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Zauberwald (3) Geisterschreie

Ich höre an meine Zimmertür klopfen. Es ist Jessica, ein Neuzugang in der psychosomatischen Klinik. Sie ist gekommen, um mir mitzuteilen, dass der Klinikarzt sie mit einer Tablette «ruhig» gestellt habe. Die Psyche verursache bei ihr am ganzen Körper Fibromyalgie: ausstrahlende Schmerzen, Schlafstörung und Erschöpfung. Sie begreife nicht, woher ihre Leiden kämen, sagt Jessica mit ruhiger Stimme. «Die Ärzte sagen bipolare Störung und Borderline.»

Jessica hat dunkle Augen, ist umwerfend sensibel, weich und tiefmelancholisch: ein Wesen, das spontan Beschützerinstinkte weckt. Schon beim ersten Abendessen bricht sie in Tränen aus. Ein unerträglicher Druck habe sich in ihr aufgebaut und kulminiere weiter, Sorge um den fast erwachsenen Sohn im Internat, er könne ihre Krankheit haben, und sie sei daran mitschuldig, immerhin habe er zwei schwere Zusammenbrüche von ihr erlebt, mit Suizidversuchen. Ihr Sohn habe berichtet, er sei im Turnunterricht zusammengebrochen und von der Rettung abgeholt worden. Allerdings habe er verschiedenen Leuten abweichende Versionen des Hergangs erzählt, und Jessica fürchtet, ihrem Kind sei das nicht bewusst. Nach einigen Gesprächen mit Psychologen möchte sie, kaum in der Klinik angekommen, auch schon wieder nach Hause fahren.

Sie schildert mir am Abend, wie bei ihr Krisen beginnen: Sie bringt zum Beispiel ihren Sohn zur Schule, legt sich wieder hin, hört einen Schrei, das «Kopfkino» verbindet es mit ihrem Sohn, sie ist erst ruhig, wenn sie zur Schule gefahren ist und Entwarnung erhalten hat.

«Der Schrei», fügt sie hinzu, «war wahrscheinlich nicht real».

Realität und Schein verwischen sich im Zauberwald auch für mich. Es dauert zum Beispiel ein paar Tage, bis ich begreife, dass Erika aus meinem English Club Psychotikerin ist. Sie erzählt, in ihrem Büro in Berlin sei mehrfach eingebrochen worden. Sämtliche Geräte und Unterlagen seien gestohlen worden. Aus Mangel an Kapital für einen zweiten Start sei ihr Versuch, sich beruflich selbständig zu machen, gescheitert.

Erika drückt mir einen liebevoll gestalteten Flyer in die Hand. Mit diesem habe sie für ihre Dienste als Logopädin geworben, leider vergeblich. Die Einbrüche, so werde ich von anderen Patienten aufgeklärt, existierten wahrscheinlich nur in Erikas Kopf, das Scheitern der Existenz hingegen sei real.

Von der Polizei habe sie sich nicht für voll genommen gefühlt, das habe geschmerzt, erzählt mir Erika nun schon zum wiederholten Mal und hofft offenbar, dass wenigstens ein Mensch ihre Geschichte glaubt. Sie ist eine ruhige Frau mit grauem Gesicht und einem langweiligen Haarschnitt. Sie sagt, wegen einer Psychoseerfahrung glaube man ihr nicht mehr. «Man versucht, mir Psychosen anzudichten.»

Friedrich, der Holländer, rutscht von Tag zu Tag stärker in eine manische Phase hinein. Er sitzt inzwischen in der täglichen Gruppentherapie so, als müsse er mit beiden Füssen bremsen.

Es ist, als würde er um sich herum einen Sturm dirigieren.

Er besitzt, wie es scheint, zeitweise so viel Energie, wie alle anderen zusammen. Irgendetwas an dem Mann erinnert mich an die Figur des Priesters in der Mystery-Serie «Carnivàle», nicht das Aussehen, aber das Charisma.

Die «interaktionellen Gruppentherapien» erweisen sich als überraschend aufschlussreich. Vor allen die Langzeittherapierten sind selbst zu scharf beobachtenden Psychoexperten und -expertinnen geworden. In den Psychorunden durchwaten Patientinnen und Patienten gemeinsam das Land der Psyche, das Wasteland, und von Mal zu Mal wird auch meine Bereitschaft grösser, mich der Runde zu öffnen.

Die stereotypen Vorstellungsrunden in den Gruppentherapiesitzungen – Vorname, Alter, Diagnose plus aktuelle Befindlichkeitsangabe – aber empfinde ich schon nach kurzer Zeit wie Hirnwäsche. Selbst beim privaten Kennenlernen wird das Muster von Patienten abgespult. Gruselig, aber auch ich habe mir inzwischen eine knappe Selbstbeschreibung zurechtgelegt, mit der ich in Sitzungen durchkomme, ohne die Aufmerksamkeit zu sehr auf mich zu lenken.

Am Abend im Kaminzimmer spielt Rainer, ja, jener Rainer, der mir bei meiner Ankunft als Pate an die Seite gestellt worden war, ein schlichtes Stück am Klavier. Alle sind ergriffen.

Rainer ist sportlich, immer in Mikrofasersportklamotten unterwegs. Er hat sich einige Eigenheiten als «Behinderter» angewöhnt. In seinem sozialen Umfeld gilt er als Sozialromantiker, weil er von einem einfachen, schlichten Leben träumt. Er dosiert Psychopharmaka so, dass sie «die Stimmungen regulieren».

Der kleine Radius zu DDR-Zeiten hat ihm Geborgenheit gegeben, den Wegfall der Grenzen erlebte er als Entwurzelung.

Die alte sozialistische Welt klingt in seinen streiflichtartigen Erzählungen fast wie das Auenland der Hobbits.

Der sarkastische Witz der Diktaturzeit hat sich bei Rainer habitualisiert. Wenn beim Schmücken von Adventsgestecken zum Beispiel Dekomaterial fehlt, fragt er, wer der  «Abschnittsbevollmächtigte» («Revierpolizist») sei und ob dieser mit der Stasi verbunden sei.

Rainer und seine auf die Klinik eifersüchtige Frau nehmen mich im Auto mit nach Berlin. Wir sehen unterwegs Kranichschwärme. Das Ehepaar zeigt mir Häuser vom DDR-Standardplattenbautyp Q3A und erklärt, seit Jahrzehnten in einem solchen Haus zu leben, wie auch viele ihrer Angehörigen und Bekannten. Sie wundern sich, dass mir Q3A nicht vertraut ist.

Wenn ein Raumschiff Ausserirdischer landen würde, sagt Rainer, würde er einsteigen.

Der Kuraufenthalt war Mitte der 2010er-Jahre. Die Namen der Klinikinsassen sind geändert.

Illustration von David Nydegger für RefLab.

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