Manchmal verdichten sich Entwicklungstendenzen einer Zeit in wenigen exemplarischen Lebensläufen.
Manchmal haben Veränderungen, die für viele wichtig sind, ein Gesicht.
Wer die neuere Geschichte der evangelikalen und der postevangelikalen Bewegungen kennenlernen möchte, kann dafür kaum einen besseren Ausgangspunkt finden als den Weg des amerikanischen Ethikers David Gushee. [1]
Anfang September besuchte David Gushee die Schweiz und Deutschland. In Zürich hatten sich Zwischenraum und Mosaic Church, RefLab und Fokus Theologie zusammengetan, um am 06. und 07. September drei Veranstaltungen mit ihm durchzuführen. Am Samstag, den 10. September trat Gushee in Frankfurt/Niederhöchstadt bei der Veranstaltung «Coming-In» auf. Vor über 400 Teilnehmern, LGBT-Menschen mit evangelikaler Glaubensgeschichte und «Allies» (Unterstützende) vor allem aus theologisch konservativen Gemeinden. Wie kommt ein amerikanischer Ethiker, der den grössten Teil seines Lebens in der evangelikalen Bewegung verbracht hat, auf europäische Veranstaltungen, die sich für die Anerkennung queerer Menschen aussprechen?
Gushees Weg durch die evangelikale Bewegung
Gushees Geschichte ist repräsentativ für gleich zwei wichtige Entwicklungen der heutigen Christenheit: Den Aufstieg der evangelikalen Bewegung und ihre zunehmende Spaltung.
In seiner Jugend kommt der in einem katholischen Elternhaus aufgewachsene Gushee mit der leidenschaftlichen evangelikalen Frömmigkeit in Berührung. Jesus Christus wird für ihn zur bestimmenden Mitte seines Lebens und Denkens. Waren die sogenannten Evangelikalen nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA noch eine Minderheit, so hatten sie spätestens ab den 1990er Jahren deutlich mehr Mitglieder als die klassisch-protestantischen Kirchen (die sogenannten Mainline Churches). Gushee wird Teil der sehr konservativen Southern Baptists Convention (SBC), der grössten protestantischen Kirche in den USA überhaupt. In dieser Welt absolviert er sein Theologiestudium und wird Pastor. Gushee gehört zu jenen Evangelikalen, die nicht wollen, dass der Kontakt zur übrigen Christenheit abreisst. Seine Promotion schreibt er am Union Theological Seminary in New York, einer der renommiertesten liberalen Institutionen, an der im 20. Jahrhundert Grössen wie Dietrich Bonhoeffer, Reinhold Niebuhr oder Dorothee Sölle gewirkt haben.
Nach seiner Promotion wird er an einer Universität der Southern Baptists in Louisville auf einen Lehrstuhl berufen. Bald kommt es zu Spannungen. In den 1980er Jahren setzte sich in der SBC zunehmend eine fundamentalistische Reformbewegung durch, die eine wörtlich-historische Auslegung der Bibel festschrieb. Verkündigung und Lehre von Frauen galt als Anpassung an den Zeitgeist und wurde entschieden verurteilt. Gushee merkt schnell, dass er diese radikale Verengung nicht mitgehen kann und verlässt die SBC.
