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Postevangelikalismus: Eine Hinführung

Was ist das jetzt wieder?

Postevangelikalismus, postevangelikal!

Seit einiger Zeit geht dieses Wort um wie ein Gespenst in manchen christlichen Diskussionen diesseits und jenseits des Atlantiks. Was verbirgt sich dahinter? Eine neue religiöse Bewegung? Innovative theologische Entwicklungen?

Nichts dergleichen. Dieses Wort wird vielmehr für höchst unterschiedliche Erscheinungen verwendet:

  • Manche Menschen verlassen ihre evangelikale Gemeinde, weil sie sich von ihrem bisherigen Glauben verlassen fühlen. Nicht selten kehren sie der christlichen Welt insgesamt den Rücken zu. Hier müsste man eigentlich von Exevangelikalen reden.
  • Manche distanzieren sich von klassisch fundamentalistischen Überzeugungen wie der Irrtumslosigkeit der Bibel auch in allen naturwissenschaftlichen Fragen. Im Grunde bleiben sie aber eigentlich evangelikal, vor allem nach europäischen Maßstäben.
  • Wieder andere tun sich zunehmend schwer, sich mit dem öffentlichen Bild ihrer Glaubensgemeinschaft zu identifizieren. Sie steigen weder aus noch schließen sie sich an etwas Neues an. Aber sie sind innerlich verwirrt und auf der Suche.
  • Einige kommen einfach mit ihrer bisherigen Frömmigkeitspraxis (stille Zeit, Lobpreis) nicht mehr zurecht. Sie entdecken kontemplative, mystische und naturspirituelle Ausdruckformen ihres Glaubens.
  • Vor allem bei Jüngeren gewinnen Fragen der sozialen Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit etc. immer größere Bedeutung. Sie gewinnen Anschluss an linksevangelikale Überzeugungen, die es seit den 1970er Jahren gibt.
  • Bei manchen ändert sich in ihren theologischen Überzeugungen und in ihrer Frömmigkeit beinahe nichts, nur eine sexualethische Überzeugung z.B. zum Umgang mit Homosexualität. Sie kommen aus dem Staunen nicht heraus, welche Konsequenzen das für sie und ihre Gemeinde haben kann.
  • Für andere ändert sich sehr viel mehr: Sie brechen mit ihrer evangelikalen Herkunftsfrömmigkeit – und finden nach einer Übergangsphase neue Heimat in einem anderen Strang der Christenheit. Sie schließen sich einem liberalen Christentum oder auch der katholischen Kirche an und brauchen fortan keinerlei Bindestrich-Evangelikalität zur Selbstbeschreibung.

Sind das «die» Postevangelikalen? Offensichtlich nicht. Dafür ist dieses Bild viel zu bunt. Ob dieses Wort je eine bestimmte Gruppe oder Strömung bezeichnen wird, kann man vielleicht in 10-20 Jahren sagen.

Heute sind diese postevangelikalen Bewegungen vor allem ein Indiz: Für die Krise der evangelikalen Bewegung insgesamt, zumindest in der westlichen Welt.

Was heisst «evangelikal»?

In den letzten Monaten habe ich mich im Podcast «Das Wort und das Fleisch» mit der jüngeren Geschichte vor allem der evangelikalen Bewegung beschäftigt. Je länger je mehr zeigt sich, wie schwierig es ist zu erklären: Was ist evangelikal?, Was heisst evangelikal?, oder besser:

Was ist heute noch evangelikal?

Die am meisten verbreitete Definition von Evangelikalismus geht auf den britischen Historiker David Bebbington zurück. Sein sogenanntes Bebbington Quadrilateral benennt vier Identifikationsmerkmale:

  • Erfahrung einer persönlichen Bekehrung bzw. Wiedergeburt
  • Konzentration auf Jesus Christus als gekreuzigten Herrn und Erlöser
  • Bibelfrömmigkeit und Orientierung an biblischer Lehre und Ethik
  • Aktive Bemühung um Weltgestaltung im Sinne von Mission und Diakonie

So hilfreich dieses Muster in kirchengeschichtlicher Hinsicht sein mag: Es ist alles andere als trennscharf. Denn diese Kriterien passen auch für Menschen, die sich primär als Katholiken verstehen, oder als Lutheraner, Baptisten etc.

