Es sieht aus wie eine Kunstausstellung – und eigentlich auch wieder nicht. Es ist unverkennbar Kunst, was Marina Abramović macht, und doch auch etwas anderes. Schon der Eingangsbereich macht etwas mit einem.
Erstens: Durch die lebendige Pforte gehen
Nachdem ich die lebendige Pforte durchschritten hatte, den atmenden Eingang der gross angelegten Retrospektive von Marina Abramović im Kunsthaus Zürich, klopfte mein Herz. Ich bin soeben zwischen zwei nackten jungen Menschen hindurchgeschlüpft, eine Frau und ein Mann. Die Wirkung ist stärker als erwartet.
Neben mir steht eine Französin, deren Brustkorb sich schnell hebt und senkt. Sie wirkt völlig überwältigt. «Das macht was mit einem», flüstert sie mir zu, dabei habe sie das Werk gekannt. «Aber wenn man es körperlich erlebt, ist es noch einmal etwas anderes.»
Der knappe Raum zwischen den beiden nackten Menschen erlaubt es einem gerade mal, sich seitlich gedreht durchzuwinden.
Kaum zu vermeiden, dass man ein Körperteil streift, etwa eine Brustwarze, mit der Jacke oder dem Rucksack.
Bewusst über Grenzen gehen
Beim Betreten der lebenden Pforte war mir durch den Kopf geschossen, ob ich zur Frau oder zum Mann gewandt durchgehen sollte. Zur Frau gewandt wäre für mich einfacher gewesen, der weibliche Körper ist vertrauter; ich wählte den schwierigen Weg, versuchte niemandem auf die Zehen zu treten – und bedankte mich bei den beiden.
Wofür sagte ich Danke? Nicht, dass sie mich durchgelassen haben, eher dafür, dass sie mich die Sphäre zwischen sich fühlen liessen.
Ganz deutlich spürbar war für mich die Energie, die das nackte Paar verbindet, und in die ich für einen Moment eintauchte. Einen heiligen Moment lang.
Durch ein Paar, das sich liebt, gelangen wir ins Leben.
Heiliger Moment und Grenzverletzung in einem
Eine atmende Pforte aus den Körpern zweier Menschen, die sich ununterbrochen und mit gleichmässiger Ruhe ansehen, über Stunden: Wie viel Willensstärke ist dafür nötig?
Ich betrachte die beiden näher: Der Mundwinkel der Performerin zuckt, als wieder jemand durchschlüpft. Dann stabilisiert sich ihr Antlitz wieder, so wie eine Seeoberfläche nach einer kurzen Turbulenz wieder still daliegt.
Was sie wohl denken?
Ich denke: Wie verletzlich unsere Körper doch sind, wie verletzlich wir sind, wie vulnerabel sich Künstler:innen machen. Kaum eine Besucherin oder ein Besucher bleibt unberührt.
Hinter der Ruhe der Performer steckt grosse Willensstärke und Konzentration.
Berühren und sich berühren lassen
Grobkörnige Schwarzweissfotografien zeigen, wie die Künstlerin Marina Abramović in den 1970er-Jahren gemeinsam mit ihrem damaligen Partner Ulay «Imponderabilia» (Unwägbarkeiten) performte.
Solche Aufnahmen haben heute geradzu Ikonenstatus. Inzwischen sind es junge Kunstschaffende, die die Werke der Grande Dame der Performancekunst re-performen.
Die Wirkung ist unabwägbar, unmöglich, davor abzuschätzen, was es mit dir macht.
Die Re-Performance von «Imponderabilia» ist wohl auch eine Gedenkskulptur: in Memoriam Ulay; Abramović’ verstorbener Ex-Partner, mit dem sie eine leidenschaftliche Liebesbeziehung verband.
Pforten markieren, spirituell gesehen, Übergänge. Sie sind Teil von rites des passages.
Zweitens: Durch Liebe und Schmerz gehen
In Frühjahr 1988 brachen Marina Abramović und Ulay zu einer 90-tägigen, emotional aufgeladenen Wanderung entlang der Chinesischen Mauer auf. Nach jeweils 2000 Kilometern Wegstrecke trafen sie in einem buddhistischen Tempel aufeinander. Hier hatte das Paar einige Jahre zuvor heiraten wollen. Nun trennen sie sich an dieser Stelle.
Ein langer Pilgerweg aufeinander zu und doch nur ein noch weiteres sich voneinander entfernen: Was für ein tragisches Bild.
«The Lovers, The Great Wall Walk» war die letzte Performance des berühmten Künstlerpaares. Bei der ersten, 1976, liefen sie nackt aufeinander zu, immer wieder und immer schneller. Zuerst streiften sich ihre Körper, bei wachsender Geschwindigkeit kollidierten sie schliesslich.