Das Interessante aus heutiger Sicht ist: Gushee verliess zwar die SBC, aber nicht die evangelikale Bewegung. Er bekam keine grundsätzlichen Zweifel an seiner evangelikalen Prägung. Nachfolge Jesu, Orientierung an der Bibel, starke Verwurzelung in der lokalen Gemeinde, all das blieben selbstverständliche Konstanten seines Glaubens. Ron Sider (1939-2022), einer der bekanntesten Repräsentanten der sozialen Evangelikalen (manchmal auch Linksevangelikale genannt), beeindruckte ihn sehr durch seine Verbindung von Christusglauben und sozialem Engagement. In den Netzwerken dieser sozialen Evangelikalen fand er eine neue Heimat und blieb zugleich verbunden mit der weltweiten evangelikalen Bewegung, die seit dem Lausanner Kongress (1974) stets einen sozialen bzw. kulturoffenen Flügel hatte. [2]
Zusammen mit dem Bibelwissenschaftler Glen H. Stassen (1936-2014) vom Fuller Theological Seminary, einer der grössten und renommiertesten wissenschaftlichen Einrichtungen der evangelikalen Welt, veröffentlicht er 2004 das Ethik-Lehrbuch «Kingdom Ethics». [3] In ihrem 500seitigen Buch entfalten die beiden Autoren eine christozentrische und biblisch begründete Ethik. Zugleich machen sie deutlich, dass eine solche evangelikale Prägung keineswegs mit einem fundamentalistischen Biblizismus verbunden sein muss. Im Anschluss sowohl an die Reformation als auch an die pietistische, methodistische Tradition beschreiben sie den Ansatz einer von Christus bestimmten Schriftauslegung. Die Bibel ist die Grundlage für ethische Normen, aber nicht in einer platten, unmittelbaren Anwendung. So wichtig die konkreten ethischen Anweisungen der Bibel sind, kommt es vor allem auch darauf an, die überragenden ethischen Prinzipien der Bibel ernst zu nehmen: Gerechtigkeit, wie sie seit der Sozialkritik der Propheten und der Sozialgesetzgebung der Tora im Zentrum der Hebräischen Bibel steht, und das Gebot der Liebe, das Jesus wie Paulus zum entscheidenden Prinzip der Ethik erklärt hatten. Mit diesem Buch gelingt ihnen eine der erfolgreichsten Buchveröffentlichungen evangelikaler Theologie. Es wurde in viele Sprachen übersetzt (u.a. Arabisch, Chinesisch, Koreanisch etc.) und gilt in vielen evangelikal geprägten Kreisen weltweit als ein Standardwerk der neueren Ethik.
Und mehr: Auch ausserhalb der evangelikalen Welt gewinnt Gushee Respekt. Auf Deutsch kann man sich das mit Hilfe des Buches «Die neuen Evangelikalen» von Marcia Pally vor Augen führen. In diesem 2010 geschriebenen Buch beschreibt Pally, dass die Evangelikalen eine hochdifferenzierte Welt sind. Es gibt die fundamentalistischen Zirkel, die die Evolutionslehre für eine antichristliche Verführung halten, ebenso wie die christliche Rechte, die totalitären Idealen anhängt. Aber es gibt auch eine evangelikale Mitte, wie sie die National Association of Evangelicals (NAE) repräsentiert und nicht zuletzt auch einen starken linken Flügel. Viele mit der NAE verbundene Kirchen und Werke verweigern sich einer Kulturkampflogik. Pally stellt mehrere solche Gruppen und wichtige Repräsentanten vor. Vor allem der Theologe David Gushee erscheint immer wieder als eine Art «role model», wie Evangelikalismus sein könnte: Christus- und bibelorientiert und zugleich im Einsatz für soziale Gerechtigkeit gesprächswillig und -fähig. [4]
In seinen Veröffentlichungen arbeitet Gushee einen solchen ganzheitlichen Ansatz linksevangelikaler Theologie systematisch aus. Als Höhepunkt dieses Weges kann man sein 2013 erschienenes zweites ethisches Hauptwerk «The Sacredness of Human Life» [5] sehen. In den Kulturkriegen der USA war die Betonung der Heiligkeit des Lebens von Anfang an vor allem ein Anliegen evangelikaler Lebensschutzbewegungen geworden, wie sie seit den 1970er Jahren gemeinsam mit konservativen Katholiken als Gegenreaktion zum liberalen Abtreibungsurteil «Roe vs. Wade» entstanden. Auch für Gushee ist der Schutz des ungeborenen Lebens ein wichtiges Anliegen. Und zugleich stört er sich an der ideologischen Verengung dieser Debatte. Viele Evangelikale sind ihm nicht zu sehr «pro life», sondern viel zu wenig. Ausführlich