschaftlichen Thema zu machen: «Wir haben wieder einen Feind, der den Blick auf uns selbst lenkt. Nehmen wir ihn intellektuell an.»

Dass dies mindestens kein Selbstläufer wird, kann man ausgerechnet an einer der stolzesten Demokratien beobachten. Während die EU und die USA wenigstens harte Sanktionen aussprechen und der US-Präsident Biden bemüht ist, die Reihen liberaler Rechtsstaaten und freiheitlicher Demokratien zu schliessen, kann sich ausgerechnet die Schweiz zu beidem nicht durchringen. Sie verzichtet auf Sanktionen und begründet dies mit ihrer Neutralität.

Es gibt keine Neutralität

Die Schweiz ist eine wichtige Anlaufstelle für Banken und Investoren aus Russland. Sogar angesichts des Völkerrechtsbruchs ist die Schweiz nicht bereit, die EU-Sanktionen zu übernehmen. Diese Haltung kann man nicht mit der Neutralität begründen. Die Neutralität als Teil des Völkergewohnheitsrechts sieht vor, dass neutrale Staaten sich der Teilnahme an Kriegen zu enthalten haben, ihre Selbstverteidigung sicherstellen, Kriegsparteien im Hinblick auf den Export von Rüstungsgütern gleich behandeln, keine Söldner zur Verfügung stellen und ihr Territorium keiner Kriegspartei überlassen.

Und es ist keineswegs so, dass schweizerische Sanktionen wirkungsarm wären!

Rund 80% des russischen Rohstoffhandels erfolgen über die Schweiz. Sie ist die Drehscheibe für die Vermögensverwaltung der Superreichen und den weltweiten Handel mit Rohstoffen.

Weil die Regierung den Angriff Russlands auf die Ukraine klar verurteilt hat, wäre die Grundlage für Massnahmen gegeben.

Während die USA und die EU russische Gelder auf ihren Banken einfrieren, hat die Schweiz lediglich beschlossen, keine neuen Gelder anzunehmen. Das ist eine Schande! Aber es passt zu unserer Aussenpolitik, die schon gegenüber dem südafrikanischen Apartheid-Regime mehr Wirtschaftspolitik war. Vom 2. Weltkrieg gar nicht zu reden.

Was man hoffen darf

Die Schweiz steht, nur ein paar Tage nach #SuisseSecrets, wieder als unsympathische Rosinenpickerin im Schaukasten der Weltöffentlichkeit. Sie lernt nur schwer. Und in den letzten Jahren nur unter massivem Druck der USA und der EU. Ob es diesmal reicht, ernsthaft und als wirkliche Demokrat:innen über unsere Verantwortung und unsere Neutralität nachzudenken? Man darf es hoffen.

Gewiss, in der jetzigen Lage ist die Schweiz kein Vorbild für eine gut funktionierende, intellektuell stabile Demokratie. Aber vielleicht kommt etwas in Gang, in dem die westlichen Demokratien zu spüren bekommen, dass Form nicht unumstritten ist. Im besten Fall erinnert uns das an die wirklichen Triebkräfte und Werte, die wir einst mit dieser Staatsform verbunden hatten. Es würde den Krieg nicht ungeschehen machen und es könnte seinen Schrecken nicht aufheben, aber in dieser furchtbaren Sinnlosigkeit wäre es eine echte Freude, wenn wir glauben könnten, dass uns dieses Unrecht wachgerüttelt und uns daran erinnert hat, dass unsere demokratische Form nicht etwas ist, das wir haben, sondern das ist, was uns ausmacht.

Wir könnten darin eine Identität wiederfinden. Bestenfalls unsere.

Traurig und unbegreiflich bliebe doch, dass die Menschen in der Ukraine dafür bezahlen. Unverzeihlich bleibt für immer, wenn wir daran auch noch verdienen.

Im RefLab sind weitere Beiträge zum Thema «Krieg gegen die Ukraine» erschienen:

Bellizistische Männlichkeit

Suisse Secrets: Gott oder Geld?

