An die Change Manager
Ich liege auf dem Boden. Ich bin zerschmettert. Meine Flügel sind zerbrochen. In meinem Mund sammelt sich Staub. Alles Bemühen, es gut zu machen, war vergeblich. Meine Kraft hat mich verlassen.
Andere triumphieren über mich, treten mich – und an meine Stelle.
An die Rassisten
Ihre kleine Tochter wird von euch gemobbt, weil sie nicht-weiss ist oder jüdisch. Das Kind lacht in letzter Zeit immer seltener. Morgens wacht es mit Angst vor dem neuen Tag auf.
Die Mutter findet eine andere Schule für ihr mandeläugiges Mädchen, schon zum wiederholten Mal.
An die Kriegstreiber
Er musste sein Haus verlassen, von einer Minute zur anderen. Den Schlüssel besitzt er noch, aber sein Haus und seine Liebsten liegen in Trümmern.
Er flieht durch Kugelhagel, ist dem Wahnsinn nahe, während Waffenbarone und Drohnenbastler lachen. Mit den Häusern der Menschen explodieren eure Profite.
Ein braves Mädchen sein
Ich bin noch ein echtes braves Mädchen. Eigentlich etwas für die anthropologische Vitrine. Brav sein habe ich von klein auf gelernt. Brav sein ist mir eingebläut worden. Brav sein und still.
Das brave Mädchen ist immer selbst schuld, selbst wenn es sich nicht erinnern kann, etwas «Unartiges» angestellt zu haben. Das brave Mädchen ist nie brav genug.
Das brave Mädchen lernt, Nadeln, spitz wie jene im Nähkästchen der Mutter oder auf dem grauen Haupt des Kaktus am Fensterbrett gegen innen zu richten, gegen sich selbst, gegen das schlimme, böse, böse Mädchen.
Kein braves Mädchen mehr sein
Was nun, wenn der Arbeitsplatz zur Nahkampfzone entartet, die Umwelt aus den Fugen gerät, der Krieg in den Frieden einbricht?
Was, wenn ich merke, dass meine Ressourcen versiegt sind und ich mit der Freude auch die Gesundheit verliere? Wenn das vegetative Nervensystem verrückt spielt und sich zuvor nicht gekannte Leiden addieren und steigern?
Was, wenn nicht nur eine abstrakte Grösse verantwortlich ist für mein Elend («die da oben», «das System» etc.), sondern ich konkrete Personen benennen kann mit Namen Hans, Dagmar oder Vladimir? Personen mit Eltern, Kindern, Enkeln. Personen, die mir schaden, aus Kalkül oder Gedankenlosigkeit.
Darf ich mir wünschen, diese Personen mögen verrecken? Oder zumindest die Bitterkeit des Leidens in genau dem Mass zugeteilt bekommen, wie ich es durch sie ertragen muss? Darf ich die kaputt sehen wollen, die mich kaputt machen?
Versuch’ es mit Fluchpsalmen
«Versuch’ es mit Fluchpsalmen»: Dieser fast salopp vorgetragene Vorschlag einer Freundin, reformierte Pfarrerin und systematische Theologin, hat mich verblüfft. Sie kritzelte auf ein Post-it «Psalm 58, 109, 69», wie eine Apothekerin, die ein Rezept ausstellt.
Psalm 69,24-25: «Ihre Augen sollen finster werden, dass sie nicht sehen, und ihre Hüften lass immerfort wanken. Gieß deine Ungnade über sie aus, und dein grimmiger Zorn ergreife sie.»
Psalm 109,8-10: «Er soll ein kurzes Leben haben und sein Amt gib einem anderen. Seine Kinder sollen zu Waisen werden und seine Frau zur Witwe. Seine Kinder sollen herumirren, ja herumirren und betteln und vertrieben werden aus ihren verfallenen Häusern.»
Psalm 137,9: «Glücklich ist der, der deine kleinen Kinder an den Felsen zerschmettert!»
Psalm 58,7-9: «Gott, zerbrich ihnen die Zähne im Maul, zerschlage, HERR, das Gebiss der jungen Löwen! Sie werden vergehen wie Wasser, das verrinnt. Zielen sie mit ihren Pfeilen, so werden sie ihnen zerbrechen. Sie vergehen, wie eine Schnecke verschmachtet, wie eine Fehlgeburt sehen sie die Sonne nicht.»
Es war tatsächlich für meine Situation Passgenaues dabei. Ich machte Kopien und tackerte die Fluchpsalmen an der Ecke zusammen.
Raum für Rache
Ich lachte. «Zerbrich ihnen die Zähne im Maul», «Giess deine Ungnade über sie aus», «Ihre Augen sollen finster werden» … so haben verletzte und zornige Menschen vor mir gebetet. So haben Menschen vor mir gefühlt. Und diese Gebete und Emotionen haben Platz in der Bibel!
