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Wer hat Angst vor Dekonstruktion?!

Kaum ein Wort löst in christlichen Debatten so gegensätzliche Reaktionen aus wie «Dekonstruktion». Für die einen ist es ein gefährlicher Irrweg. John Cooper, der Sänger der evangelikalen Rockband Skillet, rief zuletzt auf der Bühne zu einem (geistlichen) Krieg («War on deconstruction») auf gegen das, was er als «christliche» Bewegung der Dekonstruktion empfindet. [1] Für andere ist es Teil einer persönlichen Befreiungsgeschichte. Die Videoreihe «Furcht und Zittern» von «Glaube & Gesellschaft im Gespräch» hat zuletzt einige Menschen zu Wort kommen lassen, für die die Dekonstruktion einer früheren Glaubenswelt in erster Linie befreiend war. [2] In diesen Zeugnissen wird sichtbar, wie unterschiedlich das Wort Dekonstruktion heute verstanden wird.

Für einige wie z.B. den Blogger und Podcaster Jason Liesendahl bedeutet Dekonstruktion einen Weg der kritischen Selbstreflexion. Andere verstehen darunter eine kritische Destruktion von evangelikalen Überzeugungen oder zumindest eine (zu) grosszügige Interpretation christlicher Normen und Werte. Dieses vielfältige Bild von Dekonstruktion ist gegenwärtig angemessen. Man muss sich immer bewusst sein:

Mit Dekonstruktion ist heute höchst Unterschiedliches, ja Gegensätzliches gemeint.

John Caputo: «What would Jesus deconstruct?»

In diesem Beitrag möchte ich ein klassisches Verständnis von Dekonstruktion vorstellen, wie es in der Emerging-Church-Konversation zu Beginn des 21. Jahrhunderts und auch jetzt noch für wichtige Vorreiter der postevangelikalen Debatte repräsentativ sein dürfte: Das von John Caputo entwickelte Konzept von Dekonstruktion, wie er es vorgestellt hat in seinem Buch: «What would Jesus deconstruct? The Good News of Postmodernism for the Church» (2007). [3]

Caputos Buchs ist aus einem Vortrag erwachsen, den er im Jahr 2004 auf einer von Brian McLaren geleiteten Konferenz gehalten hat. Diese Tagung fand im Kontext der damals so genannten Emerging Church statt, die für viele Entwicklungen einer progressiven oder postevangelikalen Bewegung massgeblich wurde. Damit ist dieses Verständnis von Dekonstruktion nicht «das» emergente oder postevangelikale Konzept; wohl aber ein Maßstab für ein anspruchsvolles wie einflussreiches Verständnis von Dekonstruktion.

Für die Emerging Church war die Auseinandersetzung mit der eigenen Zeit wesentlich. In den 1990er und in den frühen 2000er Jahren war die allgemeine Zeitdeutung stark vom Begriff der Postmoderne bestimmt. Entgegen der Kulturskepsis breiter evangelikaler Kreise galten gegenwärtige Entwicklungen der Kultur in der Emerging Church weniger als Gefahren, denen man widerstehen, sondern als Gegebenheiten, mit denen man sich auseinandersetzen musste, um den eigenen Glauben zeitgemäss bezeugen zu können. Das Stichwort der Dekonstruktion wird aus der postmodernen Philosophie entnommen und auf sein mögliches Potenzial befragt. Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts war das vor allem vom französischen Philosophen Jaques Derrida (1930-2004) geprägte Konzept der Dekonstruktion zu einem Modewort intellektueller Diskussionen geworden.