zeichnet Gushee die historischen Entwicklungen nach, die zur Rede von der Heiligkeit des Lebens geführt haben. Gushee weiss, dass es vor allem Johannes Paul II war, der diesem Ausdruck während seines Pontifikats besondere Bedeutung gab. Dennoch möchte er auch vom Alten und Neuen Testament her zeigen, dass die Anerkennung des unendlichen Wertes menschlichen Lebens ein entscheidender Beitrag des Christentums für die Menschheitsgeschichte war. Wo der Schutz des Lebens umfassend ernstgenommen wird, geht es nicht nur um Anfang und Ende des Lebens, sondern um alle Aspekte der menschlichen Person. Daher setzt sich Gushee in diesem Buch mit vielen Missständen seiner Kultur auseinander. Er übt scharfe Kritik an den Kriegen der Bush-Administration, an den willkürlichen Verhaftungen und Exekutionen in aller Welt, an der Praxis von Folter, wie sie in Abu Ghraib und anderen Orten geschah, generell auch an der in den USA vielfach praktizierten Todesstrafe sowie an einer Sozialpolitik, die grundlegende Errungenschaften medizinischer Versorgung vielen Menschen vorenthält. Wenn der Gedanke der Heiligkeit des Lebens keine Abstufungen erlaubt, sind Sexismus und Rassismus ernstere Herausforderungen, als man in vielen evangelikalen Kreisen anerkennen möchte.
Über 20 Jahre lang vertritt Gushee Positionen, die quer zu den US-Lagerbildungen von konservativ und progressiv liegen. Konservativ bleibt er vor allem in Fragen des Lebensschutzes und in sexualethischen Fragen. Dass Gott die Ehe als einzigen Ort der Sexualität bestimmt hat, erscheint ihm biblisch breit bezeugt zu sein und hilfreich für das Gelingen des Lebens.
Von der sexualethischen Frage zur Hinwendung zu queeren Menschen
Seit 2007 lehrt Gushee an der Mercer University in Atlanta. Ursprünglich eine evangelikale Gründung, hatte sich Mercer zu einer grossen Universität entwickelt, die auf vielen Feldern «postevangelikal» war, bevor es das Wort gab. In diesem Umfeld kommt Gushee zunehmend in Kontakt mit Studierenden aus der LGBT-Szene. Menschen sprechen ihn an, die seine evangelikale Verwurzelung kennen und ihn mit ihren Erfahrungen als queere Menschen innerhalb der evangelikalen Bewegung konfrontieren. Je länger je mehr kann Gushee zwei Problemen nicht mehr ausweichen: a) Der Unfähigkeit der meisten Evangelikalen, der Lebensrealität dieser Menschen gerecht zu werden; b) Der zerstörerischen Wirkung, die dies für viele Beziehungen mit sich brachte und bringt.
a) Verfehlung der Wirklichkeit
Sehr lange Zeit und teilweise bis heute weigerten sich viele Evangelikale zu sehen, dass es in dieser Frage nicht um bestimmte Taten, sondern um eine konkrete Gruppe von Menschen geht.
Man glaubte mit allgemeinen Regeln wie «Sexuelle Akte sind nur in der Ehe von Mann und Frau erlaubt» eine klare Orientierung zu besitzen. Die Fixierung auf eine solche Regelethik machte es unmöglich, die Wirklichkeit der Betroffenen überhaupt wahrnehmen zu können.
Lange Zeit hiess es oft: «So etwas wie Homosexualität gibt es gar nicht. Es handelt sich um die «Wahl» eines bestimmten Lebensstils. Diese Entscheidung zum Ungehorsam verdient kein Mitleid, sie ist durch Busse und Umkehr zu korrigieren.» Andere erkannten an, dass es nicht ganz so einfach sei. Bei ihnen hiess es: «Ihr seid Opfer einer psychischen Entwicklungsstörung. Erziehungsfehler eurer Eltern und schlechte soziale Einflüsse haben euch geprägt. Aber es wäre tragisch, diese Fehlentwicklung jetzt auch ausleben zu wollen. Vielmehr gibt es seelsorgerliche und therapeutische Hilfe. Der Weg zur Überwindung von Homosexualität mag manchmal hart sein, aber er ist möglich.» Erst in jüngster Vergangenheit setzt sich die Einsicht durch, dass es sich tatsächlich bei vielen Menschen um ein unveränderliches Persönlichkeitsmerkmal handelt. Anstatt dass Evangelikale nun erschrecken, wie sehr sie in den letzten Jahrzehnten die Wirklichkeit queerer Menschen verkannt haben, tun viele so, als hätten Bibel und Kirche schon immer das Phänomen homosexueller Orientierung gekannt und als wäre der lebenslange Verzicht auf Liebesbeziehungen ihr selbstverständlicher Rat.
