Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 7 Minuten

Zauberwald (2) English Conversation Club

Schon bei der ersten Sitzung gewinne ich, zu meiner eigenen Überraschung, Geschmack an Psychogruppen. «Psychoanalytisch-interaktionelle Methode» lautet der Fachbegriff, kurz PIM. Es soll Stress und Schmerz reduzieren. Nur das grelle Neonlicht in dem Raum erinnert mich an Sartres «Hölle».

«Ich bin Gregor, 59 Jahre, und habe Depression, Traumaerfahrung und bipolare Störung …«

Jeder zweite hier gibt dergleichen vollkommen routiniert von sich. Ich halte mit «Bossing-Erfahrung» dagegen, also Mobbing durch Bosse, schere dann aber aus dem allgemeinen Melancholietonfall der Gruppe bewusst mit einer Wendung ins Optimistische aus: «Eine Lichtung im Wald», betonte ich, «erscheint mir als geradezu idealer Ort, um tief durchzuatmen und neue Kraft zu schöpfen». Wie zur Unterstreichung meiner Worte fegt eine Sturmböe frische Luft durch den Kiefernwald und durch die gekippten Fenster in den Raum. Die junge Therapeutin hält sich zurück. So schreiben es die PIM-Spielregeln vor. Die Patientinnen und Patienten sollen sich wechselseitig analysieren.

Ich habe das Gefühl, einen Krieg hinter mir gelassen zu haben, einen Arbeitskrieg. Mein Arbeitsplatz in der Metropole hatte sich zunehmend in eine Nahkampfzone verwandelt. Ich dachte, ich halte das schon irgendwie aus, begann aber zu kränkeln. Meine solidarische Hausärztin sagte: »Ich möchte Sie eine Weile aus dem Wahnsinn rausnehmen.«

Sie zückte ein Formular und notierte die Diagnose «depressive Erschöpfung».

Ich: «Ich bin nicht depressiv.»

Die Ärtzin: «Erschöpfung allein reicht für die Bewilligung eines Kuraufenthalts nicht aus.»

Und so bin ich zu einem mehrwöchigen Aufenthalt in einer psychosomatischen Rehaklinik gekommen, dem ersten Kuraufenthalt meines Lebens. Und hier sitze ich nun in der PIM-Gruppe und höre mir Leidensgeschichten und Angstprotokolle an.

Der Sturm durchpflügt während des ganzen Tages die Baumwipfel. Die rötlichen Stämme der brandenburgischen Kiefern wiegen hin und her, ohne zu ächzen. Der Wald, denke ich, ist sehr mächtig. Er ist Therapeut (die Therapeuten der Anstalt können sich von mir aus zurückhalten). Bäume fühlen sich fest und gut an. Die mysteriösen Zweigwesen geben Halt, trösten und nehmen Spannung auf gütige Weise ab.

Der Wald fragt nicht, sondern rührt unmittelbar am Seelengrund, Vertrauter von alters her, harzduftend, rauschend, regennass. Und seine Wesen, die Raben, ziehen wissend ihre Runden, während im Unterholz wer weiss was umgeht.

Dass andere Menschen das Waldrauschen und die Raben sehr anders erleben und gerade im Wald von ihren Dämonen eingeholt werden, weiss ich zu diesem Zeitpunkt nicht. Noch bin ich Novizin in der Zauberwaldwelt. Es ist mein dritter Tag in der Klinik. Ich trete morgens pünktlich um 8.15 Uhr mit grüner Gärtnerschütze zur Arbeitstherapie im Gewächshaus an und binde eine Girlande aus Kiefernzweigen, die der Förster gebracht hat. Es ist für die Weihnachtsdekoration in der Klinik. Sonnenlicht fällt durch schmutzig-matte Scheiben auf Topfpflanzen, darunter viele Geranienarten, manche duften zitronig. Die Gärtnerin hat ein rundes, gütiges Gesicht.

Im Anschluss sitze ich in der Sporthalle auf einem Hometrainer, spiele dann mit einem maladen Buchhalter, der den Frührentnerstatus anstrebt, Federball und absolviere schliesslich einen sehr allgemein gehaltenen Berufseignungscheck, der wesentlich aus Konzentrationstests besteht und mich langweilt.

