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 Lesedauer: 5 Minuten

Wir sind nie postmodern gewesen

Er war religionskritisch, Laizist – und bekannte sich zum Christentum; er stand in der nicht eben als linksgerichtet geltenden Tradition Nietzsches und Heideggers – und trat 2015 in die kommunistische Partei Italiens ein. Bekannt geworden für ein sensibel Differenzen anerkennendes «schwaches Denken» («pensiero debole»), löste er durch polemische Interventionen immer wieder Kontroversen aus und entgleiste dabei zuweilen. Wer war dieser widersprüchliche Gianni Vattimo, der am Dienstag in einem Krankenhaus in seiner Heimatstadt Turin verstorben ist?

Das Ende des Glaubens an die Moderne

Er war einer der wichtigsten Vertreter der «Postmoderne». Er hat sie, wie wenige andere, bedacht, verkörpert und gelebt. Was aber ist oder war die Postmoderne? Eine kritische Revision der Moderne. Was aber ist oder war die Moderne? Aus postmoderner Sicht waren das «grosse Erzählungen», die andere grosse Erzählungen abgelöst hatten.

Die westliche Moderne ersetzte die christlich-biblischen durch die grossen Erzählungen vom Fortschritt der Menschheit, verstanden als «Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit» (Hegel), als sozialer Fortschritt in Richtung einer klassenlosen Gesellschaft (Marx), oder als technisch-wissenschaftlicher Fortschritt im Positivismus. Alle diese Erzählungen, so lautet die postmoderne Erzählung, wurden im Laufe des letzten Jahrhunderts nach und nach unglaubwürdig.

Ende der 1970er, Anfang der 198oer Jahre tauchten mehrere philosophische Figuren auf, die das Ende der Moderne verkündeten – und damit die Postmoderne einläuteten.

In der ersten Reihe stand Gianni Vattimo. In diesen Jahren erschienen mehrere Publikationen von ihm («Abenteuer Differenz», «Jenseits des Subjekts»), die ihn an die Spitze dieser sich neu formierenden Bewegung setzten.

Das schwache Denken

Vattimo wertete hier viele Merkmale der Krise der Moderne, die uns noch heute vertraut klingen, positiv um und bejahte sie: die «neue Unübersichtlichkeit» (Habermas), die Verunsicherung fester individueller wie kollektiver Identitäten, den Schwund metaphysischer und geschichtsphilosophischer Gewissheiten, den Verlust des Glaubens an eine «objektive» Realität.

Was für andere Krisensymptome darstellten, deutete der Hermeneutiker und Gadamer-Schüler Vattimo als befreiende «Verwindung» (Heidegger) eines blinden Fortschrittsoptimismus und Realitätsbanns, als eine Gewalt und Herrschaft verringernde allgemeine «nihilistische» Tendenz der «Schwächung des Seins».

Gemeinsam mit Pier Aldo Rivatti entwickelte Gianni Vattimo das sogenannte «schwache Denken», das sich, gerade weil es zu naheliegenden Polemiken förmlich einlud, zu einem Label mit hohem Wiedererkennungswert entwickelte.

Das Ende des Kommunismus konnte aus postmoderner Perspektive auch von einem Sozialisten wie Vattimo konstruktiv gedeutet werden. Im Ende dieser religionskritischen modernen Meistererzählung entdeckte er neue Möglichkeiten der Anknüpfung an die christliche Tradition, – und ihrer Erneuerung. Deswegen war es nur auf den ersten Blick verblüffend, dass der Sozialist Vattimo in den 1990er Jahren über die Wiederkehr des Christentums zu schreiben begann.

Man muss aber auch sagen, dass der junge Vattimo Mitglied einer katholischen Studierendenverbindung gewesen war; insofern entsprach diese Wiederkehr der Religion bis zu einem gewissen Grad auch einer Wiederentdeckung seiner eigenen christlichen Wurzeln.

