Es ist Ende September und ich sitze auf meinem Balkon, den Blick wie so oft statt auf die nahe Bergwelt auf den Bildschirm gerichtet.
Irgendwann bemerke ich die Bewegungen in meinen Augenwinkeln und schaue vom Smartphone auf in den Himmel.
Hunderte Schwalben tanzen am noch jungen Abendhimmel. Sie gleiten graziös durch die Luft, flattern, segeln, schwirren, als führten sie ein Himmelsballett auf.
Sommervögel
Ich lege mein Handy weg und schaue gebannt in den Himmel.
Ich ahne, dass sich die Schwalben auf ihren langen Weg in ihr Winterquartier vorbereiten, und wie jedes Jahr zieht es mir beim Gedanken daran das Herz zusammen, als hätte ich stattdessen eine Zitrone in der Brust.
Die Schwalben sind die Sommervögel. Wenn sie wegfliegen, kommt die von mir gefürchtete Kälte und Dunkelheit.
Im Spätsommer graut mir vor ihrer Abreise, und nach einem langen, grauen Bergwinter kann ich es kaum erwarten, bis sie wieder über den Hausdächern auftauchen.
Wappnen gegen die Wintermüdigkeit
Während ich den kleinen, filigranen Vögeln am Himmel zuschaue, bereite ich mich innerlich auf meine bald einsetzende Wintermüdigkeit vor.
Sie hält zwar nie lange an und geht immer vorüber, aber ich muss mich trotzdem gegen sie wappnen.
Es ist ein ähnliches Gefühl wie kurz bevor ich mein bitteres Heilerde-Gebräu trinke oder den Mischer nach der warmen Dusche auf kalt stelle.
Es tut mir gut, und dennoch muss ich mich überwinden.
So ist auch der Winter: Er muss sein, für die Erneuerung der Natur und die Pause, die wir alle dringend brauchen.
Er muss sein, für den Ausgleich von Hitze und Helligkeit und um nach der Euphorie des Sommers wieder durchzuatmen.
Boten des Neuanfangs
Der deutsche Dichter Max Dauthendey nutzte in seinen Gedichten die Schwalbe als Symbol für die Traurigkeit des Abschieds.
Gleichzeitig nannte er sie Morgenvögel – Boten eines Neuanfangs.
Unsere Augen so leer,
Unsere Küsse so welk,
Wir weinen und schweigen,
Unsere Herzen schlagen nicht mehr.
Die Schwalben sammeln sich draußen am Meer,
Die Schwalben scheiden,
Sie kommen wieder,
Aber nie mehr uns beiden.Max Dauthendey
Kleine Vögel als Symbol für den Kreislauf des Lebens
Für mich sind die kleinen Singvögel der Inbegriff des Lebens; ein Zeichen für den Kreislauf von Vergehen und Neuwerdung.
Auch wenn es mir jedes Jahr schwerfällt, sie ziehen zu lassen, weiß ich, dass Abschiednehmen dazugehört.
So graut mir vor dem Tag, an dem meine Eltern sterben, weil dann ein Teil von mir sterben wird.
Gleichzeitig weiß ich, dass sie sich auf den Himmel freuen und an einem guten Ort auf mich warten.
Wie die Schwalben, die jedes Jahr an den Ort ihrer Geburt zurückkehren, so werde auch ich zu ihnen zurückkehren.
Wir werden wieder vereint sein.
Ich werde traurig sein, aber der Gedanke an ein mögliches Wiedersehen ist tröstlich.
Ich sammle mir einen Wintervorrat
Ich schaue den Schwalben an diesem Abend noch lange beim Insektenfangen und Schlaufenfliegen zu.
Wie Frederick, die kleine Maus aus dem Kinderbuch von Leo Lionni, sammle ich dabei einen innerlichen Wintervorrat:
Sommerberge am Horizont, satte Wald- und Wiesenfarben, der Duft von frisch gemähtem Gras und meiner warmen, sonnenbecremten Haut, das tsiiie-tsiiie der Schwalben im violettblauen Abendlicht…
Als es später dämmert und kühler wird, bin ich bereit.
Ich gehe zurück ins Haus und schliesse hinter mir die Balkontüre zu.
Der Winter kann kommen.
Macht’s gut, liebe Schwalben, bis wir uns im nächsten Frühsommer wiedersehen.
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