In Julias Schlafgemach. Die Laken sind zerwühlt, die Wangen rosig, die Vögel erregt.
Es war die Nachtigall und nicht die Lerche. Willst du schon gehen?
Dass sowohl Julia als auch ihr aus dem Schlafgemach fliehender Liebhaber bald schon tot sein werden, ahnt der Zuschauer des Schauspiels zu dem Zeitpunkt meist noch nicht. Gift, verfeindete Familien, Missverständnisse und tiefe Liebe. Eine der wohl dramatischsten Liebesgeschichten, die je geschrieben wurde. Es wird gespielt, nicht erzählt. Es wird nicht beschrieben, es wird gelebt.
Let me entertain you
Shakespeare hat Romeo und Julia, Euripides die Königstochter Medea und die deutschsprachige Fernsehlandschaft das Dschungelcamp. Das menschliche Bedürfnis von Emotionen affiziert zu werden, sich mitreissen zu lassen, die Spannung bis in die Fingerspitzen kribbeln zu lassen, ist vermutlich so alt wie die Menschheit selbst.
Wir ergötzen uns an dem dargestellten Leid, den dramatischen Wendungen, den tiefen Leidenschaften, weil es uns aktuell nicht betrifft. Die Talkshows der 2000er haben es vorgemacht, die Scripted Reality Shows dieser Zeit zeigen es uns ebenfalls. Das Drama ergreift unsere Aufmerksamkeit, viel mehr, als es Geschichten ohne Spannung, auf ein erwartbares Ende zulaufend, täten. Frei nach dem Motto: Brot und Spiele! Ich will unterhalten werden!
Gerade deshalb schwingt wohl ein leichter Voyeurismus mit. Dramatik ist übertrieben, nicht der Situation angemessen, nicht rational nachvollziehbar. Laut und tragisch, aufsehenerregend emotional. Der Mensch wird zum Schaulustigen, solange es nur den Anderen trifft.
I’m watching you
In der Serie Derry Girls passiert den pubertären Protagonistinnen aus Nordirland eine unangenehme Unannehmlichkeit nach der anderen. Der totgeglaubte Hund der Oma uriniert an die Marienstatue in der Kirche, die Aufsicht habende Nonne beim Nachsitzen verstirbt im Beisein der Mädchen, die Wohnung der Pommesbudenbesitzerin gerät durch die Teenager in Brand. Fremdscham at its best. Was den Derry Girls widerfährt, belustigt und berührt.
Aber es bleibt nicht bei Übertreibung, extremer Darstellung der Gefühle und starker Ausdrucksweise. Was ich sehe, fordert einen aktiven Umgang mit dem, was passiert. Ich kann nicht nur passiv zuschauen bei den entsprechenden Fernseh- oder Theaterformaten. Ich verhalte mich zu dem, was da inszeniert wird.
Bitte nicht so dramatisch
Zu glauben, ich täte das aus einer privilegierten Situation heraus, es beträfe mich nur als Zuschauerin, ist ein Trugschluss. Denn ich habe dieselbe Dramatik auch in meinem Leben.
In dem Buch «Liebeskummer bewältigen in 99 Tagen», welches ich mir nach meinem letzten schlimmen Liebeskummer gekauft habe (dringende Leseempfehlung für alle heartbroken souls out there), steht bei Tag 26:
«Das Leben ist eine Aneinanderreihung von Ausnahmezuständen».
Beziehungen sollten besonders in anstregenden Phasen gut funktionieren, nicht nur, wenn alles leicht ist. Es ist immer irgendwas. Unabhängig von der Aussage über Beziehungen bleibt der Gedanke zurück:
Es ist immer irgendwas.
Während in Tragödien alles auf die Katastrophe zusteuert, überrascht die Dramatik im persönlichen Leben meist durch Unvorhersehbarkeit. Dass das Leben so smooth vor sich hindümpelt, wie eine Kaffeehaus Playlist auf Spotify, ist Irrglaube.
Ein Wunschdenken unserer kontrollbedürftigen Psyche, die gerne hätte, der Zug führe auf den mühselig verlegten Schienen bitte genau in die vorgesehene Richtung und bliebe nicht zwischendurch stehen. Wenn alles nur gut genug geplant ist, wird mir schon nichts passieren.
Alles halb so schlimm?
In einer Zeit, in der wir möglichst kontrolliert sein sollen, erleben wir in der Dramatik der anderen, sei es im Theater oder bei den Nachbarn gegenüber, Kontrollverlust durch Stellvertreter. Dramatik ist Überspitzung, Verschärfung und verzerrtes Spiegelbild des persönlich Erlebten. Dramatik funktioniert nur, weil wir uns mit den Inhalten identifizieren. Wir setzen unser Leben ins Verhältnis zu dem, was sich vor unseren Augen abspielt.
Durch das Zu-viel der Dramatik entsteht eine neue Relation zu unserem eigenen Leben.
Irgendwann reicht’s
Und trotzdem: Dramatik hofft auf Auflösung, im Theater wie in unserem Leben. Auf Wohlgefallen und das Ausatmen, nach dem Luft anhalten. Die Spannung wird ausgehalten, weil die Hoffnung, ja, die tiefe Überzeugung bleibt, dass darauf eine Lösung folgt. Durch das Mit-Erleben und die eigenen Emotionen entsteht Reinigung, oder wie Aristoteles sagen würde: Katharsis.
Daneben bleibt die Gewissheit, ich bin nicht alleine mit den Aufregungen und den Dramen. Anderen geht es genauso. Romeo und Julia rührt mich an, weil auch ich schon mal hoffte, es sei die Nachtigall und nicht die Lerche.
Zitat: Michèle Loetzner, Liebeskummer bewältigen in 99 Tagen, Köln 2020, S.70.
Illustration: Rodja Galli