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 Lesedauer: 4 Minuten

Zauberwald (7) Taschentüchertanz

Ich bin erstaunt, wie viel Raum das Leben in der Kuranstalt in meinem Denken und Fühlen inzwischen einnimmt: die kleinen und grossen Dramen der Erholungssuchenden, die Eigenarten der unterschiedlichen Typen, die Begegnungen beim Frühstücks-, Mittags- und Abendtisch, die Verabredungen zu Waldspaziergängen, die ungewöhnlich intensiven Gespräche, die gemeinsamen Abende am Kamin.

Die Welt draussen, der Arbeitskampf und sogar mein Privatleben in der Stadt sind wie hinter eine matte Scheibe getreten. Ich habe Abstand gewonnen und komme mir zunehmend vor wie eine Figur aus Thomas Manns Roman «Zauberberg»; nur hundert Jahre später und anstatt vom exklusiven Ambiente des schweizerischen Davos von ostdeutscher Provinz umgeben und im Kreis von Krankenkassenpatienten mittlerer Einkommensklassen und Erwerbslosen.

Viele Insassen der Anstalt schützen sich vor der Welt draussen. Sie wollen nicht einmal Nachrichten hören. Nachrichten regen sie zu sehr auf. Sie haben in ihrer Innenwelt genug Aufregung und Chaos.

Internetanschluss gibt es in der Waldklinik nicht. Um die Kauf-, Spiel- und Internetsüchtigen vor sich selbst zu schützen.

Ohnedies wäre in der abgelegenen Gegend die Verbindung wahrscheinlich schlecht.

Mein English Club läuft inzwischen von selbst, was mich stolz macht. Ich habe zusätzlich eine Handarbeitsgruppe gegründet. Ein Neuzugang kommt direkt aus der Psychiatrie. Wir empfangen den blassen, erschöpften Mann mit offenen Armen. Er ist in die Klinik gekommen, um sich von den Anstrengungen seiner jüngsten Psychoseepisode zu erholen. Er strickt mit Begeisterung. Männer, die in der DDR aufgewachsen sind, haben öfters eine Affinität zu Handarbeiten oder teilen zumindest nicht stereotype Männlichkeitsvorstellungen.

Auch Jessica, die Frau mit sanften schwarzen Augen, Borderline-Diagnose und sächsischem Zungenschlag, handarbeitet mit uns. Beim Stricken wirkt sie vollkommen gelöst und lacht am meisten von allen. Am Nachmittag bekommt sie Besuch von ihrem Mann und den kleinen Kindern.

Der Ehemann ist ein ehemaliger Bundeswehrsoldat, der den Afghanistaneinsatz miterlebt hat. Er überlebte einen Heckenschützenangriff am Flughafen von Kabul nur knapp. Gemeinsam mit anderen Soldatenfrauen hat Jessica damals «wie süchtig» Nachrichten nach Hinweisen auf Tod oder Leben der Soldaten durchforstet. Auf ein Bettlaken hat sie «Ich liebe Dich» geschrieben und Kameraden haben das Tuch nach Afghanistan geschmuggelt. Diese Zeit sei «total toll und zugleich schrecklich» gewesen.

Die Soldatenfrau ist oft scheinbar grundlos traurig. Manchmal beginnt sie schon morgens im Bett zu weinen. Wenn ihr Mann von der Arbeit nach Hause kommt, findet er über die gesamte Wohnung verstreute Papiertaschentücher vor. Ihren vorherrschenden Seelenzustand beschreibt die Frau als «Gefühls-Doublebind»: glücklich und tieftraurig sein zur selben Zeit, weggehen wollen und dableiben wollen, Gesellschaft haben und allein sein wollen, im Bett sitzen mögen und hinausstreunen wollen, in der Hoffnung, vielleicht jemandem zu begegnen.

Jessicas Kinder weinen, als sie begreifen, dass ihre Mutter nach dem Besuchstag weiter in der Erholungsanstalt bleibt und sie ohne sie nach Hause fahren müssen.

Ein Mitpatient fühlt sich beim Handballspiel in der Turnhalle unfair behandelt. Der sonst so selbstbewusste Mann bricht augenblicklich in Tränen aus. Er läuft in sein Zimmer und zerknirscht sich schliesslich darüber, womöglich selbst unfair gewesen zu sein und jetzt von keinem Menschen mehr geliebt zu werden. Untröstlich weinende Menschen gehören zum Klinikalltag.

Viele im Wald leiden unter Schuldgefühlen, deren Ursachen nicht klar sind und die umso schwerer auf Seelen lasten. Hinzu treten verselbstständigte Ängste. Gerade die Sanftesten zermartern sich. Scheinbare Kleinigkeiten können Krisen auslösen.

Am Abend spielt eine junge Frau im Kaminzimmer Gitarre und singt flüsternd dazu. Die Flammen züngeln im Eisenofen. Dann improvisiert ein junger Künstler, der am Stadtrand von Berlin in einem Trailerpark haust, am Klavier wogende Kadenzen und versunkene Improvisationen. Wie ein Schiff am Horizont tauchen zwischendurch bekannte Melodien auf und versiegen wieder. Er verfügt über ein absolutes Gehör. Seine Diagnose: Schizoide Persönlichkeitsspaltung. Der Sternenhimmel ist sehr klar.

Ich träume in dieser Winternacht von Ansammlungen tränennasser Papiertaschentücher. Eichhörnchen schnappen sich die vollgeweinten Tücher und huschen mit ihnen von Baum zu Baum. Mit einbrechender Dunkelheit sieht man nur noch die weissen Taschentücher, so als würden sie wie Geister durch den Zauberwald tanzen.

Der Kuraufenthalt war Mitte der 2010er-Jahre. Die Namen der Klinikinsassen sind geändert.

Illustration von David Nydegger für RefLab.

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3 Kommentare zu „Zauberwald (7) Taschentüchertanz“

  1. Eindrücklich in diese unvertraut-urvertraute „Anderswelt“ einzutauchen. Eindrücklich wie uns durch die Geschichten dieser Menschen der eigene alltägliche Wahnsinn vor Augen geführt wird…-
    Danke!

    P.S. Mich nähme wunder, ob eine Klinik ohne Internetanschluss heute noch möglich wäre….

    1. Dieser Kommentar freut mich unheimlich. Er drückt genau aus, worum es mir geht und was ich zu evozieren und vermitteln hoffte. Vielen Dank!

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