Dein digitales Lagerfeuer
Dein digitales Lagerfeuer
 Lesedauer: 6 Minuten

Wo gehts zum Paradies? – Atelier Van Lieshout

Art Basel 2025: Wieder werden zahlreiche Verkäufe in Millionenhöhe gemeldet, bereits am ersten Tag. Die Stimmung aber ist verhalten. Die allgemeine wirtschaftliche Unsicherheit, geopolitische Spannungen (z.B. Ukraine-Krieg, Nahost-Kriege), Trump-Zölle und gestiegene Zinsen wirken sich auch auf den Verkauf des Luxusgutes Kunst negativ aus.

Die Zahlen sind weltweit rückläufig. Der chinesische Kunstmarkt ist sogar um fast ein Drittel eingebrochen.

Ausserdem grassiert das Phänomen der «fair fatigue»; Menschen besuchen seit Corona nicht mehr so gern Kunstmessen und andere Kulturveranstaltungen.

Man merkte das vor allem der Liste Art Fair Basel an. Ausgerechnet die Plattform für Nachwuchskünstler:innen wirkte spannungsarm und schlecht besucht.

Es lief schon mal besser

Ich glaube aber, die Verunsicherung liegt noch tiefer. Ich denke, die Krise betrifft die Kunst selbst.

Wie kaum ein anderes symbolisches Gut stehen moderne und zeitgenössische Kunst für ein bestimmtes gesellschaftliches Modell.

Dieses Modell lässt sich mit Attributen wie «fortschrittlich», «westlich», «liberal» oder eben «modern» umreissen.

Vorreiter sein, Avantgarde, neue Denkmöglichkeiten öffnen: Dies entspricht dem Selbstbild des Künstlertums seit der frühen Moderne bis in unsere Gegenwart. Und genau dieses Bild scheint in der Krise zu stecken.

Die Zukunftskarawane ist jedenfalls vorerst ins Stocken geraten.

Der Marsch nach Utopia

Genau diese Stimmung fängt das umfangmässig grösste Kunstwerk ein, das es in der Geschichte der Basler Kunstmesse je gegeben hat: «The Voyage – A March to Utopia» des renommierten Atelier Van Lieshout (AVL) aus den Niederlanden; ausgestellt im für besondere Objekte reservierten «Unlimited»-Bereich der Kunstmesse.

Eine eindrucksvolle Installation aus 180 Einzelwerken und Tausenden Details als schier endloser Zug von Skulpturen, Maschinen und absurden Objekten.

Seit mittlerweile vier Jahrzehnten arbeitet Joep Van Lieshout an dem Thema des ewigen menschlichen Drangs, nach einem besseren Ort – einer Utopie – zu streben; dorthin, «wo das Gras grüner ist», wie der Künstler es ausdrückt.

Fragile Moderne

Die Kolonne wird von «The Leader» angeführt: einem ausrangierten Kinderroller, der liebevoll zu einem Symbol für Widerstandsfähigkeit und Hoffnung umgerüstet wurde und zugleich voller Ambivalenz steckt.

Auf dem Roller zeigt eine Kinderhand in Richtung Zukunft. Es könnte eine Armprothese sein – oder ein verkohltes Körperteil.

Dahinter kommt ein Ochsengespann, gefolgt von einer Armada aus improvisierten medizinischen Objekten, Überlebensausrüstungen, Denkmälern für gefallene Helden und unterschiedlichsten skurrilen oder rührenden Objekten; etwa der «Sad Wheelchair», ein Bastlerstück.

Der Anblick des improvisierten Rollstuhls weckt Bilder prekärer Verhältnisse in Slums oder Kriegsgebieten.

Hoffnung und Verfall ziehen gemeinsam weiter

Die utopische Prozession sammelt unterwegs alles und jeden ein. Auch Träume, Ängste und Verluste reisen mit, auf allen möglichen Fortbewegungsmitteln: vom Gehstock bis zur rollenden Toilette und zum mobilen OP-Saal.

Skulpturen von Geistern stehen für jene, die das Ziel nicht erreichen.

Fortschritt und Verfall, Überlebenswillen und Melancholie, Euphorie und gescheiterte Revolutionen, Zärtlichkeit und Brutalität, Fürsorge und Folter gehen Hand in Hand oder verschwimmen wie in einem Fiebertraum.

Am Ende zerstören Maschinen den Weg hinter der Prozession: Es gibt kein Zurück.

Es gibt kein Zurück

Der Künstler Joep van Lieshout sagt über sein Werk:

«This work is about a voyage to utopia, to an unknown place, a better place – a garden of Eden – a place where we hope to find happiness, where we dream of creating a new world, a parallel or better world.»

