Less noise – more conversation.

Ich bin keine reine Pazifistin

Im Vorfeld des zweiten Jahrestags des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine klingelte ein Nachbar bei uns und streckte mir eine metergrosse Fahne entgegen. In der Strasse werde die Aufhängung gewünscht. Ich hörte mich sagen:

«Ich weiss nicht, was für ein Zeichen das sein soll. Klar bin ich gegen Krieg, habe nie etwas anderes behauptet. Wieso aber soll ich meine grundsätzliche Friedensliebe nun mit einer Fahne demonstrieren?»

«Es nützt natürlich nichts, aber schadet auch nicht», erklärt der Nachbar pragmatisch und ergänzt: «Wir können uns dadurch immerhin der Illusion hingeben, nicht völlig passiv zu sein. Andere reisen in die Ukraine und kämpfen dort.»

Ich spüre, dass es ihm unangenehm wäre, nicht zu beflaggen.

«Aber müssten wir dann nicht auch Fahnen anderer hinaushängen, die gegenwärtig Kriegen ausgesetzt sind?», werfe ich ein. «In unserer Strasse befindet sich nun mal die russische Handelsvertretung», argumentiert der Nachbar.

Ich ergebe mich, weil keine Haltung zeigen auch keine befriedigende Alternative ist.

Fassendenschmuck

Nun hängen bei uns also ukrainische Nationalflaggen in der Schweizer Frühlingsluft. Zwischen Bannern mit Slogans wie «Ja, Klimaschutzgesetz» oder «Stopp Autobahn-Bauwahn». Sie schmücken Fassaden und zieren verschnörkelte Gartentore.

Auf den blau-gelben Fahnen sind Friedenstauben aufgedruckt.

Auch ohne Beflaggung würde man allerdings merken, dass wir in angespannten Zeiten leben. Seit Kriegsausbruch patrouillieren in unserer Strasse Polizeiautos, gefühlt im Zehnminutentakt, zum Schutz der Handelsvertretung. Diese öffnet seit Kriegsbeginn die strassenseitigen Rollos nicht mehr.

An Gesichtern der russischen Diplomatie kann ich, wenn wir uns zufällig begegnen, den Nachrichtenstand ablesen. Vor allem zu Kriegsbeginn kam es mir vor, als wollten sie sich und ihre Kinder unsichtbar machen. Gartenfeste feiern die Russen kaum noch.

In meiner Berliner Nachbarschaft hätten Anti-Kriegs-Aktivist:innen wahrscheinlich die Autos des diplomatischen Corps angezündet und einen Kübel rote Farbe auf die Fassade gekippt. In der Schweiz aber sprüht man mit Kreidespray «No War» auf den Asphalt – weil der Spray abwaschbar ist.

Lockerung der Waffenausfuhr

Immerhin können sich geflüchtete Ukrainer:innen, rund 65 000 konnten sich in die Schweiz retten, in unserer Strasse willkommen fühlen. Wir demonstrieren unsere Solidarität mit der ukrainischen Nation und der ukrainischen Bevölkerung.

Mutiger als «No War»-Graffitis mit Kreidespray wäre es freilich, die russische Kriegsfinanzierung über die Schweiz anzuprangern. Über diesen Umstand schweigen die Friedenstauben auf unseren Flaggen.

Ein immer breiter werdendes Bündnis aber fordert genau das: die konsequente Umsetzung von Sanktionen zur Unterbindung der russischen Kriegsfinanzierung über die Schweiz, insbesondere über den milliardenschweren Schweizer Rohstoffhandel.

Das Bündnis erhält Unterstützung nicht nur von Linken, sondern auch von Parteien der Mitte und von Kirchen. Zuletzt trat es bei den Friedenskundgebungen am zweiten Jahrestag der von Gewalt, Terror gegen die Zivilbevölkerung und Kriegsgreuel («Butscha») begleiteten Ukraine-Invasion in Erscheinung.

Gleichzeitig werden Stimmen lauter, die eine Lockerung der Ausfuhr von Waffen fordern. Der SP-Nationalrat Jon Pult lobte bei den jüngsten Friedenskundgebungen die Ukraine, die nicht nur sich selbst, sondern auch die «Freiheit und Demokratie in Europa» verteidige.

