Dein digitales Lagerfeuer
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 Lesedauer: 6 Minuten

Er-schöpft

Anfangs Januar bin ich an einem Morgen mit Fieber und Grippe-Symptomen aufgewacht. Ich dachte an eine normale Erkrankung, die ich in ein paar Tagen ausgestanden hätte.

Wegen unerklärlichen Schwindelanfällen und dem Gefühl, nicht ganz in meinem Körper zu verweilen, liess ich mich trotzdem untersuchen. Meine Blutwerte waren in Ordnung und die Diagnose lautete: Stress und Erschöpfung.

Die Erschöpfungsdepression ist wie ein wildes Tier, das im Busch lauert und sich gekonnt versteckt.

Wenn man aufmerksamer und achtsamer wäre, dann würde man vorher das Rascheln hören und auf der Hut sein. Wenn man aber vom Tier gepackt wird, dann ist es bereits zu spät. Habe ich die Vorzeichen nicht richtig gedeutet?

Vorzeichen deuten und Verhaltensweisen reflektieren

Es ist schwierig, in meiner Lage sinnvolle Ratschläge zu unterbreiten, v. a. wenn man noch nicht ganz gesund ist. Ich werde es trotzdem tun. Wenn nur eine lesende Person eine Erschöpfungsdepression vermeiden kann, dann lohnen sich die unzähligen Stunden und Tage, die ich in der Dunkelheit und Verzweiflung (über-)erlebt habe.

Erst nach Monaten habe ich die Depression als Helferin betrachtet, als heilende Kraft, die mir etwas mitteilen wollte: aus der Erschöpfung entsteht Schöpfung.

Gefühle sind Verbündete, keine Gegner.

Ich musste aber zunächst etwas ändern. Es folgt deshalb eine Auflistung meiner persönlichen Ratschläge:

1. Die Krankheit akzeptieren

Eine Erschöpfungsdepression hat verschiedene Gründe, die eher bei Verhaltensweisen und persönlichen Mustern anzusiedeln sind (z. B. Hang zum Perfektionismus, Anerkennung durch Leistung, wenig Selbstwert), als in einem ganz spezifischen Bereich (z. B. nur die Arbeit). Dabei spielen auch die Erziehung, die (Epi-)Genetik und natürlich aktuelle Herausforderungen eine wichtige Rolle.

Das Verdrängen hilft vielleicht kurzfristig, umso stärker wird dann die Reaktion, wenn sich die Erschöpfung und Depression später mächtiger melden.

Für Depressive verliert das Leben seine Schönheit. Was dir Spass gemacht hatte, ist plötzlich fade. Das kann man nicht kurzfristig ändern.

An dieser Stelle möchte ich keine Empfehlungen unterbreiten, welche Therapieart oder Medikamente (z.B. Anti-Depressiva) angebracht sind. Das ist vom jeweiligen Fall und der Intensität der Depression abhängig und sollte fachlich abgeklärt werden.

Was bedeutet aber akzeptieren? In Behandlung habe ich gelernt, dass das Akzeptieren nicht heisst, dass ich die Situation und die Emotion toll finden muss. Es heisst vielmehr, dass ich den negativen Emotionen zumindest kurzfristig eine bedingte Erlaubnis gebe, da zu sein.

Dies ist der erste Schritt zur Veränderung eines Gefühls.

So paradox es klingen mag: akzeptieren bedeutet somit verändern.

2. Professionelle Hilfe suchen

Natürlich kann man im Freundes- und Familienkreis nach Unterstützung suchen, alternative Therapien austesten, auf die eigenen Ressourcen setzen. Professionelle Hilfe ist dann angebracht, wenn man nicht mehr weiter weiss.

Es gibt verschiedene Webseiten, die bei der Ärzte-Suche weiterhelfen können, z. B. Psychiatersuche – SGPP. Weitere, direkte Anlaufstellen am Ende dieses Artikels.

3. Die dargebotene Hand annehmen

Die Depression ist toxisch. Als Betroffener weiss ich, dass ich krank bin und schlechte Laune unterbreite. Ich möchte meine Liebsten davor beschützen. Denn die Trauer kann wie ein Virus auf andere übergehen. Ich habe mich am Anfang zu fest isoliert, nicht nur aus Scham, sondern genau aus diesem Umstand. So kann man aber keine Hilfe annehmen und gesunden.