Geschichtlich müsste man genauer sagen: Evangelikalismus als globale Bewegung konstituiert sich auf dem Lausanner Kongress 1974. Billy Graham hatte gemeinsam mit anderen einflussreichen Evangelisten, Theologen etc. wie John Stott u.a. eine globale Bewegung geschaffen in Abgrenzung zum Kurs des Ökumenischen Rates der Kirchen und vielen klassischen Volkskirchen Europas bzw. Mainline Churches in den USA.

Evangelikal waren alle, die sich in irgendeiner Weise positiv auf Graham und Lausanne beziehen konnten.

und sich gleichzeitig negativ abgrenzten von dem, was sie als liberale Auflösungserscheinungen in der Gesellschaft und in vielen Kirchen empfanden. Offensichtlich hat dieser Konsens tatsächlich ein globales Zusammengehörigkeitsgefühl gestiftet.

Populistische Neigungen…

Vieles spricht dafür, dass sich in den oben beschriebenen Phänomenen eine nachlassende Bindungsfähigkeit dieser Strömung zeigt. Diese Krise ist nicht völlig neu. Seit vielen Jahren ist vor allem in den USA die Beobachtung selbstverständlich, dass der Terminus «evangelikal» höchst Diverses umfassen soll. Interne Spannungen und Verwerfungen gehören seit langem zum Wesen der US-Evangelikalismen.

Gleichwohl waren die US-Wahl und die Präsidentschaft von Donald Trump noch einmal ein Einschnitt.

Denn die Zustimmung zu Donald Trump bei Menschen, die sich selbst als Evangelikale bezeichnen, hat alles übertroffen, was es seit Ende der 1970er Jahre an beobachtbarer Politisierung der evangelikalen Bewegung gegeben hat. Die Identifikation vieler Evangelikaler mit populistischer Politik (in den USA, aber z.B. auch in Brasilien) bestimmt heute nicht selten die Wahrnehmung des Phänomens Evangelikalismus insgesamt.

In der Politik verstehen wir unter Populismus das Phänomen, dass ein Teil der Gesellschaft den Anspruch erhebt, für das Ganze zu sprechen (das Volk, die Nation etc.). Dieser Anspruch ist ferner dadurch gekennzeichnet, dass er sich überwiegend nicht lösungsorientiert an der Bewältigung von realen Problemen beteiligt, sondern sich permanent abarbeitet an den Eliten, den Mainstream-Medien, vermeintlichen Ideologien der Gegenwart etc. Die Wucht der Kritik steht nicht selten in keinem guten Verhältnis zur Entfaltung eigener Lösungsansätze.

Ist die Nähe zum Populismus ein Selbstmissverständnis frommer Menschen? Oder gibt es dazu eine innere Affinität?

Könnte man gar von einem religiösen Populismus sprechen, bei dem sich ein Teil der Christenheit zuschreibt, die wahren Gläubigen zu vertreten und die Entfaltung des eigenen Glaubenszeugnisses sehr stark von der Abgrenzung gegenüber allerlei liberalen, ökumenischen und säkularen Irrwegen bestimmt ist?

Politische und kulturelle Polarisierungen

So oder so: Die evangelikale Bewegung ist Teil politischer und kultureller Polarisierungen in vielen Gesellschaften geworden. Und vor allem: diese Polarisierung hat zunehmend durchgeschlagen auf die Evangelikalen selbst. Nichtweiße Gläubige, die sich nach Bebbingtons Kriterien als Evangelikale bezeichnen müssten, fühlen sich in keiner Weise vertreten von dem, was in der Öffentlichkeit als Evangelikalismus gilt. Nicht wenige Jüngere, die in evangelikalen Gemeinden aufgewachsen sind, sind den evangelikalen Kulturkrieg gründlich leid. Und nicht zuletzt: Die Dominanz der amerikanischen weißen Evangelikalen wird in vielen Partnerkirchen und Gruppen der weltweiten Evangelischen Allianz nicht mehr akzeptiert.

