Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 5 Minuten

Wenn dein Herz am Weltgeschehen zerbricht

In diesen Tagen ist mein Herz schwer und schmerzt. Die Geschehnisse auf der Welt berühren mich im tiefsten Innern, wie schon lange nicht mehr.

Kriege, Gewalt, Ungleichheiten – das Elend ist sehr, sehr laut.

In den letzten Jahren habe ich das meiste davon irgendwo «da draussen» gelassen, hatte ich doch mit der Transformation meines eigenen Elends genügend zu tun.

Dazu kommt, dass es auch Angst machen kann, sich derart tief berühren zu lassen. Wir geben dabei Kontrolle ab, jene hochgelobte, doch stets illusionäre Kontrolle.

Wenn das Herz bricht, was kommt dann hervor? Wenn ich nicht an einem bitzli Panzer darum festhalte – was dann?

Im Zerbrechen ist auch ein Aufbrechen

Mit dem erneuten Kriegsausbruch im Gazastreifen sind meine gepanzerten Dämme gebrochen. Warum genau, weiss ich nicht. Es ist einfach so. Und ich merke: In diesem Zerbrechen ist auch ein Aufbrechen.

Mein Leben, ein «Lebkuchenleben», wie es kürzlich bezeichnet wurde, ist eins voller Erfüllung und Freude. Was es verführerisch macht, Leiden, Drama, Chaos eine Armlänge von mir wegzuhalten. So spiele ich jedoch lediglich mit einem Ausschnitt der Realität, nicht der Ganzen.

Es ist und bleibt eine Spannung, im Erleben der Gleichzeitigkeit der Alleinheit und all ihrer individuellen Ausdrücke unterwegs zu sein.

Zu erleben, wie sich dieses Formlose stets und immer wieder neu in Form giesst – und zwar keineswegs nur auf «schöne» Art und Weise.

Ich bin also herausgefordert, meine Augen nicht zu verschliessen vor dem, was sich in der Form, in der Welt abspielt. Bin nochmals neu, nochmals anders aufgerufen, Leiden anzuschauen. Nicht als «das darf nicht sein», auch nicht als «das gibt es nicht».

Stille zulassen statt Aktivismus

Nun. Was heisst das konkret?

In erster Linie: zulassen, dass sich die Stille um meine Herzwunde kümmert. Aktivismus aus dieser Wunde heraus führt zu nichts. Es führt ebenfalls zu nichts, in der Wunde zu versinken.

Weiter führen mich Stille, behutsam unterwegs sein, den Schmerz weder wegzudrücken, noch ihm zu frönen. Ja, das ist ein delikater Tanz. Ein herausfordernder. Und ein schöner, dazu.

Gebet heisst spüren, wie die Welt sein könnte

Aus diesem Rückzug gebiert sich ein ehrliches Gebet. Ein Gebet, das von meinem ganzen Wesen kommt, nicht bloss als Worte über meine Lippen fällt.

Damit bin ich nicht allein, wir sind zu fünft, die sich zu einem Gebetsgrüppli zusammengetan haben.

Gemeinsam fragen wir uns: Wie fühlt sich eine Welt an, in der Evolution via Erfüllung statt Leid stattfindet? Wir fragen uns, wie wäre eine Welt ohne Patriarchat? Wie sähe es aus, wenn marginalisierte Gruppen echt integriert sind?

Wir fragen unsere Herzen, nicht unsere Köpfe. Und spüren, wie sich diese Welt anfühlen würde, sehen, was friedliches Zusammenleben sein könnte.

Ein Gebet, aus der Stille, zurück in die Stille.

Manchmal zeichnen sich konkrete Schritte oder Handlungen ab, plötzlich, unerwartet, immer delicious, immer ein Gewinn für alle.

Eine körperliche Angelegenheit

Ein Gebet im herkömmlichen Sinn ist das wohl nicht. Wir verstehen uns nicht als Menschen, die von Gott etwas wollen. Wir erleben Gott nicht als diese abgetrennte Entität «da draussen» – sondern leben in der Erfahrung, dass Gott alles ist, auch uns.

Es ist eine verkörperte Erfahrung, was auch das Gebet zu einer, zumindest für mich, körperlichen Angelegenheit macht. Ich erfühle etwa im Körper, wie es denn wäre, ohne Patriarchatswunde unterwegs zu sein – das fühlt sich weit an, warm, mütterlich umsorgt.

Es fühlt sich nach Begegnungen auf Augenhöhe an. Nach wohlwollendem Aufeinander-Zugehen. Etwas, wovon Frauen und Männer und Non-Binäre und trans Menschen gleichmässig profitieren.

Aus dem Gebet kommen konkrete Schritte

Manche von unserer Gebetsgruppe sehen, welche Schritte sie zu unternehmen haben. Die Ärztin etwa, die mit den Ältesten der T’sou-ke-Nation* zusammen die Gesundheitsversorgung des Stammesgebiets neu entwirft – auf eine Art und Weise, die Schulmedizin und die traditionelle Medizin der T’sou-ke zusammenbringt. So dass die Gesichter der Ärzt*innen nicht bloss weisse Gesichter sind, sondern die Diversität des Landes repräsentieren.

Das zumindest ist ein Aspekt von «Erfüllung für alle»: Wir sehen nicht bloss weisse alte Männer in privilegierten Positionen, sondern ein Abbild der Welt. Die besteht zum grössten Teil nämlich nicht aus jenen weissen älteren Herren.

Konkret hat sich diese neue Version von Gesundheitsversorgung aus dem Anliegen der Ärztin ergeben, dass sich die gesundheitliche Situation der First Nations in Kanada verbessert.

Gemeinsam haben wir mit ihr erbetet, gespürt, geträumt, wie dieses Anliegen umgesetzt werden kann – als Gewinn für alle.

Für mich zeichnen sich noch keine konkreten Handlungen ab – doch mein Wissen um meine Erfüllung, meine Aufgabe in dieser Welt vertieft sich durch unsere Treffen.

Endlich eine andere Geschichte schreiben

Ja, das Weltgeschehen fühlt sich schwer an im Moment. Mein Herz ist so voller Liebe für diese Welt, die Menschen, die Schöpfung – und bricht an all der Trauer.

Ich bete dafür, dass wir endlich, endlich, endlich damit beginnen können, eine andere Geschichte zu schreiben. «Gopf, es ist doch 2023», meinte auch mein Bruder vor Kurzem.

Gopf, ja. Es ist Zeit.

Amen

 

* Die T’sou-ke-Nation ist eine von Kanadas First Nations; mehr findet ihr hier oder hier.

Foto von Quaritsch Photography auf Unsplash

 

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