Die Tage sind warm für die Jahreszeit und regendurchwachsen. In der DDR-Zeit befand sich auf der Waldlichtung ein Armeestützpunkt. Manche Baracken sind offenbar für den zivilen Gebrauch einfach umgerüstet worden. Der nüchterne Charme ist geblieben.

Ich habe den Eindruck, in einer Art Zauberberg für Arme oder einem Lazarett gelandet zu sein.

Ich gewöhne mir tägliches Schwimmen im klinikeigenen Hallenbad an. Wohlig gleite ich im lichtgedimmten Pool und blicke auf den dämmrigen Dezemberwald. Danach lege ich mich in die Sauna und verfeinere die Aufgüsse mit mitgebrachtem Lavendelöl. Ich bin froh, dass der Hausmeister die Sauna geöffnet hat, obwohl sich für diesen Abend ausser mir nur die arbeitslose Kindergärtnerin angemeldet hat. Ich hatte leidenschaftlich für Saunieren geworben, aber keine Frauen gewinnen können. Männer versicherten mir, sie wären gern dabei. Ich erprobe erste Ausscherbewegungen aus Gruppenzwängen und werde nicht sanktioniert. Man lässt den Klinikinsassen also auch Freiheit. Das lässt mich noch tiefer entspannen.

Die «Körpertherapie» auf meinem Stundenplan besteht aus angeordnetem Ausdruckstanz, Mimikspiele, Partnerübungen, – kurzum: der blanke Horror für alle introvertierten Menschen. Meine Euphorie bekommt einen leichten Dämpfer, glücklicherweise lässt sich «Körpertherapie» umstandslos durch Nordic Walking im Wald ersetzen. Es ist der erste ausgedehnte Waldspaziergang seit meiner Ankunft in der Klinik. Es liegt noch ein Hauch Schnee. Gleich am folgenden Morgen folgt ein Morgenspaziergang im Raureif.

Ein clownartiger Goldfasan im Streichelzoo ist am Morgen hochnervös. Der Versuch, ein Handyfoto zu machen, lässt ihn wie ein panisches Küken hin- und herhetzen. Anscheinend versucht das Tier, sich durch Abwenden des Kopfes unsichtbar zu machen. Ziegen und Gänse stehen dagegen ungerührt im eiskalten Schneematsch.

«Das rechte Bein wird ganz schwer, das linke Bein ist ganz warm, die Ruhe kommt von selbst …»

Autogenes Training wird in einem großzügigen Saal mit freiliegenden Holzbalken angeboten. Der Raum liegt direkt unter dem Dach, die Stirnseite ist verglast und öffnet den Blick auf den Wald. Ich finde mich zur «Ergotherapie» in einem hölzernen Pavillon ein. Ich kann mir unter dem Begriff nichts vorstellen und bin überrascht, dass wir töpfern dürfen. Ich töpfere unter fachlicher Anweisung eine Duftlampe, drücke, streiche, forme den Ton, wie zuletzt als Kind.

Morgen «darf» ich nach Hause fahren, übers Wochenende. Ich verzichte auf den Shuttleservice und wandere die knapp zwei Kilometer zur Bushaltestelle, vorbei an einem silbrigen Waldsee. Ich fühle Erleichterung, als ich im Bus ein Ticket in die Stadt löse. Zurück in die Klinik bringt mich am Sonntagabend mein Mann. Es ist eine romantische Autofahrt durch Schneegestöber.

Die zweite Woche bricht an. Ich wache in einer schneeweißen Winterwelt auf. Die Chefarztvisite wird in meinem winzigen Klinikzimmer abgehalten. Der Oberarzt, eine junge Ärztin und eine Therapeutin drängen sich in den schmalen Raum. Ich fühle Platzangst in mir aufsteigen. Ich versuche zu erklären, wieso ich meiner Meinung nach in der Klinik gelandet bin. Die Ärzte wirken verständnisvoll und verständnislos zugleich. Die Stadt und ihre Kämpfe erscheinen unendlich weit entfernt von der Welt der Provinzklinik. Der Tross zieht in die nächste Schlafzelle weiter und ich erhalte im Massagepavillon Fango. Während Schlammkissen meinen Rücken und Nacken wärmen, höre ich Meditationsmusik.