Nur: Es wäre viel zu einfach zu sagen, dass die US-Evangelikalen doch nur einen kleinen Teil der weltweiten Bewegung ausmacht. Die Marke, das Label, die prägende Literatur, die Musikrichtungen, Identifikationsfiguren etc. – all das ist seit Jahrzehnten sehr stark von amerikanischen Entwicklungen bestimmt. Ein globaler Evangelikalismus (oder auch ein deutscher bzw. schweizer) könnte sich vom amerikanischen ähnlich schwierig distanzieren, wie sich das internationale Filmgeschäft von Hollywood abkoppeln könnte.

Eine postamerikanische evangelikale Bewegung wäre etwas grundlegend Neues und anderes als alles, was wir bislang kannten.

Eine Bewegung in der Krise

In diesem Sinne verstehe ich die Debatten zum Stichwort Postevangelikalismus als Indiz einer evangelikalen Krise. Den Begriff Postevangelikalismus möchte ich daher nicht auf eine neue Bewegung beziehen, sondern als Epochensignatur verwenden. Keine religiöse Strömung war in den letzten 50 Jahren so einflussreich wie die evangelikale. Aber die evangelikale Identität ist unscharf geworden.

Das religiöse Feld gerät anscheinend in Bewegung, ohne dass man auch nur ansatzweise die künftige Entwicklung prognostizieren könnte.

Habe ich im Podcast „Das Wort und das Fleisch“ überwiegend die Geschichte unterschiedlicher Stränge in den letzten 50 Jahren erzählt, so möchte ich hier nun eine Serie starten, die aktuelle Herausforderungen beschreibt. In diesen Essays zum Postevangelikalismus möchte ich mich folgenden Schlüsselfragen zuwenden:

Was hat die evangelikalen Bewegungen in den letzten Jahrzehnten so erfolgreich gemacht? Worin bestand ihr Geheimrezept, eine weltweite Marke zu werden?

In welcher Weise war und ist der Evangelikalismus auf die moderne Kultur nach den 1960er Jahren bezogen? Ist er eine gegenkulturelle Bewegung – oder nicht vielmehr religiöser Ausdruck postmoderner Bedürfnislagen?

Evangelikalismus ist nicht zu verstehen ohne Bezug zum nichtevangelikalen Protestantismus. Inwiefern ist der Evangelikalismus vielleicht gerade auch eine Konsequenz kirchlicher und theologischer Entwicklungen der letzten 50 Jahre? Und wie könnte sich dieses Verhältnis wechselseitiger Abgrenzungen weiterentwickeln?

Welche Zukunft hat die offenkundige Politisierung evangelikaler Gruppen in den letzten Jahrzehnten? Findet gerade ein Übergang statt, wo nicht mehr die religiösen Überzeugungen die politische Haltung prägen, sondern politische Präferenzen auf das religiöse Selbstverständnis durchschlägt?

Weltweit ist vor allem die protestantische Christenheit seit Jahrzehnten von einer Welle der Spannungen und Spaltungen begleitet, häufig nicht aufgrund dogmatischer, sondern ethischer Differenzen in Fragen Gender und Sexualethik.

Anscheinend ist Ethik die neue Dogmatik.

Wie konnte es dazu kommen? Und wie kann es an dieser Stelle weitergehen?

 

Postevangelikalismus Teil 2 – Teure Gnade

Photo by Tim Marshall on Unsplash

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10 Kommentare zu „Postevangelikalismus: Eine Hinführung“

  1. Spannend. Wobei ich die Bruchstellen des Evangelikalismus genauso in der Dogmatik (Bedeutung des Kreuzes; was ist die Heilige Schrift? usw.) wie in der Ethik (Sexualethik, Umweltethik, politische Ethik …) verorten würde.
    Und dann steht für mich die Frage im Raum: Inwieweit entsteht eine Krise des Evangelikalismus aus unterschiedlichen Reaktionen auf die gesamtgesellschaftliche Entwicklung? So lautete zum Beispiel die Gretchenfrage, die seitens der Gesellschaft an evangelikale Christen gestellt wurde, beileibe nicht immer so wie empfunden heutzutage: „Wie hast du’s mit der Homosexualität?“