All das ist die Folge einer Ethik, die mit aller Macht moralische Fragen mit absoluter Sicherheit aus feststehenden Normen ableiten möchte und die nicht bereit ist, die menschliche Erfahrung als eine wichtige Quelle moralischer Erkenntnis mit zu berücksichtigen.
b) Zerstörung von Beziehungen
Nicht ausschließlich, aber doch sehr stark hat sich in der jüngeren Vergangenheit gezeigt, dass diese Problematik vor allem dann Wucht entfaltet, wenn es um Menschen in der eigenen Familie oder im engsten Freundeskreis geht. Gushee erzählt in Zürich (mit dessen Einverständnis) von einem jungen Mann, der von seinem Vater verstossen wurde, als er sich outete. Als der Vater später im Sterben lag, kam der Sohn zur Intensivstation. Er bat die Schwester, seinem Vater mitzuteilen: Dein Sohn wartet draußen und möchte mit dir sprechen, wenn es dir recht ist. Doch der Vater sagte nur mit letzter Kraft: «Ich habe keinen Sohn.»
Warum hat dieser Vater seinen Sohn verstoßen? Einzig und allein aufgrund seines christlichen Glaubens, sagt Gushee. Weil der Mann der festen Überzeugung war, seinem Gott nur die Treue halten zu können, indem er sich gänzlich von seinem abgefallenen Sohn lossage. Weltweit kommt es zu solchen Geschichten. Man weiß davon, vor allem außerhalb der evangelikalen Welt. Innerhalb dieser Bewegung schämen sich viele Eltern, anderen Gläubigen überhaupt davon zu erzählen.
In der Auseinandersetzung mit dieser Frage gewinnen die Einsichten seiner Doktorarbeit neue Bedeutung für Gushee. In seiner Untersuchung über die Motive von Menschen, die Juden im Dritten Reich retteten, kommt Gushee zu einem bemerkenswerten Ergebnis. Aus der Analyse der uns bekannten Fälle ergibt sich kein eindeutiges Bild, welcher ethische Ansatz oder welche theologische Grundlage einen Unterschied machte. Von liberal bis fundamentalistisch waren sowohl die Täter und Mitläufer als auch diejenigen, die halfen und retteten. Viel wichtiger war: Kamen Menschen mit dem konkreten Leid von verfolgten Juden in Kontakt? Und vor allem: Liessen sie sich von diesem Schicksal berühren? Waren sie stabil genug, auch gegen den Druck ihrer eigenen Bezugsgruppe ihrem Gewissen zu folgen und zu helfen, egal, welcher Gefahr sie sich damit aussetzten?
Im Jahr 2014 beginnt Gushee eine Blog-Serie, die schliesslich zu einem Buch mit dem programmatischen Titel: «Changing Our Minds» führt. [6] Am Anfang stand eine Analyse der verfahrenen Lage in dieser Auseinandersetzung. Im Blick auf die vermeintlich einschlägigen Bibelstellen zu gleichgeschlechtlicher Sexualität zeigt Gushee, dass sie keineswegs unmittelbar auf unsere Fragen bezogen werden können, sondern eine ganz andere Situation voraussetzen, als wir sie kennen. Historisch sind diese Texte auf eine Welt bezogen, die sich fundamental von unserer unterscheidet. Entscheidend ist gemäss Gushee die Einsicht, dass Evangelikale mit ihrer bisherigen Praxis in Ethik und Gemeinde queeren Menschen erhebliches Leid zugefügt haben.