Liebe schlug in Streit um und schliesslich in Verzeihen.
Die Unmöglichkeit der Liebe erfahren
Es ist viel über dieses Liebesdrama berichtet worden. Vielleicht kann man sogar sagen: Abramović und Ulay haben es künstlerisch ausgeschlachtet – und doch berührt es mich immer von neuem.
Letzendlich bleibt es unbegreiflich, dass Liebende nicht zusammenkommen können. Welche Niederträchtigkeit des Lebens.
«Rhythm 0»: Auf einer langen Tafel sind Gegenstände ausgelegt. Es beginnt rechts mit einem Beil, einer Säge und Messern; daran schliessen Gürtel an, mit denen früher Patriarchen ihre Kinder oder Frauen schlugen, Ketten erinnern an Folterwerkzeuge.
Werkzeuge, die auch an Märtyrer denken lassen oder Selbstgeisslertum aus der christlichen Schmerzensmystik.
Abramović schöpfte immer wieder aus dem Bilderfundus der Mystik.
Brot und Wein kosten
Daran schliessen Sachen aus der Hausapotheke an: Wattebäusche, Pflaster, Scheren, und dann Nahrungsmittel.
Darunter sind mit Brot und Weintrauben auch sakral aufgeladene Gegenstände.
Im rechten Teil der Tafel, die auch ein Altar sein könnte, liegen weibliche Accessoires und Dinge aus dem Bereich des Kulturlebens wie eine Flöte oder eine Tageszeitung. Das Zentrum des Tisches aber nimmt eine Kerze auf einer weissen Serviette ein.
Zum Objekt werden
Eine Frau wird zum Objekt: Als Marina Abramović «Rhythm 0» performte und erstmals die aufgezählten Gegenstände auslegte, war sie 28 Jahre jung. Die Künstlerin erklärte damals:
«Ich bin das Objekt».
Sie stand wie eine Puppe regungslos da. Besucher:innen waren aufgefordert, die Künstlerin mit den 72 bereitgestellten Objekten zu bearbeiten. Sie taten es zum Teil hemmungslos.
Als Marina Abramović nach einigen Stunden die Augen aufschlug und die Menschen ansah, waren manche schockiert und stürzten davon.
Die Künstlerin sagte, sie habe bei der Aktion dies gelernt:
«… wenn du alles dem Publikum überlässt, dann kann es dich töten.»
Ich stehe eine Weile vor den Folterwerkzeugen und denke an Verletzungen, die man erfährt oder weitergibt. Oder auch sich selbst zufügt, nicht notwendig mit scharfen Klingen, es reichen Gedanken.
Drittens: Sich in Geduld üben und als Teil der Natur erleben
Die wahrscheinlich berühmteste Langzeitperformance der Künstlerin ist «The Artist is Present»: eine dreimonatige Sitz- und Schweigeperformance 2010 im Museum of Modern Art in New York: Die Künstlerin in einem langen roten Kleid, unbewegt und beharrlich schweigend. Ihr gegenüber sitzen Menschen.
Manche reagierten emotional überwältigt von der schieren Aufmerksamkeit, die die Künstlerin ihnen schenkte.
Irgendwann kam auch der deutlich gealterte Ulay. Ich glaube, beide hatten Tränen in den Augen.
Ausschnitte der Aktion in New York wurden auf Youtube millionenfach angeklickt.
«The Current» (Die Gegenwart) ist der Titel einer Performance, die Abramović 2017 in Brasilien durchführte. Es geht um Heilung und Transformation. Sie liegt unter freiem Himmel auf einem quadratischen Drahtgestell auf einem Plateau. Das lange schwarze Haar weht im Wind. Im Hintergrund braut sich ein Gewitter zusammen.
Erneut an Grenzen gehen
Dokumentarische Aufnahmen der Brasilienreise zeigen Abramović euphorisch. Ich kann das nachvollziehen. Was für ein religiös und spirituell spannendes Land!
Die serbische Künstlerin nahm in Brasilien an schamanischen Ritualen Teil, darunter eine Ayahuasca-Zeremonie. Diese hatte intensive körperliche und emotionale Auswirkungen auf sie. Sie erlebte einen Horrortrip.
Abramović, die sich so viel auferlegt hatte (darunter nackt auf einem Kreuz aus schmelzendem Eis ausharren, mit dem kommunistischen Stern, eingeritzt auf ihrem Bauch) spricht von der «schlimmsten Erfahrung» ihres Lebens.
Einmal mehr hatte sie sich aus der Komfortzone gewagt und war über Grenzen gegangen.