    1. Ja, auf jeden Fall. Und da wird es dann richtig knifflig. Denn teilweise gibt es in dogmatischen Fragen eine unglaubliche Interesselosigkeit, Fragen um Taufe, Abendmahl oder Kirche, aber auch Anthropologie etc. auch nur annähernd kohärent zu bearbeiten. Bei anderen Fragen wie der Eschatologie, vor allem aber auch beim Verständnis von Rechtfertigung und Heiligung gibt es eine verblüffend große Vielfalt, von Hypercalvinismus bis Arminianismus, die man irgendwie aushält. Und anderen Stellen (Christologie, Bibel) wird Bekenntnistreue auf wenige Formeln zugespitzt, aber wahnsinnig groß geschrieben.
      Krise und Spannung entzünden sich nach meiner Beobachtung heute weit überwiegend an moralisch-politischen Fragen. Aber die werden sich nicht diskutieren lassen ohne Debatte um den angemessenen Umgang mit der Bibel…

      1. Ich denke das (d.h. Interessenlosigkeit bezüglich gewissen Themen) hat unter anderem mit einem fehlenden Bewusstsein zu tun, was solche Fragen mit dem erlebten Alltag zu tun haben. Der Durchschnittschrist – vor allem der junge Durchschnittschrist – fragt nach „Life-Truth“, und sieht in „Truth-Truth“ eine Abstraktion, die für das eigene Leben keine grundlegende Konsequenzen darstellt – wenn ich es studieren müsste, damit ich es verstehe, dann kann es nicht wirklich zum Kern christlicher Lebensführung gehören, weil es dann nicht jedem Christ abverlangt werden kann, und dann muss ich mich auch nicht damit auseinandersetzen.
        Dann ist es auch ganz natürlich, dass Rechtfertigungslehre gross geschrieben wird, weil sie mit unserer Handlungsfreiheit und -Effektivität zu tun hat. Es ist auch natürlich, dass bei gewissen anderen Themen (Bibel- oder Christologieverständnis) einzelne Punkte extrem stark gewichtet werden, weil bei diesen doch noch die AHNUNG deren Wichtigkeit nach einer Formulierung deren Grundsätze für „Unkundige“ verlangt. Eine gewisse Institutionalisierung dessen sehen wir ja schon von den frühesten Konzilen, bei denen komplexe Dogmenauseinandersetzungen in kurze Sätze oder Worte gefasst wurden, die dann den „Normalbürgern“ zugänglich gemacht wurden.
        In der Moderne war halt der grosse Unterschied zu jener Zeit, dass es viel verbreiteter war, über ein mehr oder weniger geschultes Denken zu verfügen, und fast jeder selber imstande war (oder zu sein meinte), sich über die Richtigkeit dieser Sätze Gedanken zu machen. In der Postmoderne erben wir diesen Usus, werden aber gleichzeitig vom absoluten Informationsüberfluss dazu gedrängt, uns entweder völlig zu überfordern oder uns aufs wesentliche zu beschränken.
        Da macht es dann auch Sinn, dass der Durchschnittschrist vor allem wissen will: „Was muss ich tun“ und begleitend dazu noch „Was muss ich glauben“ im Sinn von „Wieviel muss ich glauben, damit es genug ist?“
        Ein gewisser Minimalismus gehört halt zur Abgrenzungsnatur von „omnis determinatio est negatio“, auch betreffend dem eigenen Glaubensleben.
        Zu unserer Aufgabe als Theologen und Pastoren gehört darum meines Erachtens, ein Bewusstsein der holistischen Natur der Nachfolge Jesu zu vermitteln, die immer tiefer in das Verständnis der geistlichen Prinzipien, die uns in der Bibel vermittelt werden, führen, und gleichzeitig das Bewusstsein zu stärken, dass dessen Kernbotschaft und Kernwahrheiten etwas sind, das wir mit dem Glauben ERGREIFEN und ERLEBEN, und nicht mit dem Verstand ER- bzw. UMFASSEN.

        Diese wiederum entnehmen wir aus der Bibel, und da ist halt die Frage nach unserer Hermeneutik, wie Prof. Dietz schreibt, unerlässlich.

