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 Lesedauer: 7 Minuten

Zauberwald (1) Ankunft

Es hat mich ins Nirgendwo verschlagen und ich frage mich, ob es wirklich eine gute Idee war, eine Kur zu beantragen. Am Zielbahnhof, einem ockergelben Backsteinbau in einer Kleinstadt, hatte schon der Bus gewartet. Ich hatte im Internet ermittelt, dass der Bus an einem Waldrand hält und leider nicht wie gehofft vor der Kliniktür. Da stehe ich nun mit Wintermantel, russischer Fellmütze und Rucksack verloren auf einer einsamen Landstrasse, die von Tannen- und Laubbäumen gesäumt ist, und sehe melancholisch dem Bus hinterher, der im Novembernebel verschwindet.

Ich wandere über holpriges Wurzelwerk. Immer tiefer in den Wald hinein. Meine Aufmerksamkeit wird vom harzigen Duft der Tannennadeln angezogen, dem regennassen Waldboden, den raschelnden Geräuschen der Waldvögel. Ja, das hatte ich vermisst. Die Naturwelt ist in meinem Leben wie ausgeblendet gewesen. Es hat schlicht keine Zeit für Natur gegeben. Ich verliere mich in meine Gedankenwelt.

Hätte ich schon damals gewusst, wer sonst noch im Wald anwesend war – ich hätte mich weit weniger wohl gefühlt.

Schon eine Weile gegangen, und noch immer kein Anzeichen einer Klinik oder sonstigen menschlichen Lebens. Die Forststrasse zieht sich wie ein Kaugummi in die Länge. Schließlich gabelt sie sich. Wohin sich wenden? Ich bleibe stehen und sehe mich ratlos um. Ich habe mich wohl verlaufen, bin buchstäblich auf Holzwege geraten. Ich entscheide mich aufs Geratewohl für die linke Abzweigung.

Nach wenigen Minuten Erleichterung. Ein Parkplatz und das Klinikgelände kommen zwischen Baumstämmen in Sicht. Auf einer kreisrunden Waldlichtung sind verschiedene Pavillons in der Art einer Streusiedlung angelegt. Eine Anlage, fast wie ein Wikingerdorf. Die Pavillons bilden eine Art magischen Kreis. Ich bin fast zwei Kilometer mit Rucksack zu Fuss durch den Wald gestapft und leicht verschwitzt, als ich die Klinik betrete, gerade noch rechtzeitig vor Einbruch der Dämmerung.

»Sie sind zu Fuss gekommen und das trotz ihres Rückenleidens? Nicht gut», sagt die Aufnahmeschwester im verwunderten Vorwurfston. «Wieso haben Sie nicht angerufen? Wir haben einen Abholservice.« Die Schwester runzelt die Stirn. Wie mit einem Schnappschuss scheint sie ein Psychogramm des neuen Kurgasts zu erstellen. Ich werde auf eine Wage gestellt und nach meiner Körpergrösse gefragt. Ich hätte nach dem Marsch durch den Wald lieber eine heisse Tasse Hagebuttentee zur Begrüssung gehabt.

Ich bereue, überhaupt etwas gesagt zu haben und begreife blitzartig, dass eine Herausforderung in den bevorstehenden Wochen darin bestehen wird, nicht als Psychofall abgestempelt zu werden.

Tja, aber es ist nun mal eine psychosomatische Klinik, in der ich gelandet bin. Die Ärztin, an die ich weitergereicht werde, gibt sich routiniert-verständnisvoll.