Familien wurden auseinandergerissen, Gemeinden gespalten. Es ist nicht zu erkennen, wie dieses Verhalten in irgendeinem Sinne den biblischen Massstäben von Liebe und Gerechtigkeit gerecht wird. Aus gesamtbiblischer Sicht sei vielmehr eine Haltung der Akzeptanz und der Inklusion naheliegend.
Postevangelikalismus: Entwicklung und Neuansatz
«Changing Our Minds» – als Gushee dieses Buch schreibt, ist dieses «wir» ganz ernst gemeint. Es geht ihm um nicht mehr und nicht weniger als darum, eine innerevangelikale Debatte anzustossen, ob nicht mindestens die einhellige Verurteilung von queeren Menschen in der evangelikalen Bewegung zu überwinden sei. Doch die Reaktionen auf dieses Buch zeigen sehr schnell: Diese Frage aufzuwerfen zog den radikalen Ausschluss aus diesem «wir» nach sich. Gushee sei nicht mehr evangelikal: so lauteten noch die gemässigsten Urteile. In seinem Buch «After Evangelicalism» (2020) zieht Gushee die unausweichliche Konsequenz. Sein eigener Weg geht definitiv ausserhalb der evangelikalen Bewegung weiter.
Warum führt diese Frage gerade jetzt zu einer solchen Zerklüftung in der evangelikalen Welt? In den USA hat sich die Landkarte des Evangelikalismus innerhalb der letzten 7-8 Jahre deutlich verändert. Die klassische evangelikale Linke existiert so gut wie nicht mehr. Die meisten haben sich vom Label «evangelikal» distanziert oder verwenden es nicht mehr. Viele sind auf Abstand gegangen, haben in traditionellen Kirchen eine neue Heimat gefunden oder sind Teil der postevangelikalen Debatten.
Im Gespräch mit Manuel Schmid schätzt Gushee, dass sich ca. 20 Millionen US-Gläubige in eine dieser Richtungen aus der evangelikalen Welt verabschiedet haben. Längst handelt es sich dabei um ein globales Phänomen, dem David Gushee auf mehreren Kontinenten begegnet ist. [7]
Sein Buch «After Evangelicalism» hat Gushee selbst «den Postevangelikalen» gewidmet. Was ist damit gemeint? Es geht ihm nicht um eine Form von Abkehr vom Evangelikalismus, die man als Ex-Evangelikalismus bezeichnen müsste. «Following Jesus out of American Evangelicalism» heißt: Abkehr von einer Bewegung, die die Bibel und Jesus Christus nicht ernst genug nimmt.
In seinem zweiten Zürcher Vortrag hat Gushee Grundlinien markiert, was das für die Ethik bedeutet. Dabei lässt er keinen Zweifel daran, der Grundspur seines Lebens treu zu bleiben: Wenn Glaube Nachfolge Jesu ist, dann findet auch christliche Theologie ihr Zentrum in Jesus Christus und in der Heiligen Schrift. Die Schwäche von «Kingdom Ethics» sieht er heute in einem Top-down-Ansatz. Ethik wird darin von einem Grundgedanken her entwickelt – dem Reich Gottes. Die grundlegende Bewegungsrichtung des Denkens ist stets einlinig: aus der Wahrnehmung der biblischen Texte heraus wird ihre Anwendung auf verschiedene Sachverhalte gesucht. Demgegenüber seien zwei Kurskorrekturen angezeigt.
a) Kontextualität moralischer Urteile
Christliche Ethik muss die historischen Kontexte moralischer Urteile ernster nehmen, als es in der evangelikalen Theologie üblich sei. Die biblischen Texte sind tief verwurzelt in der Geschichte der alten Orients und Israels Weg mit Gott und schliesslich in der griechisch-römischen Umwelt der frühen Christenheit. Biblische Aussagen werden gerade nicht sachgemäß verstanden, wo von diesem Kontext abstrahiert wird. Aber mehr noch: Auch wir heute können nicht absehen von unserer kulturellen Prägung im Westen. Unser Denken ist zutiefst geprägt von den geschichtlichen Entscheidungen unserer Vergangenheit: Herrschaftsideologie, Kolonialismus, Antisemitismus. All das verschwindet nicht, wenn wir es ausblenden. Wir müssen uns aktiv damit auseinandersetzen.