Loslassen lernen
Eine Weile setzte ich mich im «Decompression Chamber» hin, das Marina Abramović im Kunsthaus Zürich für Besucher:innen ihrer Ausstellung eingerichtet hat. Es ist ein Ruheraum mit Strandliegen, die mit grauem Stoff überzogen sind. Man setzt schalldämpfende Kopfhörer auf, blickt durch Fenster auf Herbstbäume und übt sich in stiller Kontemplation.
Grossen Wert legt die Künstlerin darauf, dass man Smartphones beiseite legt und sich ohne Ablenkung auf das eigene Innere konzentriert.
Am Ende der Retrospektive erwartet einen abermals eine Pforte. Sie ist von leuchtenden Kristallen gerahmt und markiert nicht nur das Ende der Ausstellung, sondern auch den Übergang am Ende des Lebens in etwas Unbekanntes.
Eine ältere Frau mit grauen Haaren, grauem Jackett und Brille mit blauer Fassung bleibt in der Pforte eine Weile stehen. Ihr scheint gerade der Ort des Übergangs zu behagen.
Das Leben, eine spirituelle Reise
Die beeindruckende Retrospektive ist in enger Abstimmung mit der Künstlerin als eine Art spirituelle Reise mit verschiedenen Stationen angelegt, und einer Pforte am Anfang des Rundgangs und am Ende.
Das Leben als spirituelle Reise: Das ist ein aus Märchen und der religiösen Tradition bekanntes Motiv. Es geht dabei wesentlich um eine innere Haltung, mit der man Herausforderungen des Lebens meistert.
Dazu gehört die Bereitschaft, Risiken einzugehen, sich über Grenzen zu wagen und weder der Liebe noch dem Schmerz aus dem Weg zu gehen.
Natürlich ist vieles an dieser Kunst Borderline. Wie die Künstlerin mit seelischer Anspannung umgeht und diese zu transformieren versucht, und wie sie sich dabei an Schmerzpunkte wagt, aber beeindruckt. Die Grossen des 20. Jahrhundertes, Louise Bourgeois, Joseph Beuys oder Maria Lassnig haben das alle getan.
Aus religiösen Quellen schöpfen
Das Kunsthaus streicht nicht eigens heraus, dass gerade Abramović’ Kunst ihre Kraft stark aus religiösen Quellen schöpft. Dies ist aber auch gar nicht nötig, denn es ist überdeutlich. Und die Künstlerin selbst macht kein Hehl daraus.
Marina Abramović sagte immer wieder, dass sie wesentlich aus zwei Quellen schöpft: Die Courage und Selbstdisziplin verdanke sie ihren Eltern, die beide Partisanenkämpfer auf der Seite der Kommunisten unter Tito waren; die Spiritualität verdanke sie ihrer christlich-orthodoxen Grossmutter, an die sie bereits als kleines Kind von ihren Eltern weitergereicht worden war.
Gerade, was sie als «Hard Core Works bezeichnet», erinnert an christliche Liebes- und Schmerzensmystik oder an die Tradition des Meditierens und religiösen Fastens.
In Kirchen gehen
Einige ihrer Werke werden auch in der Wasserkirche in Zürich zu sehen sein. Auf die Frage, wie es für sie sei, in einer Kirche auszustellen, antwortete Abramović gestern bei der Preview: Das fühle sich ganz selbstverständlich an.
«Ich war mit meiner Grossmutter ständig in der Kirche».
Ihre Grossmutter, erzählte die Künstlerin, sei über hundert Jahre alt geworden und auch sie strebe ein solches Alter an. Die Grossmutter habe ihr Sterben vorhergesehen, sagte Abramović, die inzwischen selbst fast 80 Jahre alt ist.
Ihre Oma habe ein Festessen für die ganze Familie gekocht und angekündigt, dass sie am Wochenende sterben werde.
Danach habe sie vor den Heiligenfiguren Kerzen angezündet und sich mit überkreuzten Händen ins Bett gelegt. Sie sei dann aber nicht am Wochenende gestorben, erzählte Abramović lachend, aber dafür eine Woche später, und zwar friedlich im Schlaf.
No Compromises
Einige belächeln die Künstlerin als Esoteriktante. Ich kann mir vorstellen, dass sie über solche Kommentare einfach herzlich lacht. Noch immer spricht sie mit einem kantigen serbischen Akzent und verfügt über die Sorte Humor, die typisch ist für Leute aus der einstmals kommunistischen Hemisphäre.