Ich denke, dass mein Problem handfester Natur ist: chronischer Kopf- und Nackenschmerz in mittlerer bis schwerer Migränestärke in Verbindung mit Übelkeit. Tagelange Abstürze in immer kürzeren Intervallen kündigen sich durch ein Taubheitsgefühl in den Füssen an. Übelkeit verstärkt sich bis zum Erbrechen. Ganze Nächte finde ich keinen Schlaf. Seit kurzem erlebe ich zudem rätselhafte Schwindelattacken. Mir selbst gegenüber spreche ich verklausuliert von der Notwendigkeit eines «Schongangs». Was tun? Schröpfen, vibrierendes Wasserbett, Fango, «Rückenschule», vielleicht zusätzlich Berufsorientierungshilfe und Bewerbungscoaching. Sogar das wird in der Waldklinik angeboten.

Vor allem aber suche ich Ruhe.

Ruhebedürfnis wird oft missverstanden. Man legt es als Eskapismus oder Spannungslosigkeit aus. Und Introvertiertheit wird als Soziophobie ausgelegt.

Aber sich zurückziehen ist schlicht meine Art, ein Übermaß an Zumutungen zu verwinden und neue Kraft zu schöpfen.

Jemand klopft schüchtern an meine Zimmertür. Ich reagiere nicht. Nach einer Weile sehe ich nach. Eine Botschaft liegt vor der Tür. »Ich heiße nicht nur Rainer, sondern dich auch herzlich in der Klinik willkommen. Ich darf dich als Patientenpate bei der ersten Orientierung und Lösung von Fragen und Problemen unterstützen. Meine Zimmernummer: 8.3.03. Ich wünsche ein gutes Ankommen und eine lohnenswerte Zeit!« Später hinterlässt mein unsichtbarer Pate eine weitere Botschaft: »Einige gehen gegen 18.30 zur Schwimmhalle! Lust?«

O.k., nette Zettel noch vor der ersten persönlichen Begegnung mit Klinikinsassen, das ist reizend. Mein Widerstand gegen Kontaktzumutungen schmilzt.

Mein Pate Rainer ist Sozialarbeiter aus einer Behindertenwerkstatt in der Stadt. Er hat lange, graue Haare, die sich am Hinterkopf zu einer Glatze lichten, ist schlank, sportlich und glücklich, «endlich wieder unter anderen sensiblen Leuten zu sein». Er hat eine Angststörung in Verbindung mit scheinbar grundlosen Panikattacken und Erstickungsgefühlen und ist schon wiederholt zur Kur in den Wald gekommen. Es überkommt ihn pochend, er hat dann Angst zu sterben.

Rainer ist Kurprofi. Für ihn ist das Leben in der Klinik das wahre Leben. Am liebsten würde er für immer bleiben. Das «Draussen» erlebt er als deprimierend und überfordernd: seine Frau, den Fernseher, die Arbeit (»Es geht nur noch um Produktion, nicht um Menschen«).

Die Leute in der Stadt sehen aus wie «zertretene Kippen», findet er.

Die guten Turnschuhe spare er für «daheim» auf, habe er seiner Frau beim letzten «Freigangwochenende» gesagt. Wenn Rainer «daheim» sagt, meint er das Heim, die Klinik. Durch den Wald joggen, im Glashaus gärtnern, sich abends «im Pool treiben lassen», das erfüllt ihn mit Glück, das «Draußen» dagegen mit Horror. Er ist ein ausgeprägter Uns-Mensch, bildet in der Klinik Freundeszirkel und ist selig, wenn ein Leidensgenosse, den er von früheren Aufenthalten kennt, in die Waldklinik eingewiesen wird. Beruflich neu orientieren möchte sich Rainer nicht, «lieber reduzieren».

Auf dem Weg in mein Zimmer komme ich an einer alten Frau vorbei, die am neonhellen Gang sitzt und weint.

Vor dem Einschlafen höre ich den Wald rauschen und lausche andächtig. Ich merke, wie tief erschöpft ich bin. Ich möchte kraftvoll sein, aber eine stumpfe Erschöpfung engt meinen Atem ein, drückt auf meine Brust. In Therapiesitzungen ertappe ich mich dabei, leise zu sprechen. Ich merke, wie sehr die Erfahrungen der zurückliegenden Monate mich niedergedrückt haben. Ich nehme mir vor, bestimmter und fester aufzutreten. Aber schon der Gedanke macht mich müde. Bitte keine Zusatzanstrengungen. Nicht an diesem Ort.