b) Bedeutung menschlicher Erfahrungen
Ethik muss die Erfahrungen der Betroffenen ernster nehmen. Natürlich können Erfahrungen ethische Normen nicht ersetzen. Die Hoffnung auf das Reich Gottes und der Ansatz bei der radikalen Nachfolge Jesu bleiben für Gushee zentral. Aber die besten Normen und Werte können blind machen für die Realität, wenn wir nicht immer wieder auf die Stimmen der Unterdrückten, der Ausgegrenzten und Marginalisierten achten. Die biblische Befreiungsgeschichte des Exodus beginnt genau damit, dass Gott selbst das Leiden und die Schreie der versklavten Hebräer wahr- und ernstnimmt (Ex 2,23-25).
Nur eine hörende Ethik kann sich ernsthaft darauf berufen, dem moralischen Grundimpuls der biblischen Texte treu zu bleiben.
Postevangelikale – eine Bereicherung für die Kirchen?
Man könnte sich fragen: Was kann eine liberale Kirchen- und Theologielandschaft, wie sie in Europa vorherrscht, von einem solchen Weg lernen? Ist es aus westlicher Sicht mehr als eine Form nachholender Modernisierung, ein – verspätetes Umdenken?
Wer Gushee auf seiner Reise in Zürich beobachten konnte, hat eine Ahnung davon bekommen, welche Stärken das evangelikale Erbe mitbringt. Gushee teilt die Einsicht, dass es im Umgang mit queeren Menschen nicht um die Durchsetzung sexualethischer Normen geht, sondern dass es sich um eine Menschenrechtsfrage handelt. Dabei ist es ihm wichtig, dieses Thema auch, aber eben nicht nur als Frage individueller Rechte zu behandeln. In seinem Vortrag in Niederhöchstadt betont er vor allem die Perspektive des biblischen Bundesdenkens.
In seinen Bundesschlüssen wendet sich der Gott der Bibel Menschen mit bedingungsloser Freundlichkeit zu und verbindet sie zugleich miteinander zu einer Gemeinschaft der Gleichen.
Im neuen Bund könne es keine Gläubigen erster und zweiter Klasse geben, wie Gushee mit Anspielung auf seine Bahnfahrt von Zürich nach Frankfurt sagt. Viele evangelikale Gemeinden arbeiten aber mit solchen Hierarchisierungen und Ausgrenzungen. Queere Menschen dürfen zwar zum Gottesdienst kommen, aber nicht Mitglied werden. Oder sie können Mitglied bleiben, dürfen aber nicht mehr verantwortlich leiten. Solche Unterscheidungen verletzen jedoch die innere Logik der Bundesgemeinschaft mit Gott. Wenn sich viele Gläubige heute für die Ehe für alle einsetzen, dann sind sie es, die biblische Prinzipien wie die Gleichheit aller Menschen im Bund Gottes ernstnehmen. Gerade weil sie die Nachfolge Jesu und die biblische Botschaft so sehr respektieren, haben sie in dieser Frage umgedacht.
Für viele Menschen mit evangelikalem oder konservativem Hintergrund ist es wichtig, diese Fragen biblisch und theologisch zu durchdenken. Und zugleich ist das nicht genug.
Der Mensch lebt nicht nur von Erkenntnissen und Rechtsansprüchen, sondern von einer lebendigen Gemeinschaft, die Akzeptanz nicht nur gewährt, sondern feiert und leibhaftig spürbar macht.
Für viele war diese geistliche und gemeinschaftliche Seite das Wesentliche auf den Veranstaltungen mit David Gushee. Er selbst hat das vor, nach und während den Veranstaltungen vorgelebt. Menschen brauchen Zeit, ihre eigene Verletzungsgeschichte ansehen und annehmen zu können. Sie brauchen das offene Ohr, dem sie ihre eigene Geschichte erzählen können. Und manchmal brauchen sie eine Umarmung, um das Wissen um Akzeptanz auch spüren zu können.