4. Richtig kommunizieren

Setze dich für deine Selbstsorge ein und grenze dich ab. Sehr häufig liegt das Problem in der Kommunikation. Wenn ich mich gerade mit einer Person nicht treffen mag, heisst es nicht, dass man sie nicht mag. Vielleicht ist man gerade erschöpft und aus lauter Altruismus kann man nicht «Nein» sagen. Ehrlichkeit ist zentral, wenn es darum geht, den eigenen Bedürfnissen Rechnung zu tragen.

5. Toxische Inhalte und Beziehungen vermeiden

Als ich erkrankt bin, war meine erste Reaktion gar keine Online-Nachrichten mehr zu konsumieren. Das kann als weltfremd bezeichnet werden, es war aber die instinktiv-richtige Reaktion meines Körpers aufgrund des Gesundheitszustands. Dasselbe galt auch für Beziehungen, die tendenziell mehr Energie geraubt, als sie generiert haben.

Ich bin kein Fan von Excel-Rechnungen, bei der man unter Freunden ausmacht, wer für die Beziehung mehr leistet. Liebe gibt man nicht aus einem bestimmten Grund (und noch dazu portioniert). Nichtdestotrotz merkt man, wenn über eine längere Zeit ein Ungleichgewicht entstanden ist.

6. Deine Energie-Quellen herausfinden

Hier wird es jetzt besonders subjektiv, weil die Energieressourcen (und Energieräuber) von Mensch zu Mensch unterschiedlich sind. Eine extrovertierte Person wird unter Menschen ihre Energie schöpfen, eine introvertierte tendenziell in der Einsamkeit eines Waldspaziergangs. Die Quellen können in Beziehungen und neuen Beschäftigungen gefunden werden.

Wichtig ist aus meiner Sicht, dass man nicht «übertaktet» und aus lauter Desorientierung zu viel ausprobiert. Bewegung tut auf alle Fälle gut. Man muss bedenken, dass je nach Intensität des Burnouts gewisse Beschäftigungen kurz- und mittelfristig nicht mehr möglich sind. Ich konnte beispielsweise lange Zeit nicht lesen.

7. Sich eine Struktur verschaffen

Aufstehen zu einer festen Zeit, Mahlzeiten einhalten, möglichst an Plänen festhalten, die man am Vortag geschmiedet hat (z. B. vormittags Schwimmen gehen), zudem bildschirmfreie Zeit vor dem Schlafengehen. Depressive Menschen scheitern genau an solchen «Banalitäten». Sie halten sich nicht an Plänen, jede kleine Aufgabe kann zu einer riesigen Herausforderung werden.

8. Kleine Fortschritte feiern

Plötzlich geht es doch und man kann wieder ein paar Seiten lesen. Trotzdem ist man unzufrieden. Man vergleicht sich mit dem ursprünglichen gesunden Zustand, als man problemlos ein Kapitel durchgelesen hat. Ein Dankbarkeits-Ritual am Abend kann helfen, wenn es darum geht, die kleinen Erfolge zu würdigen und positiv zu sein. Es gibt Leute, die diese lieber aufschreiben, andere gehen den Tag gedanklich durch.

9. Be kind to yourself

Wer soll deine Seele beschützen? Du bist die einzige Person, die einerseits Zugang zu deinem Inneren hat und andererseits dafür sorgen kann, dass du unmittelbar Hilfe erhältst.

10. Irgendwann geht es vorbei!

Die Bergsteigerin und Extremsportlerin Anja Blacha hat in der Festival-Episode von «I feel you» gesagt: «Nicht in den Abgrund schauen, sondern dahin schauen, wo der nächste sichere Schritt ist.» Ein letzter Hinweis für Depressive, die häufiger Schwarz sehen: Diese Erkrankung geht einmal vorbei. Man muss Geduld haben.

 

Falls du dich in einer ähnlichen Situation befindest, wünsche ich dir viel Kraft! Suche die Hilfe, die du benötigst.

Falls du mit jemandem sprechen willst, hier sind ein paar wichtige Telefon-Nummern und Links:

  • 143: Die Dargebotene Hand ist rund um die Uhr eine erste Anlaufstelle für Menschen in Krisensituationen oder schwierigen Lebenslagen. Die Beratung erfolgt per Telefon, aber auch per E-Mail oder Chat.
  • 144: Die Notrufzentrale ist rund um die Uhr eine Anlaufstelle für Sanitätsnotruf und Rettungsdienste.
  • 147: Die Notrufzentrale von Pro Juventute, speziell für Kinder und Jugendliche.
  • Kriseninterventionszentren (KIZ) sind kantonal aufgestellt. Dort kann man sich rund um die Uhr telefonisch wenden.

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Illustration: Getty Images

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