Am Abend im Kaminzimmer ist Premiere des von mir ins Leben gerufenen Jour fixe: «English Conversation Club for Beginners», täglich vor dem Abendessen. Draussen ist es, typisch für die nördliche Gegend, schon finster. Konversation auf Russisch wäre einfacher gewesen. Die meisten hier sind Ostdeutsche und sprechen schlechter Englisch als ich. Beim zweiten English-Club-Termin stößt ein ehemaliges Bodencrewmitglied eines großen norddeutschen Flughafens dazu, Mitte 50, mit exzellentem Englisch. Er hat internationalen Aircrafts – er sagt nicht Flugzeuge, sondern «Aircrafts» – beim Einparken über ein Headset auf Englisch Anweisungen erteilt, bevor er zur Alkolholruine wurde, mit starken Nervenschädigungen, kaum noch bewegungsfähig.

Er hatte seiner Tochter zu oft versprochen, trocken zu werden, aber immer sein Wort gebrochen. Nun scheint in dem Mann kaum noch ein Rest Vertrauen in sich selbst übrig zu sein.

Zur Kerntruppe des Konversationskurses gehört Erika, eine Dresdnerin, wie viele hier. Auch sie über 50 und ohne Arbeit. Sie hat in einem vom Arbeitsamt geförderten Crashkurs ein holpriges Englisch erlernt, kommt immer mit ihrem digitalen Übersetzer ins Kaminzimmer und tippt umständlich herum, bevor sie einen Satz weiterführt. Einige macht das unruhig. Sie drohen abzuspringen, z.B. unser Special Guest aus Holland. Er spricht stilsicheres Texas-Englisch. Der Bauernsohn war dort in seiner Jugend Cowboy. Er bringt Schwung in unseren Club.

Es entwickelt sich ein eigenartig intensives Wirgefühl, die Verbundenheit der Versehrten: der Magersüchtigen und Fettleibigen, Spiel- und Kaufsüchtigen, Internet- und Drogensüchtigen, Alkoholkranken, Menschen nach psychotischen Schüben, Bipolariker, ausgebrannten oder schlicht müden Menschen, die es in die Waldklinik gespült hat: als Treibsand der Leistungsgesellschaft.

Der Kuraufenthalt war Mitte der 2010er-Jahre. Die Namen der Klinikinsassen sind geändert.

Illustration von David Nydegger für RefLab.

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5 Kommentare zu „Zauberwald (2) English Conversation Club“

  1. Sehr plastisch beschriebene Geschichte. Rein textlich sehr amüsant und im Stil eines spannenden Romans. Was mich aber schaudert (hier kann die Autorin nichts dafür) ist die Wellness-Mentalität von Kliniken. Töpfern, Baden, Nordic-Walking, Körpertherapie mit Mimik-Spielen, usw.
    Alles im Sinne bekannter Präventions-Kampagnen zur psychischen Gesundheit. Mit genug Obst und Gemüse, Bewegung und sozialer Interaktion bist gut geschützt vor psychischen Leiden. Herrlich einfach wie manche das Psychische doch sehen. Und nach dem Reha-Aufenthalt ist vor dem neuen Job. Jetzt halt mit Strategien wie z.B. Yoga, Achtsamkeit, Mindfulness, Ernährungsplan, usw.

  2. Danke vielmals. Eure Kommentare freuen mich wirklich sehr! Was Roger sagt, ist auch für mich ein ganz wichtiger Punkt bei der Geschichte. Die Klinik und die Welt draussen sind wie zwei Seiten ein und derselben Sache. Beeindruckend fand ich Kurgäste, die relativ unbeeindruckt von Vorgaben des Systems ihr eigenes Ding machen. 😉

  3. Danke. Diese Geschichte holt mich auf verschiedene Arten ab und rettet mir den Abend. Zudem wunderbare Sprache, freu mich schon sehr auf die kommenden Teile.

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