«In dieser Arbeit geht es um eine Reise zu einer Utopie, zu einem unbekannten Ort – einem besseren Ort – einem Garten Eden – einem Ort, an dem wir hoffen, Glück zu finden, an dem wir davon träumen, eine neue Welt zu schaffen, eine parallele oder bessere Welt.»

Die Ambivalenz des kollektiven Strebens nach einer besseren Welt, die Ungewissheit des Ziels und die Fragwürdigkeit des Fortschritts verdichten sich zu einem Gefühl, das manche Messebesucher:innen instinktiv zurückweichen lässt. Andere dagegen fühlen sich angezogen und durchschreiten die Prozession in einer Mischung aus Nachdenklichkeit und Lächeln.

Boxenstopp

Ich sehe das Werk als freundliche Einladung, um innezuhalten.

Auch wenn man das Ganze nicht überblickt, kann man ein Augenmerk darauf legen, um welchen Preis technologische Fortschritte errungen werden. Man darf auch traurig sein über das Scheitern von Hoffnungen und Träumen.

Zugleich darf man dankbar dafür sein, in jedem einzelnen Moment neu beginnen zu können.

Ich sehe «The Voyage – A March to Utopia» als politisches und zugleich spirituelles Kunstwerk an.

Innehalten und neu überlegen: Das scheint gerade in Bezug auf Kunst als menschlich generiertes bildgebendes Verfahren derzeit unumgänglich, zumal Künstliche Intelligenz auf der Überholspur ist – und Künstler:innen in Kernbereichen zu ersetzen droht. (Dazu gibt es von mir einen Podcast mit Adrian Notz).

Was kommt nach dem Fortschritt?

Die Idee des Fortschritts durch sukzessive Optimierung politischer, sozialer und gesellschaftlicher Strukturen und koninuierliche Verbesserungen dank wissenschaftlicher, technischer und künstlerischer Innovationen ist zutiefst mit dem Moderneprojekt verbunden.

Dieses Modell kristallisierte sich in der Spätrenaissance und Frühaufklärung heraus, zunächst theologisch eingebunden, dann als weltliche Variante religiöser Paradieserwartung.

Als Künstler wurden Alchemisten, fortschrittliche Ärzte und Tech-Innovatoren der damaligen Zeit bezeichnet.

Eine Legitimationsfigur lautete: Neue Erfindungen stünden im Einklang mit dem göttlichen Plan und sie seien Zeichen, dass sich die Welt ihrem Ende und damit dem Paradieszustand nähere.

Tech-Chilliasten

Heute beobachten wir eine Wiederkehr überwunden geglaubter Endzeitvorstellungen, und das an unerwarteter Stelle. Ausgerechnet einige einflussreiche Akteure der Tech-Elite aus Silicon Valley (Hörtipp: «Die Peter Thiel Story» des Deutschlandfunk) interessieren sich neuerdings für Motive wie Endzeit und Antichrist. Allerdings ohne paradiesische Aussicht, jedenfalls nicht für die Mehrheit der Menschen.

Heutige Tech-Utopisten verfolgen Exit-Strategien für Eliten. Wofür es sich aber zu kämpfen lohnt, sind paradiesische Aussichten für unsere Erde.

Unter dem Stichwort «Paradising» oder «Paradisieren» gibt es spannende Ansätze innerhalb von Theologie, Religionspädagogik und Kirche, das Thema des Paradieses neu, kreativ und vom Guten be-geist-ert in den Blick zu nehmen.

Wir alle können nämlich Paradiese schaffen – und in unserer unmittelbaren Umgebung noch heute damit beginnen.

Die Art Basel 2025 dauerte von 19. bis 22. Juni.

Ein kürzlich erschienenes Podcastgespräch der Reihe «TheoLounge» mit dem Zürcher Kurator und Dozenten Adrian Notz befasst sich mit der Frage, wie KI die Kunst und das künstlerische Selbstverständnis verändern – und wie hoch die sozialen und ökologischen Kosten von ChatGPT & Co. sind.

Abbildung: Atelier Van Lieshout, «The Voyage – A March to Utopia», Galerie Krinzinger, OMR, in collaboration with: Galerie Jousse Entreprise, Galerie Ron Mandos, Courtesy of Art Basel

Alle Beiträge zu «Kunstscout»

Schreibe einen Kommentar

Das RefLab-Team prüft alle Kommentare auf Spam, bevor sie freigeschaltet werden. Dein Kommentar ist deswegen nicht sofort nach dem Abschicken sichtbar, insbesondere, falls du am Abend oder am Wochenende postest.

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..

RefLab regelmässig in deiner Mailbox