Wenn das so ist, haben Rachegedanken auch Platz in meinem Leben. Ich brauche mich nicht dafür zu schämen. Ich muss sie nicht verdrängen, ich brauche nicht auf Teufel komm’ raus lieb sein. Ich darf zornig sein, richtig zornig.
Ich darf meine Verletzung, meinen Zorn und meine Enttäuschung zur Sprache bringen. Auch den Wunsch nach Vergeltung des Bösen, dass Böse zur Rechenschaft gezogen werden.
Mein Zorn und meine Wut haben ihren Platz: im Gebet.
«Sie sollen wie eine Schnecke verschmachten.»
Ich lachte, aber nicht grimmig, sondern herzlich. Mir wurde leichter ums Herz. Ich gewann etwas mehr Distanz zu meiner Situation. Im Rückblick denke ich, allein schon der überraschende Vorschlag der Freundin hat etwas in mir geheilt.
Es war dann gar nicht nötig, die Rachepsalmen tatsächlich zu beten. Ich las sie durch und legte sie bei den Dingen ab, die mir persönlich wichtig sind.
Mich beruhigt seither allein schon das Wissen, dass es Rachepsalmen gibt. Und dass ich sie griffbereit habe, für den Fall, dass sie gebraucht werden.
Hast du auch Erfahrungen gemacht mit böse beten oder kommt das für dich überhaupt nicht in Frage? Vielleicht magst du deine Meinung in der Kommentarspalte mit uns teilen.
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6 Gedanken zu „Böse beten (1): Versuch’ es mit Fluchpsalmen“
Ich glaube, ehrlich gesagt, Gott freut sich sogar ein wenig wenn wir so beten. Denn dann sind wir ehrlich, authentisch. Ehrlichkeit ist ein Zeichen von Vertrauen und eine gute Ausgangsbasis für Veränderung. Gott kann unsere Ehrlichkeit wohl gut aushalten und mehr damit anfangen als mit geheuchelter Demut und vorgetäuschtem Schuldbewusstsein.
@RATLOS: Yep, I agree! Je suis 100 % d’accord! “Sei ehrlich!” ist die Grundanweisung ins Gebet und fürs Beten.
PS:
Nach meiner unmaßgeblichen Meinung gelangen insbesondere ‘Kirchengebete’ deswegen nicht bis zu ihrem ‘Adressaten’ durch, weil die oben genannte Grundanweisung von Repräsentantinnen und Repräsentanten ‘der’ Kirche auf widerlichste Weise missachtet, ignoriert, wenn nicht gar verachtet wird. Was, freilich, auf ‘Kirche’ selber (insgesamt und individuell) mit gleichsam zwingender Gesetzmäßigkeit ohne Verzögerung rückwirkt und auch rückwirken muss, insofern es die betenden ‘Subjekte’ selber sind, die der “guten Ausgangsbasis für Veränderung” (RATLOS) damit ihre Grundlage entziehen. (Man(n)/ frau/ mensch lese auf diesem Hintergrund z.B. Amos, wenn und sofern man(n) / frau/ mensch dem AT überhaupt [noch] Bedeutung im Denken von Theologie und im Leben von Kirche zumessen kann, soll oder darf.)
Wie gut, kam mir hier beim Lesen der ketzerische (?!) Gedanke, dass meine Mitmenschen nicht wissen, wie ICH bete.
@Angelo: Am Ende legt der Psalmist den Fluch mit der Bitte um Gerechtigkeit in Gottes Hand. Das ist weise, denn der Schuss könnte ja auch nach hinten losgehen. Man kann nur hoffen, Spr. 26,2 trifft zu wo sinngemäss steht, dass ein ungerechter Fluch nicht eintrifft.
@RATLOS: Ich hab gelernt, dass, wo GOTTES Gerechtigkeit in der ‘Ordnung der Dinge’ VOR Gottes Barmherzigkeit steht, Unglück(e) geschieht (geschehen). Insofern ist das, vielleicht, doch nicht so ganz der Weisheit letzter Schluss mit dem “weise sein”, wenn am Ende der Psalmist den Fluch mit der Bitte um Gerechtigkeit in Gottes Hand legt.
In meinen Ernstfällen des Gebets gehe ich übrigens nicht davon aus, dass ich zum Teufel bete. Was mir u.a. die Furcht vor Schüssen erspart, die “ja auch nach hinten losgehen” könnten.
Den Emotionen Raum geben anstatt sie zu verdrängen, halte ich für eine gute Sache (solange es in einem “gesunden” Rahmen geschieht). Ich hadere oft mit Wut gegenüber mir einer sehr nahestehenden Person. Ich selbst weiss nicht genau warum, aber ich bin mir sicher, dass es Gott weiss. Darum gibt es mir Halt zu wissen, dass ich Gott alles erzählen kann (beten) und er versteht mich.