Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 5 Minuten

Ein Lob des Aufschiebens (jetzt aber wirklich!)

Mentale ToDo-Listen

«Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen!» Mit diesem Mantra bin ich aufgewachsen. Meine Eltern haben mich damit für anstehende und aufgestaute Aufgaben zu motivieren versucht, und ich habe es mir längst freiwillig zu eigen gemacht.

Ich hasse es, unzählige unerledigte Pendenzen durch den Tag zu stossen – und noch mehr, sie mit in die Nacht zu nehmen.

Die Eltern mal wieder anrufen.

Die quietschende Wohnzimmertüre ölen.

Meine Emails auf «Posteingang Null» abarbeiten.

Die Ferienwohnung für die Sommerferien reservieren.

Endlich wieder bei Insta die Nachrichten checken.

Mich bei dem Bekannten zurückmelden, der mich nun schon zum dritten Mal angeschrieben hat.

Neue Staubsauger-Filter besorgen.

Auf den Online-Kommentar zum neusten Blogbeitrag reagieren.

Nach einem neuen Alltags-Rucksack googeln, weil der jetzige sowohl modisch wie auch praktisch untragbar geworden ist.

Endlich die online gespeicherten Zeitungsartikel nachlesen.

Usw. usf. …

Nein, bevor mir das alles unter der Dusche in den Sinn kommt, mich in einer wachen Minute morgens um halb drei einholt oder just in dem Moment in meinem Gedächtnis aufpoppt, in dem ich abends mein Bier öffne und offiziell Feierabend machen will, erledige ich es lieber gleich.

Dann ist mein Kopf frei für das, was ich eigentlich tun wollte, für das Wichtige, das man mit Tausend hängigen Pendenzen einfach nicht herzhaft anpacken kann.

4’000 Wochen

Jetzt habe ich aber kürzlich ein Buch gelesen. Und darüber sogar eine Podcast­­folge gemacht: Oliver Burkeman: «4’000 Wochen». Der Titel erklärt sich aus einer Berechnung der durchschnittlichen Anzahl an Lebenswochen, die einem Menschen gegönnt ist – man kommt damit auf etwa 77 Jahre.

Irgendwie ist das nicht viel.

Und deshalb stellt der Autor sich und seinen Lesern die schmerzhafte Frage, was wir mit dieser begrenzten Lebenszeit eigentlich alles zu tun gedenken.

Nachdem er sich 15 Jahre lang als Wirtschaftsjournalist und Rezensent mit der aktuellen Literatur zur Selbstoptimierung, Ressourceneffektivität und angesagten Business-Lifehacks beschäftigt hat, ist Burkeman zur Überzeugung gelangt, dass ein sinnvoll ausgefülltes – ein «erfülltes» – Leben gerade nicht durch ein möglichst effizientes Zeitmanagement erreicht wird. «Das Leben ist zu kurz für Zeitmanagement», lautet stimmigerweise der Untertitel des Buches.

Es geht nicht darum, in die begrenzte Zeit möglichst viel hineinzupferchen, sondern vielmehr darum, Zeit für das Richtige zu finden – und dabei spielt die Kunst des Aufschiebens eine zentrale Rolle.

Ein beträchtlicher Teil seines Buches ist darum der Frage gewidmet, wie sich das gezielte Aufschieben lernen lässt. «Die Kunst des Prokrastinierens» nennt Burkeman das.

Und weil er das eloquenter und pointierter beschreibt, als ich es tun könnte – und weil ausserdem die Zeit, die ich mir zum Verfassen dieses Textes nehmen wollte, bereits abgelaufen ist, nehme ich mir die Freiheit, diesen Beitrag mit einem entscheidenden Abschnitt aus dem besagten Buch abzuschliessen.

Im Folgenden also O-Ton Burkeman:

Die Kunst des Prokrastinierens

Obwohl ich mich für einen Menschen hielt, der Dinge erledigt, wurde mir schmerzlich bewusst, dass die Dinge, die ich am gewissenhaftesten erledigte, die unwichtigen waren, während die wichtigen aufgeschoben wurden – entweder für immer oder so lange, bis eine dringende Frist mich zwang, sie zu erledigen, und zwar auf einem mittelmäßigen Niveau und in einer hektischen Eile.

Die E-Mail der IT-Abteilung meiner Zeitung, in der ich darauf hingewiesen wurde, wie wichtig es sei, dass ich mein Passwort regelmäßig änderte, veranlasste mich zu raschem Handeln, obwohl ich sie auch ganz hätte ignorieren können. (Der Hinweis stand in der Betreffzeile, wo die Worte »BITTE LESEN« im Allgemeinen ein Zeichen dafür sind, dass man sich nicht die Mühe machen muss, das Folgende zu lesen.)

Die lange Nachricht eines alten Freundes, der inzwischen in Neu-Delhi lebte, und die Recherchen für den großen Artikel, den ich seit Monaten geplant hatte, blieben hingegen unbeachtet, weil ich mir sagte, dass ich mich auf solche Aufgaben voll und ganz konzentrieren müsse. Ich wollte lieber warten, bis ich ausreichend freie Zeit und weniger kleine, aber dringende Aufgaben hatte, die an meiner Aufmerksamkeit zerrten.

Pflichtbewusst und effizient, wie ich war, steckte ich also meine Energie in das Aufräumen, das Abarbeiten kleinerer Aufgaben, um sie vom Tisch zu haben – nur um dann festzustellen, dass dies den ganzen Tag in Anspruch nahm, dass über Nacht wieder neue Aufgaben hinzukamen und dass der Zeitpunkt für die Beantwortung der E-Mail aus Neu-Delhi oder für die Recherche des Meilenstein-Artikels niemals kam.

So kann man Jahre vergeuden, indem man systematisch genau die Dinge aufschiebt, die einem am meisten am Herzen liegen.

Erst allmählich habe ich begriffen, was man in solchen Situationen stattdessen braucht, nämlich eine Art Anti-Fähigkeit: nicht die kontraproduktive Strategie, sich selbst effizienter zu machen, sondern die Bereitschaft, diesem Drang zu widerstehen – zu lernen, mit der Angst umzugehen, sich überfordert zu fühlen und nicht alles im Griff zu haben, ohne automatisch darauf zu reagieren, indem man versucht, mehr unterzubringen.

Auf diese Weise an seine Tage heranzugehen bedeutet, dass man nicht alles erledigt, sondern sich auf das konzentriert, was wirklich wichtig ist, und dabei das Unbehagen in Kauf nimmt zu wissen, dass sich die Liste der zu erledigenden Aufgaben immer weiter füllt, mit E-Mails, Besorgungen und anderen Aufgaben, von denen man viele vielleicht gar nicht erledigt.

(aus: Oliver Burkeman: «4’000 Wochen», 62f)

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