        So würde ich von meinen sehr begrenzten phänomenologischen Betrachtungen her diese Spannung von einerseits Interessenlosigkeit und andererseits Überinteresse/-Gewichtung deuten…

  2. Spannender und analytischer Text. Danke!
    Als Pfarrer der Landeskirche stelle ich immer wieder fest, dass sich hier für uns ein „Missionfeld“ eröffnet: Wir haben immer wieder neue Mitglieder oder alte Mitglieder, die wieder bei uns aktiv werden, die aus diesem Milieu stammen. Diesen Menschen wird es wie oben beschrieben zum Teil „zu eng“ oder sie entsprechen nicht mehr der Zielgruppe (Megachurch und ja, auch aus dem ICF habe ich da Beispiele!) und kommen dann gerne wieder in die „verstaubte“ Landeskirche zurück. Auch bei den Theologiestudierenden stellen wir das fest: viele stammen aus solchen Strukturen und werden jetzt VertreterInnen der Landeskirche… eine interessante Tendenz…

    1. Alexander Pollhans

      Vielleicht ergibt sich diese Tendenz aber auch aus einer Sicht auf eine Landeskirche, die zunehmend in der Bedeutungslosigkeit verschwindet und damit zum „inneren Missionsfeld“ wird?

  3. Gerhard Joseph Lindenthal

    Thorsten Dietz sieht in dem Postevangelikalismus eine Krise der Evangelikalen. Der Begriff ‚Postevangelikalismus‘ unterliegt einer Univokation, das heißt, die Univokation verteilt eine synonyme Begrifflichkeit auf differente Gegenstände, die sich widersprechen oder sogar ausschließen können. Der Begriff ‚Postevangelikalismus‘ kann in dieser Weise einer Zustandsbeschreibung entsprechen, die evangelikale Gehalte, die zeitlich nach der Ära des Evangelikalismus liegen, als solche in der Ära des Postevangelikalismus entweder als überwunden oder als bewahrt ansieht. Beispielsweise gelten das evangelikale Dogma der Irrtumslosigkeit der Bibel und die Frömmigkeitspraxis der Stillen Zeit und des gottesdienstlichen Lobpreises in der Ära des Postevangelikalismus konservativen Evangelikalen als überholt.

    Das, was aber die engen Grenzen des Evangelikalismus in ungeahnter Weise sprengt, ist eine sehr verspätete Diskussion, die den Zusammenbruch der bürgerlichen Sexualmoral, wie dieser sich in den Studentenunruhen der westlichen Welt 1968/69 formiert hat, thematisiert, nicht thematisiert, vielmehr nachträglich teilweise legitimiert. In dieser Weise zersprengt die Homosexualitäts-Debatte, die die evangelikale Bewegung erfasst hat, diese selbst, da Teile derselben an der Kontroverse des Dogmas monogamer und gegengeschlechtlicher Sexualität festhalten, indem jene konservativen Evangelikalen dieses Dogma als dem Dogma der Irrtumslosigkeit der Bibel integriert sehen.

    Nichtsdestotrotz kann gesagt werden, dass die postevangelikale Bewegung eminenter Ausdruck einer Krise der evangelikalen Bewegung selbst ist, denn es wäre unrealistisch, zu behaupten, dass die von Anfang an bestehende Illegitimität des Evangelikalismus sich selbst in die Legitimität eines Postevangelikalismus hinüberretten würde oder hinüberretten könnte. Der britische Historiker David W. Bebbington hat in seinem „Bebbington Quadrilateral“ vier evangelikale Merkmale (Biblizismus, Kreuzzentrismus, Konversionismus, Aktivismus) benannt, von denen das dritte Merkmal eines Konversionismus den Glauben ausspricht, dass der (unerlöste) Mensch einer religiösen Konversion bedürfe, das heißt, dass der Mensch ohne Gott sich bekehren müsse oder bekehrt werden müsse. Die dritte Seite des „Bebbington-Vierecks“, mit dem er die evangelikale Bewegung sehr zutreffend gekennzeichnet hat, scheint, als scharfer Ausdruck eines evangelikalen Bekehrungs-Wahns, den Evangelikalismus selbst aufgesprengt und zerstört zu haben.