1. Dekonstruktion bei Derrida

Als Philosoph hatte sich Caputo ausführlich mit dem Dekonstruktionsverständnis von Derrida beschäftigt. Dessen Verwendung dieses Begriffs ist sehr komplex. Aber man kann zumindest einige Punkte benennen, die für eine seriöse Anknüpfung an diese postmoderne Diskussion wesentlich sind:

  • Bei Dekonstruktion handelt es sich um eine Form der Text- bzw. der Sinninterpretation. Dekonstruktion steht nie für sich, sie ist immer positiv auf etwas bezogen.
  • Dekonstruktion ist nicht Destruktion. Es geht gerade nicht um die negative Zerstörung von Sinn, sondern um eine immer auch konstruktive Bewegung hin zu tieferer Wahrheitserkenntnis.
  • Mit dem Ansatz der Dekonstruktion ist die Einsicht verbunden, dass jede Art von Texten, Liedern, Erzählungen immer schon geprägt ist von ihrem eigenen kulturellen und geschichtlichen Kontext.
  • Dekonstruktion macht die Vielfalt möglicher Verstehensweisen stark und widerspricht allen Versuchen, die eigene Sicht als die einzig mögliche auszugeben.
  • Dekonstruktion zielt nicht auf ein neues, endgültiges Ergebnis von Sinnerfassung: Dekonstruktion steht für einen offenen Weg immer neuer Auseinandersetzung und Aneignung.

Mein Vorschlag wäre, wenigstens diese Aspekte von Dekonstruktion als Mindeststandard zu akzeptieren, wenn man dieses Wort verwenden will. John Caputo entwickelt dieses Konzept in seinem Buch nun eigenständig für den christlichen Kontext weiter.

2. Hermeneutik des Reiches Gottes

Was kann Dekonstruktion bedeuten, wenn sie innerhalb des Christentums stattfindet? Wenn es nicht um eine Verabschiedung des Glaubens geht, sondern um ein Ringen um sein tieferes Verständnis? Der Titel «What would Jesus deconstruct» ist ganz ernst gemeint.

Was kann passieren, wenn Menschen mit ihrem Anspruch ernst machen, dass es ihnen um die Wahrheit Jesu geht und nicht um ihre traditionellen Überzeugungen?

Grundlegend ist aus dieser Perspektive die Unterscheidung von Kirche und Reich Gottes. Die Kirche ist dekonstruierbar, das Reich Gottes ist es nicht. Das Problem der Christentumsgeschichte ist, dass die Kirche allzu oft für ihre Doktrinen und ihre Ordnungen jene Wahrheit beansprucht hat, die eigentlich nur dem Reich Gottes zukommt. Darin liegt der Wert einer historischen Lektüre der biblischen Texte. Sie macht uns die damaligen Kontexte bewusst. Wer sich darauf einlässt, sieht, wie sehr christliche Tradition diese Zusammenhänge ignoriert und Texte eigenmächtig gedeutet hat.

Insofern ist die Dekonstruktion der Kirche gerade kein Angriff auf die Kirche, sondern Dienst an ihrer Befreiung: Befreiung von den Verkürzungen und Entstellungen ihres Zeugnisses. Caputo lässt keinen Zweifel, woran er denkt: Nationalismus, Rassismus, Sexismus. Aus seiner Sicht sind einige christliche Strömungen in Gefahr, ihr Zeugnis für das Evangelium mit diesen Haltungen zu vermischen. Für Caputo bedeutet Dekonstruktion in diesem Sinne: Umkehr. Selbstkritische Hinterfragung traditioneller Überzeugungen. Wie im biblischen Konzept von Umkehr gilt auch hier: Das ist nicht etwas, was Menschen von sich aus können. Eine solche Umkehr wird gleichermaßen vollzogen und erlitten.

3. Wegcharakter des Denkens

Grundlegend für die postmoderne Diskussion ist die Entdeckung, in einem irreduzibel pluralen Universum zu leben. Die Skepsis gegenüber den grossen Erzählungen führt nicht zu Nihilismus oder willkürlichen Setzungen. Es ist das Streben nach Wahrheit selbst, was der Kritik an den Ideologien zugrunde liegt. Darum führt die Dekonstruktion nicht dazu, dass bisherige Positionen einfach durch andere, neue ersetzt werden. Dekonstruktion ist keine Theorie, keine Ideologie, es geht nicht darum, einen neuen Inhalt, sondern einen neuen Umgang zu finden.

