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 Lesedauer: 4 Minuten

Ein Lob der Angst

Zu Besuch

Die Angst wohnt jetzt bei mir. Sie hat sich einfach selbst eingeladen und lungert nun in meiner Wohnung rum. Dabei wollte ich sie nicht mal zu Besuch haben. Dazu taucht sie meistens eher zu unpassenden Zeiten auf. Angst ist dieser eine unliebsame Gast, der bitte möglichst schnell wieder geht.

Angst ist ein Arschloch

Angst zieht sich in deine Kleidung wie Feuchtigkeit. Ein Nebel, der sich um deine Haut legt, ein kalter Schauer.

Angst ist die Strasse, in der die Laternen nicht hell genug sind und es schon ein bisschen zu spät ist, um zu Fuss nach Hause zu gehen. Angst ist das Warten auf die Tochter, die um 22 Uhr zuhause sein sollte. Es ist schon 22:15 Uhr und sie ist noch nicht da.

Angst ist der Blick in die Tiefe, wenn jeder Schritt unsicherer wird. Angst ist der Moment hinter dem Vorhang, kurz bevor die Scheinwerfer angehen und alle Augen auf dich gerichtet sind. Angst sind die schwitzigen Hände, die sich in den Zahnarztstuhl drücken, die Rückenlehne wird heruntergefahren, die Instrumente parat gelegt. Angst ist der verpasste Anruf von den Eltern, mitten in der Nacht.

Die Liste liesse sich entsprechend fortführen. Ein Gefühl, welches uns einsam macht, hilflos.

Ein Un-Gefühl

Das vielleicht Unliebsamste der Gefühle, die uns umtreiben können, das Unausgesprochene. Denn wer redet schon gerne darüber. Angst hat man oder eben nicht. Und wenn man sie hat, dann will man sie möglichst schnell wieder loswerden. Sie soll sich bitte nicht einnisten im Kopf und in der Wohnung.

Und trotzdem gibt es viele, die täglich mit ihr leben. Nicht umsonst stapeln sich Ratgeber mit dem Slogan: Endlich Angstfrei leben.

Die Angst richtet sich auf das Ungewisse. Auf die Zwischenräume. Auf den Keller, den Dachboden, die Dunkelheit hinter dir, die Tiefe neben dir, das Unklare, Ungeklärte. Und manchmal auch auf die Zwischenräume in den eigenen Gedanken.

Sie fühlt sich irrational an, ist immer unpassend, unbequem, ungemütlich, unnötig, unschön.

Angst ist ein Un-Wort. Es sollte Ungst heissen.

Ausnahmezustand

Ich habe mal gegoogelt, damit ich weiss, mit wem ich mir nun neuerdings den Küchentisch teile. Wenn der Mensch Angst empfindet, versetzt sich der Körper in einen Ausnahmezustand. Die Amygdala im Gehirn ist aktiviert, das limbische System angeregt, die Alarmanlage des Gehirns schlägt aus. Herzrasen, Schweissausbrüche, die Hände zittern, das Nervensystem dreht auf. Jedes Geräusch wird analysiert, jeder Schatten, jede Bewegung auf vermeintliche Gefahr hin eingeschätzt.

To face the fear

Flucht oder Kampf sind die beiden Optionen, die mir zur Verfügung stehen. Wie kann ich mich im Notfall verteidigen? Wohin kann ich fliehen?

Überlebensnotwendige Reaktionen, solange sie im Verhältnis zu der Situation stehen, in der sie ausgelöst werden. Jeden Tag will ich wahrlich nicht im Überlebensmodus sein.

Aber zurück zur Angst in meiner Wohnung. Am Frühstückstisch macht Angst mal so gar keinen Spass. Ob ihr das gefalle, habe ich sie letztens gefragt. Nicht wirklich, sagte sie, es sei immer so hektisch und unruhig, wenn sie zu Besuch käme. Dabei wünsche sie sich doch auch nur etwas Aufmerksamkeit.

Angst ist kein Gegner.

Sie will wahrgenommen werden. Und bietet mir damit die Möglichkeit, meine Fähigkeiten und meine Situation zu reflektieren.

Søren Kierkegaard ist der Überzeugung, wir erkennen erst durch unsere Angst, wie unvorhersehbar das Leben ist. Dadurch erst sei ein Leben in Freiheit möglich.

In der westlichen Gesellschaft, die auf möglichst viel Sicherheit und individuelle Lebenskontrolle bedacht ist, liest sich Kierkegaard sehr existenzialistisch.

Der unmittelbare Kontrollverlust über die gegenwärtige Situation verunsichert Menschen. Die eigenen Ängste kennen und anerkennen bedeutet daher auch Leben mit der Verunsicherung und dem Kontrollverlust. Und trotzdem nicht hilflos sein.

Mir kann nichts passieren

Erich Kästner hat mal geschrieben:

«Wenn einer keine Angst hat, hat er keine Fantasie».

Wenn einer keine Angst hat, hat er keinen Mut. Das eine funktioniert nicht ohne das andere. Wenn einer keine Angst hat, hat er kein Gefühl mehr für das, was zwischen dem liegt, was ich wahrnehme und dem, was sein könnte. Für die Zwischentöne und das Unbewusste.

Durch meine Angst eröffnen sich Möglichkeitsräume. Die Möglichkeit, über sich selbst hinauszuwachsen, die Möglichkeit frei zu entscheiden und die Möglichkeit zu lernen.

Nur zu Besuch

Die Angst wohnt jetzt bei mir, dabei wollte ich sie nicht mal zu Besuch haben. Sie versteckt sich aktuell noch unter meinem Bett und kommt nur heraus, wenn es hell ist. Das Licht im Flur lass ich auch für sie an. Die Monster habe ich verscheucht und auch der Keller und der Dachboden sind abgesperrt. Vielleicht geht sie bald mal mit mir spazieren. Aber ich weiss: Uns kann nichts passieren, der Angst und mir.

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1 Kommentar zu „Ein Lob der Angst“

  1. Wesentlich zu erwähnen, erscheint mir der Hinweis zur absoluten Individualität der Angst. Stets kommt sie in unterschiedlichen Gewändern zu Besuch. Der Versuch, sie zu ignorieren, oder sie als Teil seiner selbst abzulehnen, wird fehlschlagen. Erst der Dialog mit der eigenen Angst nimmt ihr die Macht.
    Nach langer Therapie hatte ich folgenden Traum : Ich ging zu einem Lagerfeuer um das sich mehrere „Figuren versammelt“ hatten. Als ich nah genug war, erkannte ich alle meine Ängste. Und eine sprach zu mir: Wir gehören zu dir……. Von da an ging es mir zusehends besser. Ich lernte, mit den sporadisch immer mal wieder zu Besuch kommenden Ängsten umzugehen.

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