Credere di credere

In dem von ihm als «öffentliches Selbstgespräch» bezeichneten und auf deutsch unbefriedigend mit «Glauben-Philosophieren» übersetzten Buch «Credere di credere», womit so etwas wie «Ich glaube, dass ich glaube» ausgesagt ist, verband Vattimo in beeindruckender und origineller Weise postmoderne Grundanliegen mit der christlichen Botschaft. Er führte darin die Säkularisierung (verstanden als Prozess der Verweltlichung religiöser Inhalte) auf die «Kenosis», die Auflösung oder Selbstentäusserung Gottes, zurück.

Diese «nihilistische» Auflösung oder Schwächung starker und eben deswegen immer auch potenziell gewaltförmiger Geltungsansprüche – die «Säkularisierung» – hat damit einen christlichen Horizont, geschieht aus Liebe zum anderen.

In der Caritas, der Nächstenliebe, sah Vattimo das Prinzip, das die Schwächung leitet und das nicht seinerseits geschwächt werden kann. Kaum ein anderer Denker hat Säkularisierung und Christentum so eng aneinandergebunden.

Im Rückblick ist schwer zu übersehen, dass mit dem Fall der Mauer eine Chance verpasst wurde. Die Auflösung der Sowjetunion und ihres Machbereichs wurde nicht zu einer politischen kenosis genutzt, zum Verzicht auf die Ausübung eigener Macht. Im Gegenteil wurde sie zur Selbstvergewisserung genutzt und als Zeichen der Superiorität des eigenen Modells aufgefasst. Damals irgendwann brach die postmoderne Selbsthinterfragung ab – und wurde nicht wieder aufgenommen. Wir sind nie postmodern gewesen.

An die Stelle einer «postmodernen» Schwächung eigener Überlegenheitsansprüche trat ein gewaltförmiger westlicher Triumphalismus – und eine Expansion des eigenen Machtbereichs. Der Glaube an die eigenen Werte wurde – wieder einmal – gewaltförmig.

Die Schwäche des Anderen wurde zur eigenen Machtsteigerung ausgenutzt, selbst um den Preis des Bruchs des Völkerrechts.

Die westliche Ordnung bröckelt – was nun?

Heute fällt das dem Westen bei der Suche nach Verbündeten gegen den russischen Völkerrechtsbruch auf die Füsse. Vor unseren staunenden Augen taucht der globale Süden allmählich als selbstbewusster und eigensinniger Akteur auf. Jene Unübersichtlichkeit, die die Postmoderne diagnostiziert und auf die sie Antworten gesucht hatte, wird nun weltpolitisch von Tag zu Tag manifester. Nach dem Kommunismus bröckelt nun die westliche Wertordnung. Niemals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat Antonio Gramscis berühmter Satz mehr Geltung gehabt:

«Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster.»

In einer solchen Zeit der Monster ist es verführerisch, ja scheint unumgänglich, zu genau dem Monster zu werden, als das man den jeweils anderen sieht oder zeichnet. Womit man wiederum dazu beiträgt, dass auch der jeweils andere zu jenem Monster wird, als das er uns sieht. René Girard nannte dies «mimetische Rivalität».

Vattimos «schwaches Denken» ist nicht gegen alle Kritik erhaben. Aber gerade in Zeiten, in denen überall aufgerüstet und gedroht wird, wo das Denken in Macht- und Gewaltkategorien wieder dominant wird und Pazifismus zur Diskreditierungsvokabel mutiert ist, inspiriert es zur Suche nach Alternativen zu verhängnisvollen Entwicklungen.

Anders als nach dem Fall der Mauer geht es heute nicht einmal darum, dass der Westen freiwillig auf Macht verzichten sollte. Es reichte schon aus, wenn die Realitäten anerkannt würden und man das doppelmoralische Pochen auf die eigene moralische Überlegenheit reduzieren würde. Wir verlieren nicht viel, wenn wir die begrenztere Macht und Glaubwürdigkeit des Westens anerkennen. Vielmehr wüchse damit die Chance zu symmetrischen, dekolonialen Beziehungen zu anderen Kulturräumen und Traditionen.

 

Foto von Levi Meir Clancy auf Unsplash.

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