Hier geht’s zum TheoLounge-Podcast mit David Gushee und Manuel Schmid.
Quellenangaben:
[1] Vgl. https://davidpgushee.com
[2] Zur Einordnung dieses «linken Flügels» siehe: Dietz, Thorsten (2022): Menschen mit Mission. Eine Landkarte der Evangelikalen Welt, Holzgerlingen: SCM-Verlagsgruppe, 98-127.
[3] Gushee, David, Glen H. Stassen (2003): Kingdom Ethics. Following Jesus in Contemporary Context. Downers Grove: InterVarsity Press.
[4] In seinem Buch «The Future of Faith in American Politics» beschreibt Gushee seine Hoffnung, dass die evangelikale Bewegung den Kulturkampf hinter sich lassen könnte. Gushee, David (2008): The Future of Faith in American Politics. The Public Witness of the Evangelical Center. Waco TX: Baylor University Press. Im Gespräch mit Manuel Schmid räumt Gushee ein, dass diese Hoffnung aus heutiger Sicht leider naiv gewesen sei. Vgl. https://www.reflab.ch/david-gushee-us-evangelicals-culture-wars-and-hope/
[5] Gushee, David (2013): The Sacredness of Human Life: Why an Ancient Biblical Vision is Key to the World`s Future. Grand Rapids: William B. Eerdmans Publishing Company.
[6] Gushee, David (2017): Changing Our Mind. Definitive 3rd Edition oft the Landmark Call for Inclusion of LGBTQG Christians with Response to Critics. Canton: David Crumm Media, LLC.
[7] https://www.reflab.ch/david-gushee-us-evangelicals-culture-wars-and-hope/
7 Gedanken zu „David Gushee und die Postevangelikalen – Eine globale Reise“
Sehr gut und fundiert! Vielen Dank!
Der ausführliche Frage-Katalog zeigt einerseits den großen Respekt vor der ‘postevangelikalen’ Problematik, andererseits taugt sie — für mich — zum Hinweis darauf, dass das biblische Urwort ES WERDE LICHT weiter schöpferisch aktiv ist.
Die elend-lange “globale Reise in die postevangelikale Welt” bestätigt mir tröstlich meine private Meinung, dass die Wahrheit nicht nur in Ungereimtheiten steht, sondern auch in Reimen. Aber kürzer !
Beispiel 1
LEBEN, denkt der Mensch beschränkt, das Leben sei ihm ja geschenkt.
Dieser Irrtum wird verziehen,
wenn du einsiehst: NUR GELIEHEN.
Beispiel 2
Gott schuf Menschen sich als Noten
für seine Meister-Partitur
und lässt uns spielen seine Boten,
mal in Moll und mal in Dur.
Beispiel 3
MAMMON heißt die Leit-Laterne
in unserer Wirtschafts-Wunder-Welt,
Darum ist und bleibt es Geld,
was jeder hat so teuflisch gerne.
Die ganze Menschheit ist ein Wandrer
zwischen den Welten,
die nur Menschen was gelten.
Doch der Knackpunkt ist ein andrer.
Jetzt hat uns fast der Schlag gerührt.
Wir leiden große Qual,
weil der Weg ist schmal,
der in himmlische Welten führt.
Des Zugangs enge Pforte
zwar allen offen steht,
allein, fast jeder geht
vorbei am Pforte Orte.
Der Schlüssel ist das SEIN, nicht etwa Zeit und Raum.
Die beiden sind nur Traum
vom schöpfergott allein.
Wir seh’n, wie die Zeit vergeht
und wir trauern um den Rest,
anstatt zu vertrauen fest
der Zeit, die noch entsteht.
Wenn wir stattdessen die Wirklichkeit
mit Vernunft im SEIN anpeilen,
dann kann WAHRHEIT heilen
den Mix aus Raum und Zeit.
Danke für die lyrische Bereicherung der Debatte, Klasse!
“In seinen Bundesschlüssen wendet sich der Gott der Bibel Menschen mit bedingungsloser Freundlichkeit zu und verbindet sie zugleich miteinander zu einer Gemeinschaft der Gleichen.”