Für Caputo ist diese Haltung auch für den christlichen Glauben eine hilfreiche Herausforderung. Das gilt nicht zuletzt deswegen, als es hier nicht um völlig neuartige Dinge geht. Im Judentum war eine solche praktische Deutung des Glaubens schon immer wesentlich. Der in Algerien geborene französische Philosoph Derrida war Zeit seines Lebens seinem eigenen jüdischen Erbe verpflichtet. Das Judentum war schon immer skeptisch gegenüber dem Aufbau einer christlichen Dogmatik. Die Rabbiner sahen im Gespräch über die heiligen Texte den Ort, an dem die Wahrheit Gottes aufscheint. Diese Wahrheit bleibt stets Ereignis, ohne je zum intellektuellen Besitz zu werden. Caputo verknüpft diesen Impuls mit der klassisch christlichen Konzeption der negativen Theologie. Für die christliche Tradition war stets die Erkenntnis bedeutsam, dass all unsere Sätze niemals identisch sind mit der Wahrheit Gottes. Eine Orthodoxie, die die Richtigkeit ihrer eigenen Thesen mit der Wahrheit Gottes verwechselt, ist Götzendienst. [4]

Dekonstruktion im Christentum bedeutet für Caputo eine Abkehr von einem rein dogmatischen, vielfach ideologischen Konzept von christlicher Theologie. Dekonstruktion ist mehr ein Wie als ein Was, sie ist eine Haltung. Sie hat mehr Ähnlichkeit mit der Praxis des Gebets als mit dem Propagieren einer Weltanschauung.

4. Die Theopoetik Jesu

Dass es Caputo nicht um neue Dogmen oder eine neue Ideologie geht, macht diesen Ansatz keineswegs inhaltslos. Es geht um eine von Liebe bestimmte Lebenshaltung. Einmal mehr greift Caputo auf Derridas Impulse zurück. Für Derrida war Dekonstruktion nie etwas Negatives, auch wenn es hier und da so rezipiert wurde. Er war überzeugt, dass Dekonstruktion immer zuletzt ein Ausdruck der Liebe sein müsse. [5] Liebe darf dabei weder als nur inneres Gefühl noch als bloß subjektive Einstellung verstanden werden. Liebe hat viele Facetten:

