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Ein Lob der Inspiration

Sie sind furchtbar aus der Mode gekommen: die Musen. Wer veraltete Begriffe benutzt, der wird im Kunstfeld nicht ernst genommen. Dabei waren die Inspiration schenkenden Schutzgöttinnen der Künste einst gross gefeiert und umworben. Von den Musen geküsst zu werden, war einst die Hoffnung aller Künstler.

Jahrhundertelang haben sich Künstler inspirieren lassen, von Musen, Göttern oder Geliebten. Heute wollen Künstler:innen lieber strategisch operieren. Wem der inspirierende Musenkuss widerfährt, der wird es kaum offen zugeben.

Ausdrücke, die mit hohen Künstlerbildern zusammenhängen, sind im akademischen und künstlerischen Bereich dekonstruiert und teilweise tabuisiert worden. Neben Inspiration (von lateinisch inspiratio «Einhauchen», «Einatmen») auch Intuition, Schöpfung, Kreativität und selbst Subjektivität werden als belastete Vokabeln angesehen. Sie gelten als elitär (die Kunst), aus einseitig männlicher Perspektive geprägt (das schöpferische Subjekt) oder theologisch gefärbt (Schöpfung, Eingebung höherer Wesen oder Inspiration).

«Versachlichte Musen sind super!»

Es kommt also meist nicht gut an, wenn man Künstler:innen nach Inspiration oder Eingebung fragt. Schon Max Ernst und die Surrealisten hatten diese Konzepte abgelehnt. Stattdessen fragt man besser nach Material und Abgrenzung gegenüber anderen Künstlern oder Strategie.

Besonders heikel aber ist der Musen-Begriff. Der Künstler Jonathan Meese meinte, als ich ihn vor einigen Jahren zur Musen-Problematik befragte:

«Versachlichte Musen sind super und notwendig für Kunst. Unsachliche Musen, also ideologische Musen sind Kultur und in der Kunst unerwünscht. Für Meese ist Instinkt wichtiger als Intuition, Intuition ist Meese schon zu menschenichversaut.»

Musen sind seit der Renaissance mit bestimmten Weiblichkeitskonstruktionen verbunden, die von der feministischen und Gender-Forschung dekonstruiert wurden. Erträglich erscheinen Musen in der heutigen Kunst am ehesten, wenn es männliche Modelle sind, gemalt aus dem Begehrensblick von Frauen; jahrhundertelang war Ähnliches mit umgekehrten Vorzeichen geschehen.

Reduzierte Selbstbilder

Aber wie erklärt man sich dann heute künstlerisches Schaffen? In avancierten Diskursen ist die Kreativitätstheorie von Netzwerktheorien abgelöst worden. Das nun wiederum verwundert im digitalen Zeitalter kaum. Nach der Netzwerktheorie sind Künstler Akteure innerhalb eines komplexen Feldes. Sie müssen das Feld in seiner Gesamtheit als Struktur verinnerlichen, um strategisch-innovative Handlungen setzen zu können; ähnlich wie Fußballspieler das Spielfeld, Ökonomien die Märkte oder Militärstrategen das Schlachtfeld verinnerlichen, wenn sie im richtigen Moment vorstossen wollen.

Tatsächlich fühlen sich viele Künstler – oder sollte man sagen Netzwerkknoten? – heutzutage geschmeichelt, wenn man ihnen strategisches Handeln unterstellt. Kreativitätstheorien mit erkennbar humanistischem oder spirituellem Hintergrund dagegen sind tabu. In der Kunst herrschten lange Zeit überhöhte Künstlerbilder vor, etwa in der Romantik die Vorstellung des Originalgenies. Heute geben sich Künstler oft mit erstaunlich reduzierten Selbstbildern zufrieden.

Wenn es keine kreativen Subjekte mehr gibt, kein geheimnisumwobenes Schöpfen und kein Angewiesensein auf göttliche oder andere Inspiration, dann braucht es wohl auch die Musen nicht mehr, die Töchter der Mnemosyne oder der Erinnerung.

 

Illustration: Rodja Galli

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