Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 7 Minuten

Hoffnung ist ein Wiesel

In ihrem Buch «Die Durchquerung des Unmöglichen» gibt die französische Philosophin Corinne Pelluchon eine eindrückliche Anekdote wieder. Sie stammt aus Aufzeichnungen des Psychiaters Ludwig Binswanger, die unter dem Titel «Melancholie und Manie» erschienen sind.

Einer seiner Patienten entfloh in den Wald mit der festen Absicht, sich zu erhängen. Da sah der Verzweifelte ein Wiesel und änderte plötzlich seine Meinung.

«Du hast ja noch nie ein Wiesel gesehen, lass dir ruhig Zeit», sagte sich der Mann und kehrte um.

Der Patient kam in die Klinik zurück, als hätte das scheue Tier ihm neuen Halt gegeben, als hätte es unversehens eine Öffnung bewirkt, eine Öffnung für Unerwartetes. Der Mann wollte nun erst einmal abwarten, was das Leben noch für ihn bereithielt.

Der Moment des Wiesels

Das Wiesel kreuzte zufällig den Weg des Mannes und bewirkte eine buchstäbliche Umkehr. Zugleich aber bedurfte es einer tiefen Depression, damit er die Dinge überraschend neu sehen konnte.

«Die Hoffnung entsteht nach der Erfahrung des Nichts», schreibt Pelluchon. Sie taucht unverhofft auf, «am Ende eines harten Kampfes, bei dem man dachte, man würde sterben.»

Der Punkt totaler Verzweiflung und vollkommener Resignation ist der Moment des Wiesels. Jetzt kann es auftauchen. Aber eben unverhofft. Es kann erscheinen, wenn ich einsehe, keine Kontrolle über mich, über andere, über die Welt zu haben.

Optimismus kann billig sein

Die Vorbedingung für Hoffnung ist also paradoxerweise die Aufgabe jeglicher Hoffnung und die Verabschiedung jeglicher Illusion. Man kann auch sagen: die Selbstaufgabe.

Die Hoffnung entspringt der Hoffnungslosigkeit und ist daher etwas anderes als Optimismus, die zurückgelehnte Haltung: «Wird schon gut gehen!» oder «Ist immer noch irgendwie gut gegangen!».

Oft ist da Verzweiflung, aber kein Wiesel. An Suizidstatistiken lässt es sich ablesen. Ein Verzweifelter läuft in den Wald und kein Wiesel kommt. Oder ein Wiesel kommt, aber er ist in dem Moment nicht offen für die Begegnung.

Die öffnende Begegnung wird in religiöser Sprache «Gnade» genannt. Corinne Pelluchon nennt diesen Begriff in «Die Durchquerung des Unmöglichen» explizit.

Auch Gnade kann sich nur entfalten, wenn eine Seele für sie bereit ist, vielleicht zu ihrer eigenen Verwunderung. Daher gibt es hier auch eine Nähe zum Wunderbaren, zum Wunder.

Das Recht auf radikale Fragen

Man muss offenbar durch die Verzweiflung hindurchgehen, um am anderen Ende des Tunnels womöglich Licht zu sehen. Dies kann Jahre dauern. Und das Umfeld zur Verzweiflung bringen. Der Psychiater, Psychoanalytiker und Philosoph Hinderk Emrich hat mir einmal in einem Gespräch gesagt:

«Man kann nichts gegen Melancholie unternehmen.»

«Deswegen machen Melancholiker ihre Umgebung und auch uns Therapeuten oft aggressiv. Man kann den Sinn nicht herbeireden. Die Position der Melancholie behauptet ihr Recht auf radikale Fragen. Sie ist in diesem Sinne subversiv.»

Depressive sind Realisten

Damals lief der Film «Melancholia» von Lars von Trier in den Kinos. Die Hauptfigur Justine hält dem scheinbar unerschütterlichen Optimismus ihrer Umgebung ihre Traurigkeit und Brüchigkeit entgegen.

Als ein Himmelskörper kurz davorsteht, auf der Erde einzuschlagen, ist Justine die Einzige, die Ruhe bewahrt. Sie hat die Katastrophe erwartet. Sie ist nicht überrascht. Sie hatte keine Hoffnung. Hinderk Emrich sagte zu meiner Überraschung über Justine, sie sei Realistin:

«Man weiß aus der psychologischen Forschung, dass normale Menschen ein illusionäres Selbstbild haben. Sie haben eine völlige Fehleinschätzung.»

«Maniker ebenfalls. Diese schätzen sich natürlich noch grossartiger ein, als sie sind», sagte er weiter.

«Nun könnte man meinen, die Depressiven hätten ein furchtbar negatives Selbstbild, aber das stimmt nicht. Sie haben ein absolut realistisches Selbstbild. Sie schätzen sich am genauesten und stimmigsten ein.»

«Depressive sind Realisten. Sie wissen, wie es wirklich ist.»

Am «Durchqueren» der Depression führt offenbar kein Weg vorbei. Es gibt keine Abkürzungen. Durchlittene Depression aber verleiht Menschen laut Emrich, der jahrelang mit Depressiven arbeitete, «Strahlkraft, sodass sie sagen: Ich kann mit den Mitteln, die ich habe, die Welt verwandeln.»

