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Ein Lob der Schwäche

Ich bin wieder schwach geworden: habe genascht; habe mich wieder nicht beherrscht; habe nicht abgewartet, bis mein Gegenüber ausgeredet hatte (wieso quasselt der oder die so redundant?); habe wieder «stretcher things» geschwänzt (internes Fitnessprogramm von RefLab&Fokus Theologie); hab ein Wurstsandwich gegessen; habe mich der Angst (die laut Janna ein «Arschloch» ist) überlassen oder dem selbstschwächenden Hirnkino. Das alles ist nicht schön. Und trotzdem ist es o.k., schwach zu sein.

Schwachsein ist o.k.

«Es ist o.k., dass ich schwach bin»: diese Einsicht ist mir als eine Art Eingebung bei einem Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik gekommen. Der Satz passte so gar nicht zum neoliberalen Mantra von Managern, denen ich damals unterstellt war. Sicherlich hatte jemand, ein Arzt oder ein Patient, etwas ähnliches gesagt. Aber es reicht ja meist nicht, dass jemand etwas Tiefes sagt, sondern man muss es auch tief fühlen.

«Es ist o.k., dass ich schwach bin.» Einfach so, ohne Kontext, wirkt diese Aussage freilich auf eine schwache Weise schwach, kaum interessant oder einfach blöd.

Stark wurde sie für mich in dem Moment, als mir einleuchtete, dass ich genau aus meiner Schwäche meine Stärke beziehen kann; und zwar durch mein Menschsein, zu dem Schwäche, Fragilität und Sterblichkeit gehören. Wir sind nun einmal «fragile little humans» («Twilight») – und ich will immer noch mehr Mensch sein und werden.

Wo ich schwach bin, liegt mein Gold vergraben.

Ich versuche seither also ganz bewusst dort anzusetzen, wo meine Schwächen sind. Nicht, um mir als eine Art Manager meiner selbst ein noch härteres Optimierungsprogramm aufzuerlegen, als es meine damaligen Vorgesetzten in der Medienbranche versuchten. Sondern um noch mehr ich selbst und Mensch zu sein und zu werden. (Das ist auch das Mantra meines spirituellen Lehrers Niklaus Brantschen, den ich damals aber noch nicht kannte.)

Das spannende an der Übung ist: Man wird richtig neugierig auf seine Schwächen und erkennt darin mit Freude Potenziale zur Persönlichkeitsentfaltung; Entfaltung, wie viel schöner klingt das als «Optimierung», klingt nach Blüte, Märzenbecher, Mai und Schmetterling!

Was ist Ihre grösste Schwäche?

In Jobinterviews wird zwar stereotyp abgefragt: «Was ist Ihre grösste Schwäche?», aber weder gibt man seine tatsächlich grösste Schwäche in solchen Kontexten preis noch möchte sie jemand hören. Ratgeber empfehlen, eine Schwäche zu nennen, die in eine Stärke umgewandelt werden kann.

Tatsächliche Schwäche dagegen gehört in unserer Kultur zu den besonders verpönten, verschwiegenen und versteckten Eigenschaften. Alle wollen tough sein, smart, cool und fehlerlos.

Schwäche war nicht zu allen Zeiten gleichermassen verpönt. «Obwohl ich ein ‹Nichts› bin, kann ich es mit euren ach so großartigen Aposteln in jeder Hinsicht aufnehmen. Denn ich habe bewiesen, dass ich wirklich ein Apostel bin.», heisst es in 2 Kor 11-12, wo Paulus das Motiv der starken Schwäche aufgreift.

In der Epoche der Empfindsamkeit zur Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert wurde in literarischen Kreisen der Sinn für verinnerlichte moralische Empfindungen und das sittlich Rührende kultiviert. Die philosophisch-etische Grundlage bildete die «Moral-Sense-Philosophie». Diese schrieb Menschen eine natürliche Anlage von Mitgefühl, Liebe und Zärtlichkeit zu.

Schwaches Denken

In der Postmoderne kam die philosophische Strömung des «schwachen Denkens» auf. «Il pensiero debole» lautet der Titel eines philosophischen Sammelbandes, den der italienische Philosoph Gianni Vattimo zusammen mit Pier Aldo Rovatti herausgegeben hat. Vattimos Postulat eines «schwachen Denkens», das nicht auf Beherrschbarkeitsphantasien basiert, entspringt der Einsicht, die Welt nie umfassend wahrnehmen zu können, und ist durchaus vom christlichen Motive der Schwäche als Stärke inspiriert. Vattimo sagt:

«Es gibt keine objektiven, zeitlosen Strukturen. Martin Heidegger hatte recht, als er sagte, dass das Sein nicht als Gegenstand gedacht werden kann. Dasselbe meint auch Dietrich Bonhoeffer, wenn er sagt: ‹Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.›»

Offen bleiben und verletzlich!

Es gibt eine Aussage der polnischen Literaturnobelpreistägerin Olga Tokarcuk, die sich mir eingeprägt hat:

«I believe that pain rules our world, it is important to write about pain and suffering, it is the key to others people, it’s compassion.»

«Ich glaube, dass Schmerz unsere Welt regiert, es ist wichtig, über Schmerz und Leiden zu schreiben, es ist der Schlüssel zu anderen Menschen, es ist Mitgefühl.»

Wir merken ganz besonders in Kriegszeiten, wie Mitgefühl, Liebe und Zärtlichkeit als Zeichen der Schwäche angesehen, weggedrängt und weggeschrieben werden. Nur die Harten kommen in den Garten! Gleichzeitig aber werden die Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit von Menschen und die Schwachstellen von Gesellschaften überdeutlich.

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2 Kommentare zu „Ein Lob der Schwäche“

  1. Danke liebe Johanna für das schöne Plädoyer zur Schwachheit. Mir scheint, je älter wir werden, desto schwächer und abhängiger werden wir gerade auch von anderen Menschen. Mir half dabei der Gedanke, dass diese Abhängigkeit auch ein Zeugnis der Liebe Gottes sein kann. Ich bin ein Wesen, das in Abhängigkeit von Gott geschaffen ist. Auch in der menschlichen Gemeinschaft kann diese Liebe Stückweise zur Erfüllung kommen bzw. erahnen werden. So sehe ich Schwäche immer mehr als Aufblühen der Liebe Gottes in mir, von der ich abhängig bin und sein möchte.

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