 

 

 

4 Kommentare zu „Ukraine-Krieg und die Schwäche westlicher Demokratien“

  1. Rainer Kirmse , Altenburg

    FRIEDENSAPPELL

    In Europa endet das Friedensglück,
    Das Reich des Bösen meldet sich zurück.
    Der Angriffskrieg, eine scheußliche Tat,
    Fluch über Putin samt Machtapparat.
    Lasst die Ukraine jetzt nicht allein,
    An Dnepr und Donez muss Friede sein.

    Ihr Völker der Welt, schaut auf dieses Land.
    Die Waffen nieder und den Krieg verbannt!
    Sofort stoppen den Kampf und das Leid,
    Zum Sieg verhelfen der Menschlichkeit.
    Den Erdball frei von Hass und Aggression,
    Frieden und Freiheit für alle der Lohn.

    Rainer Kirmse , Altenburg

    Herzliche Grüße aus Thüringen

  2. Lieber Stephan
    Danke für deinen deutlichen Beitrag. Inzwischen sind wir ein paar Tage weiter. Die Schweiz hat endlich die EU-Sanktionen übernommen, aber sie hat sich offensichtlich schwer getan.
    Die EU und die USA haben in dieser schweren Krise erstaunlicherweise an Format gewonnen. Die Sanktionen gegen Russland zeigen Wirkung. Das zeigt schon, wie martialisch der russische Staat jetzt gegen die inneren Gegner vorgeht. Es läuft nicht so reibungslos, wie Putin sich das gedacht hat. Aber es läuft immer noch dramatisch schlimm für die Menschen in der Ukraine.
    Heute wird der Bundesrat entscheiden, welchen Status er den Flüchtlingen zubilligt. Wieder einmal erschreckend spät! Immer mehr Menschen sind auf der Flucht. Laut UNHCR mehr als 1 Million!
    Und nun lese ich, dass die SVP von Wirtschaftsflüchtlingen schwafelt, die die Lage ausnutzen könnten und möglichst viele Flüchtlinge draussen halten will.
    https://www.beobachter.ch/gesetze-recht/einreise-unterkunft-medizin-geld-hilfe-fur-fluchtende-aus-der-ukraine-was-gilt-in-der-schweiz
    Die Haltung ist klar. Bleibt bloss weg und beeinträchtigt unseren Wohlstand nicht. Wir zahlen lieber viel Geld, dass bloss keine Flüchtlinge zu uns kommen.
    Schämen sollten sich Politiker, die solche Äusserungen machen, während wir vor einer humanitären Katastrophe stehen, die sich zu grössten seit dem 2. Weltkrieg ausweiten könnte.
    Die SVP verkauft sich als Gralshüterin guter alter Schweizer Werte, aber offensichtlich sind die einzigen Werte die wirklich zählen Geld und Besitzwahrung.
    Ich bin zutiefst wütend und schäme mich für das Land, in dem ich seit 17 Jahren lebe!!
    Hoffen wir nur, dass der Bundesrat mehr Rückgrat hat.
    Im Übrigen bin ich persönlich betroffen. Seit gestern wohnen zwei ukrainische Flüchtlinge bei mir im Haus. Eine Ärztin aus Kiew und ihre 15-jährige Tochter. Sie sind nicht als Wirtschaftsflüchtlinge gekommen, sondern aus schierer Angst!!
    Ich kenne sie seit einiger Zeit und war ihr einziger konkreter Anlaufpunkt in Europa. Ich hoffe nur, dass ich mich für den Entscheid des Bundesrates nicht schämen muss.

    1. hey, danke für deine eindrücklichen worte! es zeigt sich im moment beides: offenheit & hilfsbereitschaft aber auch kleingeistige inselphantasien und ignoranz. danke, dass du hilfst!

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

RefLab regelmässig in deiner Mailbox

RefLab-Newsletter
Podcasts, Blogs und Videos, alle 2 Wochen
Blog-Updates
nur Blogartikel, alle 2 bis 3 Tage