  • Gerechtigkeit. Zur Liebe gehört die Sehnsucht nach Gerechtigkeit. Für Jesus gehören das Reich Gottes und die Orientierung an seiner Gerechtigkeit zusammen (Mt 6,33). Der Protest der Propheten gegen Ausbeutung und soziale Kälte ist keine Theorie der vollkommenen Gesellschaft. Die Kritik der Propheten und der Umkehrruf Jesu rufen zu einer Haltung auf: Die Gerechtigkeit Gottes zeigt sich in der Parteinahme für die Armen und Ausgegrenzten, die Witwen und Waisen, für die Fremden und Verachteten. Eine solche Haltung geht in keinem moralischen oder politischen Programm auf. Gerechtigkeit ist nie ein für alle Mal umsetzbar. Das Streben nach Gerechtigkeit gleicht einem immerwährenden Gebet: ein stetes Tun, das zugleich offener Prozess bleibt.
  • Gabe. Mit der Liebe ist immer das Bewusstsein verbunden, dass das Leben ein Geschenk ist. Unser Leben ist mehr als ein bloßer Sachverhalt. Es ist wörtlich verstanden: eine Gegebenheit, nicht nur ein, sondern das Wunder der Existenz. Im menschlichen Leben ist es der natürliche Umgang mit Gaben, sie mit Gegengaben zu beantworten. Normalerweise sind Gaben Verpflichtungen. Unser Dasein ist eine Gabe, die durch keine Gegengabe ausgeglichen werden kann. Es ist, mit Derrida gesprochen, reine Gabe, das zwischenmenschlich Unmögliche. In der gläubigen Betrachtung des Lebens als Gabe findet eine Überwindung aller Tauschlogik statt.
  • Vergebung. Sodann gehört zur Liebe der jesuanischen Verkündigung ein tiefes Wissen um die Brüchigkeit menschlicher Beziehungen. In heilen Zusammenhängen ist Liebe nichts Besonderes, sondern das selbstverständlich Menschliche (Mt 5,46-47). Liebe zum Feind, Liebe unter den Bedingungen der Bedrängnis, Liebe angesichts von erlittenem Bösen, Liebe als Bereitschaft zum Neuanfang und zur Vergebung, das ist die eigentliche Herausforderung.
  • Gastfreundschaft. Schließlich ist Liebe eine Haltung der Gastfreundlichkeit. Durch die Menschheitsgeschichte zieht sich die Angst und die Abwehr des Fremden. Sich für das Fremde zu öffnen ist eine weitere große menschliche Herausforderung. Denn die Skepsis gegenüber dem Fremden, die Vorsicht, ja Abwehr gegen alles, was anders ist, fühlt sich für viele klüger an. Gastfreundschaft ist immer ein Wagnis.

Diese Aspekte der Liebe sind gleichsam Zeichen des Reiches Gottes. Die Königsherrschaft Gottes ist da nah, wo Feindseligkeit im Geist der Vergebung beantwortet wird, wo Fremde willkommen sind und ehemalige Feinde einander umarmen; sie wird spürbar, wo Gesetze der Gerechtigkeit dienen und wo die Geringsten aufgerichtet werden. Denn dort zeigt sich Gottes Freundlichkeit, der seine Macht im Kreuz Christi offenbart. [6]

5. Dekonstruktion abwärts und Dekonstruktion aufwärts

Eines sieht man sofort: Was sich fundamentalistische und konservativ-evangelikale Gläubige unter «Dekonstruktion» vorstellen und was in der Emerging Church bzw. bei frühen postevangelikalen Ansätzen wirklich gemeint war, hat kaum etwas miteinander zu tun. Nicht erst in der Bewertung von Dekonstruktion, sondern schon in der Wahrnehmung, was überhaupt gemeint ist, findet man nicht zusammen.

Es ist das wohl unlösbare Problem des Fundamentalismus, dass er so tief vom Besitz der absoluten Wahrheit überzeugt ist, dass er zu einer hermeneutischen Haltung, die andere erst einmal verstehen möchte, bevor er sie bewertet, nicht in der Lage ist.

Realistischerweise muss man festhalten: Wo heute von Dekonstruktion die Rede ist, findet sich ein breites Spektrum an Haltungen. Auf der einen Seite steht der Begriff für Auflösung, Infragestellung, Kritik. Auf der anderen Seite für einen Interpretationsprozess, in dem die Infragestellung bestimmter Gottesbilder Teil einer vertieften Gotteserkenntnis ist. Je fundamentalistischer, enggeführter und isolierter Menschen in einem Glaubenssystem gefangen waren, desto mehr müssen neue Erkenntnisse mit dem Gefühl verbunden sein, all das zerstören, was man zuvor als tragfähig empfunden hat. Diese Erfahrung einer Auflösung früherer Glaubenskonzepte möchte ich als «Dekonstruktion abwärts» bezeichnen.

Caputo geht es nicht um eine spätmoderne Beliebigkeit, in der alle festen Überzeugungen aufgelöst werden. Wie gesehen, ringt er um eine Art «Dekonstruktion aufwärts»: bisheriges wird in Frage gestellt, weil die christliche Botschaft tiefere, reichere und umfassendere Haltungen des Glaubens ermöglicht. Caputo zeigt auch, dass eine solche Bewegung keineswegs nur progressiv ist. Es geht ihm ausdrücklich auch um den Anschluss an anspruchsvollere Glaubensformen, wie sie im Judentum, aber auch in der Christentumsgeschichte schon vielfach bestanden haben.