Ist das ein Zitat von Gushee? Haben Sie darüber mal länger nachgedacht? Mal “die Bünde” Gottes im AT und NT durchgearbeitet? Wo ist die bedingungslose Freundlichkeit gegenüber den Kanaanitern? Wo gegenüber denen, die innerhalb des Bundes leben und ihn dann konstant brechen indem sie unmoralisch und götzendienerisch leben? Wo ist die “bedingungslose” Freundlichkeit Gottes gegenüber genau den Bundesleuten, wenn ER an manchen Tagen über 20000 von ihnen umbringt weil sie den Bund brechen?
Weiter ist zu fragen warum Sie nur aufzeigen welche theologische Schulen (ein liberal werdendes Fuller) Gushee unterstützt haben, warum nicht auch die, wleche ihn damals und teilweise bis heute, akademisch qualifiziert widersprechen? Warum beschreiben Sie nicht auch die Spaltungen und das dadurch entstandene Leid in Gemeinden und Familien, die er mit seiner neuen Ethik verantwortet?
Das Ende Ihrer Darstellung zeigt das verführerische dieser neuen Thesen: Bei der Bildung der ethischen Prinzipien auf den heutigen Menschen hören. Das ist wohl göttlich, wenn es darum geht auf die aktuellen Herausforderungen des Menschen die ewig gültigen Worte Gottes immer wieder neu anzuwenden, aber dämonisch, wenn es darum geht dem Menschen einfach nur zu geben was er will, und aus seinem Verlangen, Bedürfnissen und Wünschen neue Prinzipien zu machen – Jesus würde sagen: “Geh hinter mich Satan. Du trachtest nicht nach dem was Gottes ist, sondern das der Menschen.. “(Mk 8,33) Das scheint die Quelle dieser neuen Ethik zu sein. Tragisch für die weltweite Christenheit.
@Ede
Rückfrage: Wie ordnest du die Frage Jesu an den Blinden ein “Was willst du, dass ich dir tun soll?” – spricht hier der Satan aus Jesus? Lässt sich Jesus hier verführen?
Und worum geht des denn andererseits in dem Kontext, aus dem du Jesus zitierst in Mk 8? Da ist doch etwas völlig anderes Thema als eine Ethik, die sich an den betroffenen Menschen orientiert!
Kontext ist SO wichtig für das gute Bibelverständnis!! Man kann nicht einfach irgendeinen Vers herausnehmen und ihn für etwas völlig anderes anwenden.
Hochinteressanter Artikel, vielen Dank!
Dazu stellen sich mir ein paar Fragen:
-ist es theologisch und intellektuell redlich, unsere Ethik und unser Gottesbild auf die Person Jesus zu schrumpfen?
-und von den Aussagen von und über Jesus nochmals einseitig nur die auszuwählen, welche zu einem Gott der Liebe, Barmherzigkeit, Inklusion und nicht einem strafenden Gott passen (niemand im neuen Testament hat so viel von der Hölle gesprochen wie Jesus…)?
-das antropologisch nachvollziehbare in- und outgroup-Denken va. des alten, aber auch des neuen Testaments auszublenden (Genozid an Kanaanitern, nirgends fundamentale Verdammung der Sklaverei, religiöse Intoleranz etc)?
-die mangelhafte Ethik va. im alten Testament auszublenden (Todesstrafen zT. schon für Lappalien, minderwertige Rollen von Frauen, Erziehung mit körperlicher Gewalt, Aufruf zu Gewalt an Hexen etc.)?
-werden wir hierzu nicht primär verleitet von unseren Biographien und den Erkenntnissen der Aufklärung resp. dem Humanismus?
-wie sind solche Erkenntnisse mit Jesu Aussagen kompatibel, dass nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes an Gültigkeit verlieren wird, bis Himmel und Erde vergehen?
-weshalb hat ein allwissender und -gütiger Gott uns die propagierten und ethisch durchaus sinnvollen Erkenntnisse Jahrtausende lange vorenthalten?
Ich bin gespannt auf Ihre Antworten. Dennis Ken Frey