Jenseits der Hoffnung

Wenn das Leiden am Zustand der Welt keine Illusion ist, sondern die Realität widerspiegelt, dann ist Hoffnung tatsächlich die Erwartung des Unmöglichen. Dann braucht es, mit Søren Kierkegaard gesprochen, den Glauben kraft des Absurden.

Überträgt man diesen Befund von der individuellen Ebene auf die kollektive Depression der Generation, die sich als letzte Generation empfindet, sind deren Angehörige die Realisten unserer Zeit.

Sie sehen die Zukunft verdüstert, erwarten eine Häufung von Krisen, Kriegen, Pandemien, Wetterextremen. Sie fühlen sich schon als Kinder und Jugendliche um ihre Hoffnung betrogen.

«Hope dies – action begins»

Im trotzig-verzweifelten Motto der Umweltschutzbewegung «Extinction Rebellion» klingt diese Lebenshaltung an: Die Hoffnung stirbt, die Aktion beginnt. Im gemeinsamen Handeln aus der Verzweiflung heraus aber kann dann vielleicht doch wieder so etwas wie Hoffnung entstehen.

Auch Trauer kann Hoffnung sein. Das wusste auch der Theologe Johann Baptist Metz, wenn er festhielt:

«Trauer ist Hoffnung im Widerstand.»

«Trauer ist nicht der schiere Gegensatz zu dem, was wir Hoffnung nennen, sondern zunächst einmal ein Gegensatz zu einem flächendeckenden Optimismus, einem Optimismus, der doch so schnell in Banalität umkippt, und bei uns das, was wir einmal christliche Hoffnung genannt haben, längst säkular beerbt hat.»

Trauer und Widerstand

Kaum je schien die Zukunft derart verbaut wie heute. Kaum je war so wenig Hoffnung. Die Reste moderner Zukunftseuphorie sind verflogen und Science Fiction ist heute ein vornehmlich dystopisches Genre. Die Sorge aber macht sich schon länger breit.

Atomkriegsgefahr, Waldsterben, Irakkriege: Auch schon meine Kindheit und Jugend waren verdüstert.

Das Ausbrechen des Golfkriegs 1991 liess mich als Studentin in eine Depression schlittern, obwohl dieser Krieg Tausende Kilometer entfernt war. Der Westen, in meiner (kindlichen) Wahrnehmung eine Instanz der Vernunft, eröffnete nach einem ausgelaufenen Ultimatum prompt das Feuer: für mich damals unfassbar. Die Nachricht kam nachts. Ich sass wie erstarrt im Bett.

Mir erschien es absurd, weiterzustudieren. Etwas in mir starb damals.

Erst im Rückblick wurde mir klar, dass aus der Depression, die ich damals nicht als solche erkannte und die mehrere Monate dauerte, so etwas wie eine religiöse Evidenz aufleuchtete: ein Gefühl, dass da trotzdem etwas trägt. Diese überraschende Zuversicht beendete die depressive Phase.

Nicht die Welt, aber ich war anders geworden.

Hoffnung ist ein scheues Tier

Dass ein Wiesel Hoffnung schenken kann, wie eingangs geschildert, ist so sprechend, weil auch Hoffnung ein zartes Wesen ist. Ein Hoffnungsschimmer kann erscheinen, aber auch schnell wieder vergehen oder sich als Illusion erweisen, wenn das Leben oder die Welt keine Besserung erfahren.

Wenn ich heute Nachrichten sehe und höre, sind die Kriege näher als damals: in der Ukraine und in Gaza beispielsweise. Täglich werde ich über den Stand des Wettrüstens unterrichtet, wie in Zeiten des sogenannten Kalten Krieges, und kaum einer redet noch von Pazifismus.

Ich fühle mich von solchen Nachrichten wie erschlagen und möchte gleich wieder ins Bett kriechen und die Daunendecke über mich ziehen.

Während der individuellen Depression das illusionäre Moment anhaftet, dass da kein Wiesel ist und nie mehr ein Wiesel oder ein Wiesel-Äquivalent sein wird, droht kollektiv der Verlust des Glaubens an die Menschheit schlechthin. An die Fähigkeit, uns zu ändern und selbstverschuldetes Unheil in den Griff zu bekommen, Gewalt- und Zerstörungsdynamiken zu unterbrechen.

Wenn trotzdem Hoffnung aufkeimt, dann leise und unverhofft: als etwas, das uns scheu aus der Zukunft entgegenblickt; etwas, das wir uns jetzt noch nicht einmal vorstellen können. Dann gilt es aufmerksam zu sein, damit wir den Moment des Wiesels nicht verpassen.

Foto von Brent Jones auf Unsplash

Eine lesenwerte «Kritik des Krieges» des Philosophen Christoph Menke ist kürzlich im Philosophie Magazin erschienen.

Im RefLab haben wir nach Ausbruch des russisch-ukrainischen Kriegs das Thema in Briefform verhandelt.

Zu Klimaerhitzungskatastrophe und Ökozid gibt es auf RefLab ein Dossier «Climate Chance».

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

RefLab regelmässig in deiner Mailbox

RefLab-Newsletter
Podcasts, Blogs und Videos, alle 2 Wochen
Blog-Updates
nur Blogartikel, alle 2 bis 3 Tage