Tatsächlich dürfte heute das meiste zwischen solchen reinen Varianten einer Dekonstruktion abwärts bzw. aufwärts stattfinden. Menschen lösen sich von früheren Überzeugungen und sie gewinnen neue Zugänge. Und manchmal steht mehr die Auflösung und manchmal mehr eine neue Entdeckungsgeschichte im Zentrum.

6. Dekonstruktion als Lernfeld

Dekonstruktion ist ein Konzept, dass gegenwärtig vielfach mit Postevangelikalen in Verbindung gebracht wird. Man sollte nicht übersehen, dass solche Prozesse nicht nur in diesem Spektrum des Christentums stattfinden. Viele katholische oder evangelische Christenmenschen ringen ebenfalls mit dieser Frage, ob und wie sie sich noch mit dem christlichen Glauben oder mit ihrer eigenen Mitgliedschaft in christlichen Kirchen identifizieren können. Sie hinterfragen frühere Glaubensgewissheiten. Sie bemerken die Zeitbedingtheit ihrer eigenen Glaubensbiographie.

Es sind viele, die sich so oder anders irgendwann eingestehen, dass sie ihren früheren Glaubensweg nicht mehr fortsetzen können oder wollen.

Die meisten verabschieden sich still und leise. Postevangelikale Dekonstruktionen sind demgegenüber laut und sichtbar – und das ist kein Wunder. Denn hier lösen sich Menschen aus einer Prägung, die so explizit und sichtbar ist wie keine andere. Insofern sind Postevangelikale auch mit ihrem Abschied von ihrem Hintergrund noch ein Phänomen innerhalb der evangelikalen Geschichte. Dabei sollte der exemplarische Charakter dieser Entwicklungen stärker gewürdigt werden für die Frage, was Menschen heute insgesamt in der Auseinandersetzung mit ihrer Glaubensherkunft beschäftigt. Unter welchen Umständen fangen Menschen an, mit ihrem Glauben zu fremdeln? Was führt dazu, dass sie manchmal keinen anderen Weg wissen, als sich vollständig von Kirche und Glaube zu verabschieden? Was muss passiert sein, dass Menschen im Abbau bisheriger Glaubenswelten keinen Glutrest mehr vorfinden, der Grundlage eines erneuten Aufflammens bewusster Gläubigkeit sein könnte?

Unter welchen Umständen wird ein Dekonstruktionsprozess nicht zu einer Bewegung abwärts, die auflöst, ohne zu bauen, sondern zu einer Bewegung aufwärts, die die bisherige Glaubensgestalt verlässt, weil es um eine Vertiefung des eigenen Glaubens geht?

Welche Hilfen finden oder benötigen Menschen auf diesem Weg? Die Geschichte postevangelikaler Dekonstruktionen (und Rekonstruktionen) könnte ein spannendes Lernfeld für viele Kirchen und christliche Gruppen sein.

 

Photo by Jackson Simmer on Unsplash

[1] https://relevantmagazine.com/current/skillets-john-cooper-its-time-to-declare-war-against-this-deconstruction-christian-movement/
[2] Vgl. die Folge 9 «Radikale Dekonstruktion & der Zeitgeist» und die Folge 11 «Postevangelikale erzählen». Siehe schon Folge 3 «Dekonstruiert alles, aber das Gute behaltet».
[3] Caputo, John (2007): What would Jesus deconstruct? The Good News of Postmodernism for he Church, Grand Rapids: Baker Academic.
[4] «Orthodoxy is idolatry if it means holding the ‘correct opinions about God’». Caputo, 131.
[5] Caputo, 78.
[6] Siehe diese Aspekte in der abschließenden Zusammenfassung bei Caputo, 138.