Auf die Frage der Kuratorin Mirjam Varadinis, ob es Dokumentationen einer bestimmten Performance gebe, antwortete Abramović selbstironisch: «Hören Sie, ich komme aus dem Kommunismus. Ich dokumentiere alles, weil alles als Beweismittel dienen könnte!»
Anders als in den 1970er-Jahren unterliegt Kunst heutzutage allen mögichen Auflagen und Restriktionen, beispielsweise kann man organische Materialien wie blutige Knochen (ein wichtiges Untensil in kriegskritischen Werken der Künstlerin) in Museen gar nicht mehr zeigen und Nacktheit bereitet Museumsverantwortlichen heute mehr Probleme als früher.
«Dabei ist Nacktheit doch das Natürlichste. Wir kommen alle nackt auf die Welt», wundert sich Abramović.
Sich dem Schmerz und Tod stellen – oder auch nicht
Das Kunsthaus Zürich macht eine vorsorgliche Trigger-Warnung: «Bitte beachten Sie, dass in der Ausstellung, während den Performances Darstellungen von Nacktheit sowie Kunstwerke zu den Themen Tod und körperlichem Schmerz zu sehen sind, die möglicherweise als verstörend empfunden werden können.»
Für Menschen, für die die lebendige Pforte ein Problem darstellen könnte, egal aus welchen Gründen, wurde ein zweiter Eingang eingerichtet. Die Künstlerin findet das schade. Wenn sie die Mittel hätte, sagte Abramović, würde sie ein Museum of No Compromises eröffnen.
Ihr künstlerisches Material ist seit mehr als fünfzig Jahren sie selbst. Abramović hat beschlossen, auch das ganz bewusst, die «Segnungen» der Verjüngungsmedizin an sich zu testen.
Jung bleiben und fröhlich
Ein älterer Herr hinter mir fragt seine ergraute Partnerin: «Meinst du, sie färbt ihre Haare?» «Ganz bestimmt», antwortet diese. Der Herr weiter: «Sie sieht toll aus». Die Partnerin: «Finde ich nicht! Sie sieht wie stehen geblieben aus, wie eine präparierte Leiche, sie hat gar keine Falten». Die beiden einigen sich schliesslich darauf, dass die Gesichtszüge der Künstlerin etwas starr wirken.
Alte Leute in ihren Ausstellungen habe sie nicht einmal so gern, sagt die Künstlerin später lachend. Die mäkelten immer nur über ihre Kleidung, ihr Alter und ihre Kunst. Aber es kämen ohnedies überwiegend junge Leute, und diese stellten die interessanten Fragen.
Eine 21-Jährige will wissen, wieso Abramović wie ihre Oma 103 Jahre alt werden will. Die Antwort der Künstlerin: «Ich habe jetzt mehr Spass. Ich bin glücklicher». Es sei toll aufzuwachen und sich von den eigenen Ideen überraschen zu lassen. Sie sagt: «Life is good. Every day is a miracle!»
«Life is good. Every day is a miracle!»
Wichtig sei es, ohne Angst und Ärger und bewusst zu sterben, gibt die Künstlerin der jungen Kollegin noch mit auf den Lebensweg.
Abramović hat, und das ist vielleicht ihr grösstes Verdienst, viele Schülerinnen und Schüler inspiriert und zum Erfolg geführt. Viele von ihnen wagen sich ebenfalls an Grenzen und beweisen Mut.
Für mich war es eine Sternstunde, bei Marina Abramović’ Auftritt in Zürich dabei zu sein und diese grosse Vertreterin der Body Art einmal live zu erleben.
Die Ausstellung und das Programm
Marina Abramović, Retrospektive, Kunsthaus Zürich, bis 16. Februar 2024, nur mit Voranmeldung. Viele Slots sind bereits ausgebucht.
Die Ausstellung in der Wasserkirche in Zürich trägt den Titel «Marina Abramović – Four Crosses» und läuft vom 28. November bis 5. Januar 2025: Vier überdimensionale Kreuze, die nach vorne gekippt im Raum präsentiert werden. Es geht um kirchliche Frauenbilder und die Fragen nach dem Verhältnis von Gut und Böse.
Am 5. Dezember gibt es um 18 Uhr ein Podiumsgespräch mit der Kunsthaus-Kuratorin Mirjam Varadinis und dem Grossmünster-Pfarrer Martin Rüsch.
Methode der Achtsamkeit nach Marina Abramović
Ein früherer Blogbeitrag bei RefLab beschreibt die Abramović-Methode der Achtsamkeit, bestehend aus vier Übungen: «Wenn du den Reis zählst, kannst du auch dein Leben bewältigen»
Foto: Abramović in Brasilien https://commons.wikimedia.org/wiki/Marina_Abramovic_na_Usina_de_Arte