Ich frage mich, ob ich mir Worte zurechtlegen sollte und Strategien ersinnen, um vom Fachpersonal nicht als psychisch krank missverstanden zu werden. Solche Mühe aber würde den Eindruck wahrscheinlich noch verschlimmern.

Die Klinisierung, fürchte ich, wird mich mehr Energie kosten als erwartet.

In den nächsten Tagen treffe ich auf viel vorauseilendes Verständnis. Irgenwann beginne ich das als suspekt zu empfinden: «Ja, sie fühlen sich jetzt wohl erschöpft, man hat Ihnen Kränkungen zugefügt, vielleicht ist Ihnen alles zu viel.» etc. pp. Ich erhalte eine herzliche Einladung in die Psychopharmakarunde. Ich  frage den Arzt später in der persönlichen Sprechstunde, wieso. «Sie als Journalistin interessiert es vielleicht. Ich möchte natürlich nichts verkaufen.» Er sieht in mir also nicht primär eine Patientin? Während ich nach darüber nachdenke, ob mich das freuen soll, höre ich ihn fragen: Ob ich schon einmal über die Beantragung einer Berentung nachgedacht hätte? «Nein, natürlich nicht», ich sei schliesslich erst in meinen Vierzigern. Diese Möglichkeit bestehe, insistiert der Arzt, ich solle es im Hinterkopf behalten.

Vielleicht wäre es tatsächlich einfacher, denke ich, wie die meisten hier zu sagen, ich sei psychisch krank und heute gehe es mir sogar besonders schlecht. Dabei war es eigentlich ein überraschend netter Tag. In der Nacht plagt mich mörderischer Kopfschmerz, am nächsten Tag bin ich kaum zu gebrauchen. Ich  beobachte Tiere im klinikeigenen Streichelzoo: Kaninchen, Nymphensittiche, Schäfchen, Gänse. Und absolviere Arzttermine, Pflegervisiten und eine EKG-Messung. «Versuchen Sie sich etwas vorzustellen, das Ihnen am heutigen Tag noch Freude bereiten könnte», schlägt der Chefarzt vor. Ich blicke gequält und denke: Migränetage und Freude?

Mit einem Tag Verspätung kommt endlich mein Koffer mit den Wellnessprodukten an und die Angst vor Internierung und die Schmerzen weichen gegen Abend überraschend-wohligem Zauberwaldgefühl. Ich weihe die klinikeigene Sauna ein.

Eine von jüngeren Kolleginnen aus ihrer Stellung hinausgemobbte Kindergärtnerin – seit zwei Jahren im Krankenstand und auf dem Weg in die Frührente – und eine reizende Sozialarbeiterin mit Burnoutdiagnose schwitzen mit mir in der finnischen Sauna.

Mein Körper wird eingehüllt in bergende Wärme, der Saunaofen knistert und draussen liegt der märchenhafte Wald.

Beim Schlafengehen frage ich mich, ob mich sonderbare Laute psychisch Leidender aus dem Schlaf reissen werden? Die Klinikwände sind dünn. Für den nächsten Morgen ist Blutabnahme um 6.15 Uhr angeordnet. Solche kleinen Foltern gehören hier wohl zum Programm, denke ich schläfrig. Und übermorgen soll ich zur Gartenarbeit antreten, um 8.15 Uhr. Meine Mitinsassen beruhigen mich. Im Gewächshaus würde Bach gespielt, die Gärtnerin sei ausgesprochen nett und wahrscheinlich würden wir Adventsgestecke basteln.

Der Kuraufenthalt war Mitte der 2010er-Jahre. Die Namen der Klinikinsassen sind geändert.

Illustration von David Nydegger für RefLab.

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