Alle Beiträge zu «Postevangelikale»

17 Kommentare zu „Wer hat Angst vor Dekonstruktion?!“

  1. Seit meiner Geburt bin ich traditionell christlichen Vorstellungen ausgesetzt, die ich mit meiner Bekehrung übernommen habe. Aber mein vertieftes Eindringen in den christlichen Glauben, mein Verlangen nach Wahrheit und der Aufhebung vieler Widersprüche, ließ mich manches „dekonstruieren“, obwohl mir der Begriff nicht geläufig war (ist ja auch relativ neu). Ich freue mich, dass der christliche Glauben seinem Wesen nach vernünftig ist und der Auseinandersetzung mit der Welt nicht nur standhalten, sondern auch die progressivste Kraft in ihr sein kann. So habe ich einige Beiträge veröffentlicht, die die Aufmerksamkeit der säkularen Welt gefunden haben. Diese und andere kann man auf meiner Seite – https://independent.academia.edu/ManfredReichelt – finden.

    1. Lieber Manfred,
      du hast viele interessant klingende Texten geschrieben. Manches klingt mir ein wenig abgehoben ;-).
      Viel Transzendentes…
      Hilfreich für den real existierenden und real praktizierenden Christen auf Erden?
      Bereits die Weihnachtsbotschaft spricht vom Frieden auf ERDEN.
      Welche Ansätze verfolgst du hierzu?
      Grüßle

      1. Danke, lieber Tom. „Abgehoben“ muss manches sein. Ich muss ja wissen in welcher Welt ich lebe und welche Weltanschauung die „richtige“ ist. Aus dieser großen Orientierung ergibt sich für mich der rechte Weg, der mir schon viel Heil bescheert hat (Überwindung von Depression u.m.).
        Ich kann nicht der Welt zum Frieden verhelfen und auch nicht anderen eine direkte Hilfe sein, sondern selbst nur immer mehr in mir den Frieden wachsen lassen. Das wirkt sich natürlich auch auf andere Leute aus und ich kann ihnen in so weit helfen, dass ich als Praktiker des inneren Weges eben Ratschlänge und Erkenntnisse aus der Praxis weitergeben kann.

        1. Im Naturalismus ist kein Raum für Gott oder den Glauben. Das ist alles das Illusion. Es müsste deshalb SELBSTVERSTÄNDLICH sein, dass christl. Glaube eine esoterische Weltanschauung bedingt.
          Was das Praktikersein betrifft: Ist man nicht in der HEILIGUNG, so ist man bestenfalls nur ein exoterischer Schriftgelehrter.
          Liebe kann man NICHT gebieten. Liebe hat man. Fragt sich nur, WAS man liebt: das sogen. „Fleisch“ oder die Wahrheit?
          Die Wahrheit liebt man, wenn man begriffen hat, dass es ohne diese kein Heil geben kann.

  2. Danke für den Artikel. Ich habe dazu vor einigen Jahren ein Buch geschrieben. De/Re-Konstruktion beschreibt eine hoffentlich aufwärts gerichtete Entwicklung. Basierend auf meiner persönlichen Reise als evangelikaler ICF-Pastor. Bei Bedarf kann es ich nach Absprache mit dem Verlag kostenlos als eBook zur Verfügung stellen. Vielleicht kann es die Diskussion voranbringen. Liebe Grüße Markus

  3. Interessanter Artikel. Bei Menschen in meinem Umfeld habe ich bisher nur „Dekonstruktion abwärts“ beobachtet – das Abdriften in Beliebigkeit bis Ablehnung von bisher Geglaubtem, was nie in einem irgendwie tragfähigen oder fassbaren Glauben mündet. Ich bin mit Caputo nicht wirklich vertraut und weiß daher nicht, was aus seiner „Dekonstruktion aufwärts“ wirklich erwachsen kann.