Es sei unsere «Pflicht», deutlich mehr für die Ukraine zu tun, humanitär und auch sonst.

Mit Waffen den Frieden verteidigen oder gar mit Waffenlieferungen «Leben schützen», wie die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock es formulierte? Wenn erst einmal Krieg herrscht, nähern sich Verteidigungen des Friedens gespenstisch und verwirrend Rechtfertigungen des Krieges an.

Krieg als guter Zweck

In einem kürzlich im «Philosophie Magazin» erschienenen Essay mit dem Titel «Kritik des Krieges» stellt der Philosoph Christoph Menke die Frage, was verkehrt daran sein soll, «einen Krieg durch seine Zwecke zu rechtfertigen». Also das Gute anzuführen, das durch den Krieg verteidigt oder erreicht wird.

«Nur dies: dass das Gute des Zwecks nicht die Kraft hat, das Mittel, den Krieg, für gut (oder notwendig: als Mittel) zu erklären. Es bleibt eine Kluft.»

Tatsächlich ist kein Zweck ausreichend, um die Opferung Hunderttausender Menschen in Schlachten zu legitimieren. Das spüren sogar Bellizist:innen. Sie häufen deswegen laut Menke in Zweckdiskursen Zwecke auf Zwecke:

«Wurde der Ukrainekrieg zuerst im Namen des Völkerrechts (auf das eh niemand mehr etwas gibt) geführt, dann folgten darauf rasch die ukrainische Nation, die liberale Demokratie, die westlichen Werte, ja, der Westen überhaupt – gerne auch alles durcheinander», schreibt Menke.

Pazifist:innen haben Bellizist:innen das Wissen um die Unbeherrschbarkeit des Krieges voraus. Sie wissen um seine Dämonie.

Bestialische Exzesse sind nicht die Ausnahme, sondern die Normalität des Krieges.

Dämonen sind laut Menke «unsere eigenen Geschöpfe, die sich gegen uns wenden.» Bellizist:innen sitzen im Unterschied zu Pazifist:innen der Illusion auf, Kriege seien beherrschbar; wenn man nur ausreichend Mittel für den guten Zweck (die Wiederherstellung des Friedens, den Sieg, die Zerschlagung des Gegners usf.) in Stellung bringt.

Aber nicht wir beherrschen den Krieg, er beherrscht uns – und reisst alle und alles in seine Logik hinein.

Kriegsfinanzierung stoppen

Deswegen unterliegen auch Pazifist:innen laut Menke einer Illusion, nämlich zu meinen, aussen vorzubleiben und aus sicherer Distanz kritisch zu urteilen sei möglich. Wenn aber Krieg ausbricht, gibt es keinen Aussenstandpunkt mehr.

Konfrontiert mit nackter Gewalt kapituliert der reine Pazifismus. Die pazifistische Logik kann nämlich «das Schlechte oder Böse nicht denken, das nur durch Gegengewalt zerstört werden kann», schreibt Menke.

Aus der Perspektive des reinen Pazifismus sind selbst anti-koloniale Befreiungskriege illegitim.

Die französische Philosophin und Sozialrevolutionärin Simone Weil dachte in den 1930er Jahren über Kriege nach («Réflexions sur la guerre»). Auch sie beobachtete, dass Bellizist:innen vom Frieden sprechen, aber den Krieg nähren.

Deswegen sollte ihrer Ansicht nach, wer sich dem Frieden verschreiben möchte, nicht über Frieden, sondern über den Krieg und seine Mittel reden.

Anstatt Gewalt pauschal und abstrakt zu verurteilen – wie «reine» Pazifist:innen es tun – sollten wir, bevor wir irgendein Urteil fällen, die «materialistischen» Grundlagen studieren; also soziale, industrielle, technische, ökonomische Faktoren einbeziehen – und ganz sicherlich auch die oftmals verdeckten Wege der Kriegsfinanzierung.

Aus Kriegen, das wird jetzt wieder deutlich, lassen sich gigantische Profite schöpfen. Verschiedene Seiten giessen daher buchstäblich Öl ins Feuer und beheizen den Höllenkessel.

Mit der Peace-Beflaggung auf unserem Haus demonstrieren wir reine Friedensliebe. No War! Never! Make Love Not War!