    An dieser Zustandsbeschreibung ändert der Hinweis auf den Lausanner Kongress von 1974, auf Billy Graham und auf John Stott nichts. Diese Bezugsgrößen sind in sich gänzlich desolat und obsolet. Sie unterschlagen vor allem die theologischen Bemühungen eines Stanley J. Grenz (Revisioning evangelical theology. A fresh agenda for the 21st century. Downers Grove Illinois 1993. 208 S. – The named god and the question of being. A trinitarian theo-ontology. Louisville Kentucky 2005. 386 S.), eines Schülers Wolfhart Pannenbergs, der sich um eine zeitgemäße Theologie bemüht, die nicht die illegitime Miasmatik des Evangelikalismus in einen noch miasmatischeren Postevangelikalismus hinüberzuretten trachtet. Die Miasmatik des Evangelikalismus, als einer US-amerikanischen Zivilreligion, die die biblischen Bezüge, von denen noch die Pilgerväter gekennzeichnet waren, vollständig hinter sich gelassen hat, hat sich in hervorragender Weise an dem vorletzten Präsidenten der USA, Donald Trump, gezeigt, dessen verbrecherischen Ausfälle einen den Staat sprengenden Populismus auf den Plan gerufen hat, der nicht mehr eindämmbar ist. Gerade in diesem staatspolitischen Phänomen eines irreparablen und irreversiblen Populismus zeigt sich, dass der Evangelikalismus die Kraft in sich getragen hat, sich selbst zu zerstören.

    In diesem Sinne können der Evangelikalismus und der Postevangelikalismus als populistische Fehlformen eines auf der Bibel gestützten christlichen Glaubens angesehen werden, dessen evangelikale Dogmatik von Menschen, wie Dr. Markus Till, eines Biologen, erstellt werden, die noch nicht einmal der deutschen Sprache, geschweige denn der griechischen Sprache des Neuen Testaments, mächtig sind. Zurecht sieht Thorsten Dietz in diesem Populismus ein eklatantes Selbstmissverständnis eines fromm sein wollenden Menschen. Evangelikalismus und Populismus sind zwei eklatante Fehlformen eines Verhaltens, in dem der spätbürgerliche Mensch sich selbst zerstört und sich selbst ad absurdum führt.

    1. Lieber Herr Gerhard Joseph Lindenthal! Ich bitte Sie sehr herzlich darum, ihren Schreibstil zu überdenken, damit nicht der Inhalt durch den Stil verdeckt wird. Die vielen grammatischen Passiva, Fremdwörter und Schachtelsätze machen es mir unnötig schwierig, zu verstehen, was Sie sagen wollen. Das finde ich schade. Mir ist bekannt, dass dieser Stil in der akademischen Welt üblich ist, allerdings bin auch ich als Nichtakademikerin an ihrer Meinung interessiert und würde gerne hören, was Sie inhaltlich zu sagen haben.