    Aus meiner persönlichen Erfahrung kann ich nur sagen: ich habe eine Zeit durchlebt, in der ich auf intellektueller und emotionaler Ebene immer mehr von meinem lange sehr festen Glauben Gott weggetrieben bin. Es hat vier Jahre gedauert, bis ich wirklich den Grund dafür erkannt habe: Bitterkeit gegenüber Gott wegen Dingen, die in meinem Leben passiert sind (und auch wegen welchen, die NICHT passiert sind). Eigentlich habe ich an Gottes Wesen gezweifelt, nicht an seiner Existenz. Das war wirklich eine Zeit der Dekonstruktion, allerdings absolut destruktiv, und sie hat mich an den Rand der Verzweiflung gebracht.

    Hinterfragt habe ich schon immer viel und das tue ich immer noch. Sonst hätte ich meine Herkunftgemeinde nicht verlassen und würde geläufige Gottesdienstformen und Gemeindepraxis nicht ständig in Frage stellen. Aber das hat nie irgendetwas zum Ergebnis, das dem ähnelt, was ich (und sehr wohl auch Liberale/Post-Evangelikale) mit dem Begriff „Dekonstruktion“ in Verbindung bringe.

    Echter Glaube läuft nie alleine über die intellektuelle Schiene. Auch nicht bei denen, denen die liegt. Ich zähle mich dazu. Sondern echter Glaube ist etwas, das der Heilige Geist in einem bewirkt, und er transzendiert die intellektuellen Überlegungen um das alles herum. Wie Hebräer 11 schon sagt: „Der Glaube ist […] ein Überführtsein von Dingen, die man nicht sieht.“ Er ist auf jeden Fall wertvoller als eine schein-intellektuelle Zerstörung dessen, was man (ge)glaubt (hat). Die Beispiele aus meinem Umfeld deuten übrigens alle sehr deutlich darauf hin, dass es im Wesentlichen seelische Verletzungen waren, die Dekonstruktionsprozesse in Gang gebracht haben.

    1. Danke fürs Teilen deiner Erfahrungen! Da könnte ich ganz mitgehen: Glaube ist nie nur etwas Intellektuelles. Und anscheinend ist dir das in deinem Dekonstruktionsprozess doch noch mal deutlicher als je zuvor klar geworden, oder? Es imponiert mir auch, dass du trotz stürmischer Innenwelt an Gemeinde und Gottesdienst festgehalten hast. ich denke auch, ohne eine gewisse Beständigkeit macht man nie die Erfahrung, dass sich Dinge weiterentwickeln können. Wachstum braucht immer auch Zeit. Anscheinend hast du in deiner Gemeinde eher Unterstützung erfahren. Es gibt einige Menschen, die ihre bisherige Glaubenswelt regelrecht fliehen müssen, um ihren Glauben, ja ihre seelische Gesundheit retten zu können. Vielleicht bräuchten wir alle mehr Verständnis für die Vielfalt der Wege, die Menschen gehen, oft nicht weil sie wollen, sondern weil sie müssen. Schein-intellektuelle Zerstörung dessen, was man mal geglaubt hat – klingt nicht gut; aber ist es das wirklich, was hier und da so geschieht? Und was hat das mit „Liberalen“ zu tun? Nach meiner Erfahrung sind vielen liberalen Protestanten die alt- und die postevangelikalen Wege gleichermassen unvertraut. Schön, dass bei Dir Heilung und neue Glaubensfreude einziehen konnten. In der Tat, so etwas verdanken wir nie uns selbst, sondern dem Heiligen Geist. Das gehört zum sola gratia, das wir heute am Reformationstag feiern.