Wir senden hehre Friedensappelle von der Beletage herab, aus gepolsterten Schweizer Logenplätzen heraus. Dies erfordert keinerlei Mut, sondern ist sogar ziemlich billig zu haben.

Die Stadt Zürich hat übrigens nach zwei Jahren Krieg ihre Ukraine-Flaggen wieder eingezogen. Sie flatterten bis vor kurzem auf der Bahnhof- und der Quaibrücke sowie am Utoquai.

 

Über Hintergründe des Krieges, seine Finanzierung und die Rolle des Handelsplatzes Schweiz klärt laufend die Menschenrechtsorganisation Public Eye auf.

Zum Thema Pazifismus gibt es bei RefLab auch einen Blogbeitrag von Manuel Schmid.

Der Essay «Kritik des Krieges» von Christoph Menker erschien kürzlich im Philosophie Magazin.

Foto: Narendra Singh Shekhawat auf Unsplesh

3 Kommentare zu „Ich bin keine reine Pazifistin“

  1. Apropos „Menschenrechte“:
    Schickt man Google nach nicht diesem, relativ oft verwendeten Stichwort, sondern nach „Humanity rights“ (deutsch: Menschheitsrechte) in die Spur, erhält man — erstaunlicherweise — „Ungefähr 7.830.000.000 Ergebnisse (0,44 Sekunden)“ plus „Meintest du: Human rights“ [letzte Suche: 8.3.2024 20:00 Uhr].

    Tatsächlich ist der Ausdruck „Humanity rights“ bis heute aber wohl seltener bis nirgends in Gebrauch. Auf den einschlägigen Webseiten findet er sich trotz Google-Statistik jedenfalls nicht. Und bei der einzigen, nach längerer Internet-Suche, gefundenen Adresse, die ihn im Namen trägt, dürfte es sich wohl eher um eine (Briefkasten-)Firma im Halbschatten des Rechts als um eine seriös betende Denk-Fabrik (unschöner Ausdruck!) mit Interesse an Menschheitsrechten handeln: „Hu-manity Rights, Inc. provides software solutions“, heißt es dort lapidar. Doch dem Beter erscheint die Investition in partikulare *Software solutions*, an denen nicht zuletzt auch partikulare Kriegsindustrien nicht gänzlich desinteressiert zu sein scheinen, im Zusammenhang mit der Frage nach insbesondere der Implementierbarkeit universeller Menschheitsrechte geradewegs als unnützer Gang in die berühmt-berüchtigte Sackgasse. — „The Company offers software as a service based platform for industry wide stakeholders to manage the consent and authorization of inherent human data in a standardized manner. [Hu]-manity Rights serves customers worldwide.“ —

    Was ich damit sagen will: Ich bin wild entschlossen, vor dem nächsten Flagge-zeigen- bzw. Beflaggungs-Nötigungsversuch in Sachen Frieden / Solidarität meinen Nächsten um einen Vorschlag zur Güte in der Angelegenheit *Universelle Menschheitsrechte* zu bitten. Sollte die Taube des Heiligen Geistes sich dann als *zahnloser Tiger* erweisen, käme das möglicherweise einer biologischen (`?) Sensation gleich!

    1. Danke vielmals. Sehr spannend. Ich bin in Zürich am Bahnhofsplatz 1 beim Türschild auf ähnlich spannende Firmennamen gestossen: Visioncorp, Forumbus (klingt wie ein Zauberbesen bei Harry Potter) oder Prophet. Manches sind offenbar Briefkastenfirmen. Hinter Prophet stecken immerhin Business Transformation Consultants, die man googeln kann. Ich würde noch zu deinen Gedanken ergänzen: Auch der Begriff der «Menschenpflichten» taucht bisher wenig auf – aber es mehrt sich langsam.

      1. Okay. Den Begriff der „Menschenpflichten“ kannte ich noch nicht so. — Allerdings: Steht nicht jedes Vertragsverhältnis immer schon (implizit) unter der Beschreibung, ein konkreter Fall von realisierten Menschenpflichten zu sein? (Juristen leben doch davon, und das (in der Regel) nicht schlecht, oder nicht!)
        Neuer Wein gehört doch nicht in alte Schläuche, wie man weiß.

        Bei universellen Menschheitsrechten hingegen gerieten Juristen in eine gewisse Verlegenheit, was sich unschwer zeigen lässt…

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