      1. Gerhard Joseph Lindenthal

        Liebe Andrea,
        wir haben Deine freundliche Ermahnung an unser Herz dringen lassen und fassen aus diesem Grund unser Gesagtes wie folgt zusammen:
        Postevangelikalismus ist eine Univokation. Ein univokativer Begriff wird von differenten Gegenständen ausgesagt. Postevangelikalismus kann das Ende der Ära des Evangelikalismus besagen, aber auch eine Phase, in der der Evangelikalismus zu einer differenzierten Bestimmung seiner eigenen Anliegen gekommen ist.
        Das evangelikale Dogma der Irrtumslosigkeit der Bibel kann in einer vollends atheistisch gewordenen Zeit, wie sie die Bibel selbst als endzeitliche Apokalyptik oder planetarischen Atheismus beschreibt, in gar keiner Weise Bedeutung erlangen, an seine Stelle muss die Kreuzes-Passion Jesu treten, in der sich die Elenden dieser Erde wiederfinden können.
        Die Gegenwart des 21. Jahrhunderts, in der sich sämtliche ungelöste Konflikte des 20. Jahrhunderts in katastrophaler Weise zuspitzen und verschärfen, so dass sie gänzlich unlösbar werden, ist vollkommen unzweifelhaft von der Heraufkunft eines planetarischen Atheismus gekennzeichnet, in dem die chinesische Tyrannis, die die hegemoniale Welt-Herrschaft anstrebt, einen dritten und letzten atomaren Welt-Krieg herbeiführt, der das Ende der menschlichen Zivilisation bedeutet.
        Jedes theologische Denken, mithin auch das evangelikale oder postevangelikale, insofern es sich als theologisch qualifizierbar auszugeben gewillt ist, muss in unbedingter Weise die von der Bibel in vielfacher Weise (Jesaja, Hesekiel, Daniel, Johannes-Apokalypse) angesprochene eschatologische Dimension der geschichtlichen Zeit des Menschen mitbedenken, wenn anders es sich nicht selbst disqualifizieren will.
        Wer in dieser streng apokalyptischen Zeit, die dem Menschen der Gegenwart zu leben aufgegeben ist, noch Homosexualitäts- oder Sprach-Debatten führt, verkennt, dass er meilenweit, um nicht zu sagen, Lichtjahre entfernt von dem explizit gewordenen Wort Gottes sich befindet. Dieser heillose Mensch, der sich wähnt, Christ zu sein, betrügt sich selbst, indem er nicht die Zeichen der Zeit, die schreiend geworden sind, erkennt.
        Die evangelikale oder postevangelikale Bewegung erscheint als eminenter Ausdruck einer Krise des theologischen Denkens selbst, die nicht wahr haben, dass Gott, wie er es in der Johannes-Apokalypse in der Beschreibung der vier apokalyptischen Reiter voraus verkündigt hat, den Abriss der Welt ausführt und betreibt. Es ist Gott selbst, von dem Pascal sagt, dass er unbegreiflich, undenkbar, unfassbar unendlich ist, zu dem die Schreie der Elenden und Gequälten dringen, aber nicht die maßlos widerlichen und ekelerregenden Perversionen der Evangelikalen und Postevangelikalen, der der Welt einen Zusammenbruch und Abriss bereitet, vor den die Menschen sich in den Klüften und Felsen der Berge verbergen und sie zu den Bergen und Felsen sprechen: Fallet über uns und verberget uns vor dem Angesicht Gottes (Joh.-Apok. 6, 15–16).
        Evangelikalismus und Postevangelikalismus müssen als populistische Fehlformen bezeichnet werden, die verdecken, was Gott in seinem Wort unmissverständlich gesagt hat, dass der umkommt, der von ihm in unangemessener Weise spricht. Diese beiden Fehlformen des christlichen Glaubens stinken bereits so sehr zu dem Himmel, dass einem nur noch speielend werden kann.

  4. Johann Hinrich Claussen

    Das ist ein sehr interessanter, packender Text. Der Post-Evangelikalismus (wenn man das überhaupt so sagen darf) ist hierzulande viel zu wenig bekannt, könnte uns aber näher sein, als wir denken. Mir ist er durch eine Zufallsbegegnung bei einer USA-Reise vor zwei Jahren begegnet. Ich habe einen Pastor kennengelernt, der sich genau diesen Menschen zuwendet, auf die eigentlich kein Etikett passt. Vielen Dank also für diesen Text!

  5. Lieber Thorsten, lieber Matthias, meinen aller, allerherzlichsten Dank für Idee und Performance von DWudF….einfach nur genial, super gut. Was ihr so schön vom Leder zieht, habe ich von der Pike auf mitgemacht und erlitten. Im Moment befasse ich mich mit Dave Gushee, kann den Kerl irgendwie gut leiden…hab alle eure Podcasts von DWudF mehrmals gehört…bringt mich unglaublich weiter…super gut, Thorsten, dein Schluss am Ende von Postevangelikalismus. Nur am Rande: In IDEA habe ich versucht, einen Leserbrief zu lancieren zum „Höllenartikel“ von einem Werner Thiede…ist bisher nicht veröffentlicht worden. Hab sogar angeboten, selbst einen ausführlichen Artikel zu schreiben….aber wie heißt es so schön: Nichts ist so durchsetzungsstark wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist…..bitte, grüßt meinen allerliebsten Herzensfreund Siggi Z. von mir…er hat mich anno 1972 auf den richtigen und erst jetzt so richtig funkenden Trip gebracht…

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