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 Lesedauer: 4 Minuten

Ein Lob der Verausgabung

Perfekt ausbalanciert

Das Stichwort «Work-Life-Balance» ist seit mehreren Jahrzehnten in aller Munde, wenn es darum geht, seinen Arbeitsalltag gesund zu gestalten. Wer den Begriff googelt, wird auf Websites von Personalunternehmen, Coachingnetzwerken und Krankenversicherungen geführt, die uns die «Vier Säulen der Work-Life Balance» vorstellen, «12 Wege zur Verbesserung des Gleichgewichts von Arbeit und Freizeit» weisen oder mit den «Fünf Tipps für ein besseres Zeitmanagement in Beruf und Familie» beglücken.

Unsere Arbeit soll uns nicht vereinnahmen und unser Privatleben nicht beeinträchtigen – im besten Falle sind unser Engagement im Beruf, unsere sportlichen Aktivitäten und unsere familiären Verantwortlichkeiten passgenau aufeinander abgestimmt und sauber austariert.

In neuerer Zeit wird der Gleichgewichts-Trend durch die Erfolgswelle von Achtsamkeitsübungen («mindfulness») befeuert. Sie sollen sicherstellen, dass wir unsere Arbeit nicht nur mit anderen Lebensbereichen schön ausbalancieren, sondern auch bei der Arbeit selbst immer ganz «bei uns» bleiben, auf unsere inneren Kräfte achten und allzu grosse Ausschläge des Seelenbarometers vermeiden.

Total ausgepowert

Und irgendwie macht das alles ja auch Sinn.

Einige meiner Bekannten haben ihre Gesundheit und ihr Familienglück auf dem Altar beruflicher Ambitionen oder Verpflichtungen geopfert, und ich weiss von keinem (und keiner), der (die) das nicht nachträglich bitter bereut.

Das von ihnen beschriebene Gefühl völliger Erschöpfung und Kraftlosigkeit kenne ich auch selbst. Nicht zuletzt aus den Jahren meiner pastoralen Tätigkeit, wenn sich der Druck der Predigtvorbereitung für nächsten Sonntag, gehäufte Sitzungstermine, dreistellige Zahlen unbeantworteter Emails und mühsame Konfliktlösungsprozesse im Team zu einem Lebensgefühl verdichten, vor dem man selbst nur noch die Flucht ergreifen möchte.

Wie oft bin ich zum Gottesdienst gefahren mit dem schreienden Wunsch, einfach nur zu Hause im Bett zu bleiben und Netflix zu schauen.

Wie oft fühlte sich mein Alltag an wie der Versuch, aus einer eigentlich leeren Zahnpastatube doch noch das Letzte herauszupressen.

Aber.

Ja, aber!

Beglückend erschöpft

Es gibt auch beglückende, nachhaltig inspirierende, ermächtigende Erfahrungen, die nur denjenigen geschenkt werden, die es auch mal wagen, an die Grenzen dessen zu gehen, was sie zu leisten im Stande sind.

Das Gefühl, an einem Sonntag nach vier Predigten in vier Gottesdiensten im Zug nach Hause zu fahren – zu erschöpft, um sich noch an den eigenen Namen zu erinnern, aber auch unendlich erleichtert und erfüllt von wunderbaren Begegnungen und Momenten – dieses Gefühl ist unbezahlbar. Und es stellt sich nicht ein, wenn man sich fein säuberlich an die acht Arbeitsstunden in seelischer Durchschnittstemperatur hält.

Oder der Endspurt meiner Dissertationszeit, in der ich mir morgens eine grosse Kanne voll Kaffee zubereitet und von halb fünf bis Spätabends durchgearbeitet habe.

Dieses Bewusstsein der persönlichen Errungenschaft, wenn man seine Arbeit schliesslich (fristgerecht) abgeben kann, und auch das gestärkte Vertrauen in die eigenen Durchhaltekräfte: auch wenn von Work-Life-Balance in diesen Momenten nicht die Rede sein kann, möchte ich sie doch nicht missen.

Es sind gerade diese Zeiten, die mir nicht nur zeigen, wo meine Grenzen liegen, sondern eben auch, was ich alles schaffen kann, wenn ich die Leidenschaft und Entschlossenheit dazu aufbringe.

Genügend begeistert

Ein mir gut bekannter Start-Up-Unternehmer, der schon verschiedene Firmengründungen und auch kirchliche Initiativen gestartet oder begleitet hat, sagte mir einmal: «Ich will eigentlich nur noch mit Menschen zusammenarbeiten, die schon einmal wenigstens an die Grenzen eines Burnouts gekommen sind.»

Was er damit gemeint hat, war wohl zweierlei: Zum einen haben Menschen, die schon einmal jäh ans Limit ihrer Kräfte und Leistungsfähigkeit gestossen sind, ein besseres Gespür dafür, wieviel sie sich aufladen können und auf welche Anzeichen der Verausgabung sie sensibel reagieren müssen.

Zum anderen aber beweisen Menschen, welche diese Überforderungs- und Erschöpfungserfahrungen schon gemacht haben, dass es etwas gibt in ihrem Leben, das sie genügend begeistert, um den wohltemperierten Normalbetrieb zu verlassen und sich rückhaltlos einzusetzen.

Was wäre das Leben ohne Anliegen, die uns so wichtig sind, dass sie uns die Zeit vergessen lassen und zu Höchstleistungen anspornen?

Ich habe grossen Respekt vor Menschen, die sich im Anliegen ihrer physischen und psychischen Gesundheit und aus Liebe zu Familie und Freunden um einen ausgeglichenen Berufsalltag bemühen. Und ich möchte ihrem Beispiel auch folgen.

Aber mir graut davor, ein Mensch zu werden, in dem nichts mehr heiss genug brennt, um ihn aus der Reserve zu locken und dann und wann auch mal an seine Grenzen zu bringen.

Darum: Ein Lob der (gelegentlichen) Verausgabung um einer grösseren Sache Willen!

Alle Beiträge zu «Ein Lob der…»

2 Kommentare zu „Ein Lob der Verausgabung“

  1. Scheiße ja. Es fehlt uns an Menschen, die für etwas brennen und dafür bereit sind an ihre Grenzen zu gehen. Und ja, es fehlt uns auch ein gesunder Umgang mit unseren natürlichen Ressourcen. Vielleicht ist die uralte Erkenntnis von „alles hat seine Zeit“ auch für das Arbeitsleben zutreffend. Brennen hat seine Zeit, wieder auftanken hat seine Zeit. Und vielleicht geht es bei Achtsamkeit uns Ausbalancieren ja nicht um ein Thema auf der Mikroebene (jeder Tag in sich muss ausbalanciert sein), sondern im Großen und Ganzen, über einen längeren Zeitraum, auf einen Lebensabschnitt. Und vielleicht ist es auch wichtig sich darüber Gedanken zu machen welche Art von Stress mir gut tut, mich beflügelt und welcher Stress mich dauerhaft runter zieht. Ach, es ist kompliziert. Aber ja, wir müssen auch brennen dürfen.

  2. Ich lese deine Beiträge sehr gerne und sie sprechen in meine Lebenssituation hinein. Herzlichen Dank! Für mich passt dazu auch das positiv besetzte Wort Leidenschaft, aus dem sich das Leiden eben nicht streichen lässt – sondern dazu gehört (sofern es kein überhandnehmender Dauerzustand ist). 🙂

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