  4. Die ‚traditionelle Auffasung‘ vom Leben als Geschenk wird ‚dekonstruiert‘ durch die Wahrheit, dass es nämlich „nur“ Leihgabe ist.
    Die Liebe wird traditionell als Gefühl „angesehen“. Sie ist jedoch eine Entscheidung.
    Dem Dreiwort „Glaube,Hoffnung,Liebe“ ist die „Freude“ hinzu zu fügen, damit aus der TRINITÄT Gottes die VIEREINIGKEIT hervor geht, in welcher die Menschheit der unverzichtbare Fokus des Schöpfers ist.

    1. Danke für die Gedanken! Es gehört zum Wesen von Dekonstruktion im Derridaschen Sinn, dass man immer weiterdenken und auslegen, kann. Auch das bleibt natürlich vorläufig. Bei Liebe als Entscheidung wäre ich genauso skeptisch wie bei Gefühl. Liebe transzendiert alle unsere Kästchen. Wir können nicht lieben, ohne dass Fühlen, Wollen und Denken involviert sind. Die Versuche, Liebe aus einer seelischen Grundfunktion heraus bestimmen zu wollen (als Gefühl oder als Entscheidung) bedürfen m.E. kritischerer Dekonstruktion.
      Ja zur Aufwertung der Freude! Ist doch schön, wie Paulus sagt: Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Frieden und Freude im Heiligen Geist. (Röm 14,17) Den Gedanken einer Viereinigkeit bräuchte ich an dieser Stelle nicht.

      1. „Liebe als Gefühl“ ist etwas grundsätzlich anderes als „Liebe als Entscheidung“. Trotzdem sind DENKEN, FÜHLEN, TRÄUMEN, GLAUBEN, WOLLEN involviert.

        Die TETRATÄT kommt ans Tageslicht durch ES WERDE HELL, denn nicht der „astronomische Urknall“ war das beabsichtigte Ergebnis, sondern die Fähigkeit des Menschen, Gott in seinen Werken zu erkennen. Mit anderen Worten: ohne Menschen gäbe es keine Kenntnis vom Schöpfer.

  5. Nein. Liebe kann NICHT geboten werden. Die Wahrheit lässt uns unser göttliches Wesen entdecken, das jenseits allem Leides ist. Wenn das geschehen ist, sind wir wiedergeboren und leben nun aus dieser Freiheit, die uns immer mehr im alltäglichen Leben frei macht. Dieses Leben ist beigeisternd. In diesem Leben fühlt man sich wohl und IST einfach voller Liebe. https://manfredreichelt.wordpress.com/2019/05/14/das-himmelreich-ist-in-dir/
    Viele, die sich, vielleicht jahrzehntelang mit dem Christentum beschäftigen, haben das oft och nicht begriffen.

  6. Meine Kommentare zu zwei Aussagen im Artikel:
    1. „Es ist das wohl unlösbare Problem des Fundamentalismus, dass er so tief vom Besitz der absoluten Wahrheit überzeugt ist, dass er zu einer hermeneutischen Haltung, die andere erst einmal verstehen möchte, bevor er sie bewertet, nicht in der Lage ist.“
    Das ist richtig, aber braucht eine Präzisierung: Fundamentalisten können sich nur zwei Dinge vorstellen, nämlich dass man an Gott glaubt und ihn liebt – oder dass man zwar an Gott glaubt, ihn aber zurückweist und nicht „liebt“. Dass die Existenz Gottes völlig verneint werden kann, scheint sich dem enggläubigen Vorstellungsvermögen zu entziehen.
    2. „Die Kirche ist dekonstruierbar, das Reich Gottes ist es nicht.“
    Nun ja – versteht man unter dem „Reich Gottes“ die biblische Heilsgeschichte (Erlösung der Menschheit von der „Sünde“ durch den – nur vorübergehenden – Tod des „Gottessohns“), dann ist das „Reich Gottes“ sehr wohl dekonstruierbar. Es kann ausserordentlich befreiend sein, solch unglaubwürdige Vorstellungen loszuwerden.

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